

Upton Sinclair (1878-1968) war sehr beeindruckt von den Romanen Émile Zolas.Er wollte allerdings sein Vorbild weiterentwickeln und zwar zu einem reportierenden Dichter, zu einem dichtenden Reporter. So ganz nach dem Motto Zolas »Wir müssen bei der einfachen Tatsache bleiben. Das Publikum freilich dürstet nach – Lügen und die Dichter lügen! Wir aber wollen der Wahrheit dienen!«
Aus dem Nachwort (»Präsident der U.S.A.«, Universal-Bücherei, 1927) von Gerhart Pohl:
»» … DER MENSCH. DER AMERIKANER, der den Kampf aufnahm gegen die Glanzwelt der Börsen-Barone und Kohlen-Könige, der und Baumwoll-Magnaten, dem aus der Liebe zu den Arbeitenden unauslöschlicher Haß gegen die Besitzenden wuchs, für den Wallstreet, dieses Symbol der heutigen U.S.A., Kampffanal der revolutionären Sozialismus wurde, ist ein echter Amerikaner. Dieses Lebenswerk eines fast Fünfzigjährigen kann man in seiner ganzen Größe nicht erfassen, ohne die Entwicklung Amerikas zu kennen und das Menschenmaterial, das diese Entwicklung formte.
… In einer mittellosen Familie wuchs der junge Upton auf, lernte früh die Not kennen, die hinter kleinbürgerlicher Dollar-Gläubigkeit lauerte. Der Vater Arthur Stirlings, des Helden seines autobiografischen Romans, endet als Trunkenbold.
Kaum fünfzehnjährig bricht Upton mit der Familie und stellt sein Leben auf sich selbst. Unermüdlich fabriziert er Magazin-Geschichten und Humoresken, Skizzen und Artikel, "Schauer-Romane" und Kinder-Verse, um durch Unterhaltung der Bourgeoisie seinen Unterhalt zu verdienen und das Geld für Schule und Studium. Sinclair hat oft gesagt, daß er einundzwanzigjährig schon ebensoviel geschrieben hatte, wie Walter Scott, ein damals beliebter Vielschreiber der englischen Bourgeoisie. Diese Zeit seines Lebens schildert Upton Sinclair in einer kurzen Selbstbiografie:
"Ich wurde in Baltimore 1878 geboren. Ich besuchte dann die Schule und das Kollege von New York, wo ich die Dinge studierte, die mich interessierten, und jene vernachlässigte, die mich nicht interessierten. Ich erhielt mich vom Schreiben seit meinem fünfzehnten Jahre. Aber als ich in die zwanzig ging und vor meiner Heirat stand, packte mich der Wunsch, nur noch ernste Dinge zu schreiben, ich konnte nicht länger die Humoresken, Novellen, Geschichtchen liefern, mit denen ich bis dahin meinen Unterhalt und mein Studium bezahlt hatte. In der Zeit zwischen meinem zwanzigsten und sechsundzwanzigsten Jahre starb ich beinahe vor Hunger. Alle meine Romane aus jener Zeit — "König Midas", "Prinz Hagen", "Arthur Stirlings Tagebuch", "Manassas", "Industriekapitän" — brachten mir alle zusammen weniger ein als 1000 Dollar. Ich lebte allein mit 4,50 Dollar die Woche in New York und später mit meiner Familie auf dem Lande mit 30 Dollar im Monat.“
Wie Sinclair damals von 4,50 Dollar in New York lebte, erzählt er selbst anschaulich in "Arthur Stirlings Tagebuch": — Mietskaserne, Mansardenstube, als Nachbar ein Cellist, der fortwährend übt oder mit Freunden lärmende Saufgelage gibt, auf dem Treppenaufsatz klatschende Weiber, laut und keifend, viele Stunden des Tages. In der armseligen Mansarde selbst hockt ein junger Mensch, unterernährt, schäbig gekleidet, nur wenige Dollars in der Tasche, aber mit dem eisernen Willen, ein großer Dichter zu werden. New York wird dem Mittellosen eine Orgie der Qualen: Staub, Geschäftigkeit, kraftloses Essen, verlumpte Weiber und diamantenbesäte Damen, Männer mit gebrochenem Rückgrat und glasigen Augen, Herren mit feisten Bäuchen und frechen Stirnen. Schroffe Gegensätze sieht der junge Amerikaner in dieser demokratischen Stadt seines allerdemokratischsten Vaterlandes. Aber nur der Hudson wird ihm Erlebnis, der, groß und majestätisch, von den Lichtern kühner Schiffe und eleganter Jachten besät, dem Ozean zuströmt. Das alte Seefahrerblut kreist noch in seinen Adern. Wohl sieht er die Gegensätze, sie verstören ihn, aber er vermag sie noch nicht zu begreifen, also zu durchleben und zu gestalten. Denn vor der Gestaltung stehen Erlebnis und Erkenntnis. Den Zwanzigjährigen erschüttert noch eine schöne Frau: "Gleite weiter, gleite weiter, wundervolle Stimme, ferne Vision des Glücks und der Schönheit" ruft er dieser Dame nach, die, an den Mast ihrer Jacht gelehnt, mit schöner Stimme ein sehnsuchtsvolles Lied in den Abend singt. Doch plötzlich bricht er ab, wird nachdenklich: "Dein Los ist nicht das meine."
Sein Großonkel und Vormund, der reiche Besitzer eines Engrosgeschäftes für Spezereiwaren in Chicago, bietet dem Mündel eine Lehrstelle in seinem Hause an, mit der Aussicht, einmal Prokurist, vielleicht sogar Teilhaber zu werden. Upton Sinclair schildert eine Unterredung mit diesem Onkel, der "ein Palais und einen großen Bauch" besitzt:
"Willst Du Spezereiwarenhändler werden?" "Nein."
— Hätte ich damals ja gesagt, so wäre ich heute bereits sein Kompagnon, besäße ebenfalls ein Palais und einen großen Bauch. —
"Was willst Du denn werden?" fragte mein Großonkel weiter.
"Ein Dichter."
"Also ein Tagedieb?"
"Ja," entgegnete ich, einem Streit ausweichend, "ein Tagedieb."
So verließ ich ihn und dachte bei mir: "Alles, oder nichts." —
…
"Sieben Jahre lang ertrug ich Armut und Gemeinheit, Krankheit, Hitze, Kälte und Mühen, auf daß ich zum Künstler werde. Ich kann die Erniedrigung, die Beschämung nicht schildern, die ich erduldete. Ich lebte in Dachkammern, lebte mit schlechten Menschen, in Fetzen und schmutzige Gewänder gekleidet, nährte mich von Wasser und Brot; der hassenswerte Hochmut der Reichen trieb mich zum Rasen, ich hatte keinen einzigen Freund. Zorn und Schmerz überwältigten mich, alle haßten mich, ich mußte schuften wie ein Vieh, oder hungern. Doch ich sprach: »Ich will ein Künstler werden.«"
Noch dreht es sich für den jungen Sinclair um ein ganz individuelles Ziel, noch grollt in ihm nur das Gewitter der eigenen Not, der eigen Entbehrung, der eigenen Unterdrückung. Noch ist er, im Individuell-Artistischen befangen, nicht imstande, das Logische und Kollektive in diesem Proletarier-Dasein aufzuspüren. Noch glaubt er — befangen in der idealistischen Weltanschauung des Bürgertums —, nur der Künstler werde unterdrückt.
……
Aber dieses „Ecce Homo!“ ist nur der Abgesang des europäischen Dekadents Arthur Stirling, nicht des blutvollen, lebenstüchtigen Amerikaners Upton Sinclair. Denn der geht, sechsundzwanzigjährig, mit Weib und Kind aufs Land, weist "einen Jahresgehalt von 10 000 Dollar als Annoncenaquisiteur für eine der größten Tageszeitungen und einen annähernd so günstigen Vertrag" zurück, den ihm einer der größten amerikanischen Verleger anbietet, "Herausgeber korrupter Boulevardblätter", und lebt von kaum 400 Dollar im Jahr das Leben eines proletarischen Kopfarbeiters. Seine ersten Romane "Frühling und Herbst" und "Arthur Stirlings Tagebuch" waren bereits erschienen, die Fantasie "Prinz Hagen", die, später dramatisiert, in der Sammlung "Proteststücke" Aufnahme fand, und der Roman aus dein Bürgerkrieg "Manassas", der unter dem Titel "Sklaverei" auch in Deutschland erschien. Dieser Roman war der erste Erfolg des Autors. Der amerikanische Schriftsteller Clement Wood nannte "Manassas" "unvergleichlich besser als die gefällige Mittelmäßigkeit …" "Die Verfolgung eines geflüchteten Sklaven ist eine der großartigsten und dramatischsten Schilderungen der amerikanischen Literatur."
1906 erschien "The jungle" ("Der Sumpf"), der Upton Sinclair in wenigen Jahren weltberühmt machen sollte. Welche entscheidende Wandlung der Geistige und der Künstler Sinclair vorher durchgemacht hatte, die erst die Voraussetzung für diesen Markstein der modernen Weltliteratur schufen, werden die folgenden Abschnitte darlegen.
Von nun an konnte Sinclair von den Erträgnissen seiner Schriftstellerarbeit leben. Er hatte sich durchgesetzt. Mit dem "Sumpf" verdiente er sogar — nach eigener Angabe — rund 30 000 Dollar, selbst für amerikanische Verhältnisse ein Vermögen. Aber Sinclair war — wie und warum werden wir noch sehen — Sozialist geworden. "Ich habe das Geld" — schreibt er an Maurice Low — "sofort in einer sozialistischen Kolonie investiert, die so organisiert war, daß ich keine Möglichkeit hatte, daraus Profite zu schlagen."
…….
Über seine Frau schreibt Sinclair: "Mary Craig Sinclair stammt aus dem fernen Süden. Ihre Familie war ebenso konservativ, wie man es von den Nachkommen einer alten Sklavenhalterklasse nur erwarten kann. Jedenfalls hat ihre Familie immer auf der Basis eines primitiven Kommunismus gestanden. Es gab gelegentlich Aufstände, die durch 'Ungesetzlichkeiten' hervorgerufen wurden, die die Vorstellungen über ihr eigenes Eigentumsideal erschütterten."
Selbstverständlich gab es für diese Familie kein "gräßlicheres Gespenst" als den Sozialismus. Man wollte die geliebte Tochter beschenken, fürchtete aber damit "dieser schlimmsten aller Sachen" zu helfen. Als Mary Craig schließlich ihr Geschäft und ihr Mobiliar verpfändete, um die Druckrechnungen der Bücher ihres Mannes zu bezahlen, wandte die Familie sich empört von ihrer "verlorenen Tochter" ab und trieb eine konterrevolutionäre Hetze gegen Mary und Upton Sinclair. Aber Mary Craig ist nicht nur ein guter Lebenskamerad, sie ist auch eine entschlossene Sozialistin geworden. Also schrieb sie ihrer Sippe, "wenn sie mit ihrer sozialistischen Einstellung kollidieren solle, dann möge sie ihr doch schreiben und sie bekehren …"
Upton Sinclair ist nicht nur der Autor seiner Bücher, er ist auch ihr amerikanischer Verleger. Warum er seine Bücher selbst verlegen muß, hat er einmal in einem Aufsatz klargelegt: Nach vielen Enttäuschungen sah er ein, daß es "noch schwerer ist, die Wahrheit gedruckt zu erhalten, als sie zu sagen." "Deshalb mußte ich auch weiter meine Bücher selbst verlegen und bin zu dem Ergebnis gelangt, es lohne sich nicht, den Verlag aufzugeben. Meine Drucker wissen genau, daß sie letzten Endes dennoch immer ihr Geld erhalten, meine Bank gibt sich mit einem Depot von 100 Dollar zufrieden, und meine Frau fügt sich darein, daß ich so weiter wursteln werde, bis ich in Stücke falle."
Während des Krieges hatte Sinclair wirtschaftlich schwer zu kämpfen. "Große Mengen Papier mußten Monate vorher zu doppelten Preisen bestellt werden, und wenn endlich das Papier gekommen war und die Bücher gedruckt waren, brach irgendeine böse Konjunktur über Amerika herein, und ein großer Vorrat von Büchern blieb liegen, ebenso ein großer Vorrat an Schulden. Wenn über die Bücher disponiert war und die Schulden bezahlt waren, ging der Überschuß, wenn einer da war, zugunsten der Ausgaben der früheren Bücher, die aus dem Handel gezogen oder seit Jahren vergriffen waren, darauf."
1923 gab er einen Prospekt heraus, in dem er zur Subskription von sechs seiner früheren Werke auffordert, die seit Jahren vergriffen waren. Es ist typisch für das heutige Amerika, daß einer seiner besten Geister keinen Verleger hat, nur weil er die Wallstreet-Gesinnung der Millionäre aus Liebe für Die bekämpft, die Wallstreet stündlich erleiden müssen. … ««
Seine Romane sind gesammelt im Malik Verlag zu 5 Bänden erschienen:
Band 1 (1924): »Der Sumpf« – »Hundert Prozent«
Band 2 (1924): »Jimmie Higgins« – »Man nennt mich Zimmermann«
Band 3 (1924): »Samuel der Suchende« – »Der Liebe Pilgerpfad«
Band 4 (1925): »Der Industriebaron« – »König Kohle«
Band 5 (1925): »Die Metropole« – »Die Wechsler – »Nach der Sintflut«
1927 erschien dann auch der brandneue Roman »Petroleum« bei Malik [späterer dt. Titel »Öl«]
1928 dann bei Malik »Die goldene Kette oder Die Sage von der Freiheit der Kunst«
1929 dann bei Malik »Die Geschichte von Sacco und Vanzetti« und »Boston« und »Der Sündenlohn – Eine Studie über amerikanischen Journalismus«
1930 sodann bei Malik »Das Geld schreibt – Eine Studie über die amerikanische Literatur«
1931 bei Malik der Roman »So macht man Dollars«
1932 bei Malik der Roman »Alkohol«
1938 bei Malik der Roman »Autokönig Ford«
alle anderen, vor allem die spätere Werke sind in diversen Verlagen erschienen, unter anderem seine Erinnerungen »Auf Vorposten« (Neuer Malik Verlag)
Curt Frenzel gründete 1945 zusammen mit Johann Wilhelm Naumann die Schwäbische Landeszeitung, Untertitel: Augsburger Zeitung. Während Naumann die Geschäfte führte, fungierte Frenzel als erster Chefredakteur. Nach der Etablierung von Regionalausgaben – der Mantel blieb derselbe, doch den verschiedenen Lokalteilen wurde der Titel angepaßt – änderte sich der Titel der Hauptausgabe in Augsburger Allgemeine; das Kürzel AZ blieb. Als Sozialdemokrat begründete Frenzel einen Nimbus der Fortschrittlichkeit, von dem das Blatt heute noch zehrt, wenngleich es von eingefleischten CSU-Anhängern lange Zeit in guter alter Nazitradition des Sozialismus, wenn nicht gar des Marxismus geziehen wurde; das hatte zur Folge, daß das Blatt sich sehr bemühte, die CSU nicht zu kurz kommen zu lassen, so daß nicht erst seit heute rund 95% des Inhalts ganz überparteilich für die CSU spricht.
Populär ist Frenzel heute noch, ziert doch sein Name das Eisstadion, dessen Überdachung er mit großzügigen Geldern veranlaßte, die er aber nicht mehr erlebte, er starb 1970. Frenzel war seit 1962 Präsident des AEV.
Am 30.10.1945 schrieb der Chefredakteur Curt Frenzel – damals 45 Jahre alt – in der ersten Nachkriegsausgabe der Schwäbischen Landeszeitung – Augsburger Zeitung diesen Leitartikel, der beweist, daß jeder politische Ruch, gleich welcher Couleur, über ihn völlig gegenstandslos ist.
Während im Europa des 17. Jahrhunderts die Aufklärung allmählich begann, erblühte in der Freien Reichsstadt Augsburg der Hexenwahn. Offenbar hatte die Gleichstellung der Konfessionen nach dem 30-jährigen Krieg den Blick auf den inneren Feind geöffnet. Auf Grundlage der "wissenschaftlichen Hexenlehre" verdammten katholische wie protestantische Geistliche in den Augsburger Kirchen das "Hexengeschmeiß" und betrieben deren Ausrottung.
Das neu vorliegende Buch läßt kein Auge trocken. Es weist 126 Beschuldigte und 17 zum Tode Verurteilte nach, von letzteren wurden allein 15 zwischen 1649 und 1699 (letzter Fall) verurteilt. Die Geschichte einiger Fälle wie zum Beispiel der der Dorothea Braun, der der Anna Eberle und der des einzigen verurteilten Mannes, des 18-jährigen Veit Karg, werden anhand des verwendeten Archivmaterials dem Leser eindrucksvoll vor Augen geführt.
"Im Jahre 1654 wurde von zwei Patern des Ulrichsklosters am Altar der St.Ulrichskirche an einem jungen Mädchen eine Teufelsaustreibung vorgenommen. Das grausam gequälte Mädchen, das nur noch "Jesus, Maria" stammeln konnte, verstarb am darauffolgenden Tag." (S. 34)
Das Buch gibt einleitend einen Überblick über die kirchlichen Hexenlehren und seine Begriffe. In Augsburg schürte vor allem der Jesuit Petrus Canisius den Hexenwahn. Der Gelehrte Gottlieb Spizel stand ihm auf protestantischer Seite nicht nach. Weiter informiert das Buch über die weltliche Obrigkeit und ihre Justiz sowie die angewandten Verhör- und Foltermethoden.
Auch außerhalb der Stadt, im Bereich des Hochstifts Augsburgs, tat sich einiges. So wurde noch 1730 in Wehringen eine Bäuerin beschuldigt, über 60 "Schülerinnen" gehabt zu haben. Hostienfrevel und Schändung christlicher Symbole wie Feldkreuze waren die Anklagepunkte. (Diese Dinger verschandeln ja heute noch die Landschaft!)
Anne Schmucker: "Sie starben als Hexen" Hexenprozesse in Augsburg, Achensee Verlag (im Buchhandel vergriffen)
sehr empfehlenswert! Auch angesichts der Tatsache, daß der offenbar nur sehr wenig Gebildete im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten jetzt die Verletzung "religiöser Gefühle" unter Strafe stellen möchte. Soll er doch gleich wieder Hexenprozesse einführen!
Nikos Kazantzakis (1883-1957) hat in seinem – zumal auch verfilmten – bekanntesten Werk »Alexis Sorbás« die Sentenz der Emanzipation schlechthin auf den Begriff gebracht: »Ich fürchte nichts, ich hoffe nichts, ich bin frei«. Jeder kann daran messen, inwieweit er sich von allen herrschenden Bevormundungen entfernen konnte. Es ist leicht verständlich, daß sich Kazantzakis hauptsächlich mit der (griechisch-orthodoxen) Kirche anlegte, die wie ein Alptraum das Land überschattete und auch heute noch großen Einfluß ausübt: Die konservative Partei Nea Dhimokratía wäre ohne ihren Rückhalt kaum regierungsfähig und auch die anderen Parteien einschließlich der KP vermeiden es, sich mit der Kirche anzulegen. Außerdem: Nicht wenige hoffnungslos dem Arbeitsmarkt ausgelieferte junge Männer suchen in der Kirche einen Zufluchtsort als Pfaffe. Seine Frontstellung gegen die griechische Orthodoxie und ihre Heuchelei war ein zentraler Moment seiner Entrüstung.
Und wem die Bibel nicht ohnehin schon sattsam zum Halse heraushängt, der kann sich mit dem Roman »Die letzte Versuchung« eine alternative Version zu Gemüte führen, ein Buch, welches sogar auf dem Verbotsindex der römisch-katholischen Kirche landete. Trotz diesem schönen Erfolg zeigt das Werk die Grenzen von Kazantsakis' Gesellschaftskritik auf; ebenso wie »Griechische Passion« und wie »Freiheit oder Tod«, worin der nationale Befreiungskampf gegen die türkische Herrschaft auf Kreta (bis 1898 zum Osmanischen Reich gehörig, dann autonom, 1913 an Griechenland angeschlossen) Thema ist: Eine radikalisierte Moral der Tat gegen religiösen und nationalen Glauben vergißt, die gültige Interessenlage einer Kritik zu unterziehen.
Kazantzakis gehörte der »Sozialistischen Arbeiterbewegung« an sowie dem »Griechisch-sowjetischen Bund«. Die Arbeit dort befriedigte in ebensowenig wie seine kurze Teilnahme an der Regierung zum Jahreswechsel 1945/46. Er blieb weiterhin ein Suchender, was in den Romanen »Mein Franz von Assisi« und »Der Felsengarten« zum Ausdruck kommt. In letzterem begibt er sich nach Asien (China und Japan), um dort Antworten auf die Fragen seines Kopfes zu finden. Nicht weniger in dem Buch »Im Zauber der griechischen Landschaft«, in dem – typisch für Kazantzakis – der Heilige Berg Athos nicht fehlen durfte. »Rechenschaft vor El Greco«, der wie er selbst Kreter war, heißt seine erlebnisreiche, einducksvolle Autobiografie.
Er wurde neun Mal vergebens für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen; man kann sich leicht vorstellen, mit wem sich das Komitee auf keinen Fall anlegen wollte. Seine nur zum Teil in deutscher Sprache veröffentlichten Werke sind zuletzt als Taschenbücher bei Ullstein bzw. rororo erschienen.
Victor Hugo (1802-1885) schuf mit dem Roman »Notre-Dame von Paris« (auch als »Der Glöckner von Notre-Dame« bekannt, rechts unten abgebildet eine frühe griechische Übersetzung) den Auftakt zu einer Reihe von Romanen, wie »Die Elenden«, »Die Arbeiter des Meeres«, »Die lachende Maske« und »Dreiundneunzig [1793]«. Der zweifelos berühmteste und bedeutendste darunter ist die Abrechnung mit den sozialen Verhältnissen in »Die Elenden«. Zuvor schon erschienen die Romane »Die schwarze Fahne« (mit Bezug zur damaligen französische Kolonie, der heutigen Dominikanischen Republik) und »Die letzten Tage eines Verurteilten«. Romane waren sein Schwerpunkt, daneben schrieb er noch Dramata und Gedichte und war malerisch tätig. Auch politisch war er aktiv; allerdings nicht gerade glücklich, denn er versuchte immerzu, sich für eine Seite – solange er sie noch nicht als Übel erkannt hatte – stark zu machen: Von den großartigen Ideen seiner Zeit, die insbesondere aus dem Bürgertum hervorgingen, war er wiewohl anfangs stets begeistert, sodann, als die Maske viel, schwer ernüchtert. Obzwar er unzweifelhaft ein geistiger Wegbereiter der »Pariser Kommune« war, erlebte er diese in der Verbannung, aus der erst danach zurückkehrte.
Seine Romane verraten ziemlich durchgängig eine zutiefst materialistische Einstellung,
Im Mittelpunkt von »Notre-Dame von Paris«, dessen Geschichte und Pracht er schildert, steht ein Zigeunermädchen namens Esmeralda, das eine innere Schönheit ausstrahlt, welche die Kirche entbehrt. Es muß aus der Kirche befreit werden, die sie gefangen hält. Im übrigen war er stets ein Verfechter der Belange der Frauen. Bemerkenswert auch der griechische Begriff ανάγκη, welcher sowohl Bedürfnis wie Not(wendigkeit) bedeutet. Er ist in einer kurzen Vorrede dem Roman vorangestellt und soll auf einer Mauer der Kirche eingekratzt, jedoch beseitigt worden sein. Ein zentraler Begriff übrigens auch im »Kapital« von Karl Marx. Zum Roman »Die Elenden«, einer Gesellschaftskritik sans phrase, haben sich schon so viele geradezu überschwänglich geäußert, daß hier nur ein Wort hinzugefügt werden soll: Gustave Flaubert war wohl der Einzige, der sowohl an diesem Roman wie an »1793« Kritik äußerte: Ihm waren die Figuren zu grob und schroff gezeichnet, um als wirklich brauchbare Gesellschaftskritik durchgehen zu können. – Der Roman »Die lachende Maske« führt in eine Welt der Absonderlichkeiten. Man mag das als weltfremd empfinden oder zu Hugos Zeit empfunden haben, umso mehr ist dieser historische Roman der heutigen Zeit eben gerade dadurch verbunden. Betrachtet man all den heutigen nackten Wahnsinn, der gesellschaftliche, politische Wirklichkeit geworden ist, dann ist das Buch wahrlich ebenso der Zukunft zugewandt, wie der Roman, der vor rund 300 Jahren spielt. Man denke nur an die irre Zunahme von Schönheitsoperationen… Wenn man den Roman »Die Arbeiter des Meeres« liest, wird überaus klar, was Flaubert gemeint hat: Hugo huldigt nämlich einem heroischen Realismus. Und im Heroismus, da ist sich Flaubert sicher, liegt alles andere als eine wirklich gesellschaftsverändernde Kraft. Mit eben seinem Heroismus erklärt sich auch die bis heute anhaltende Faszination von Victor Hugo.
Anton Tschechow (1860-1904) versucht in seinen Novellen die Armen der Lächerlichkeit, dem Spott, der ihnen oftmals entgegenbracht wird, zu entziehen. Er versucht die Kleinbürger, die Spießer hingegen in ihrem Dahinvegetieren in ihrer Beschränktheit vor Augen zu führen. Der Adel wird seiner Dummheit überführt. Kurzum, Tschechows Werk war der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie sie in den Individuen reflektiert wird, verhaftet. So verhaftet, daß eine gewisse Ausweglosigkeit aus der gesellschaftlichen Misere auch dem Leser vorschwebt. Wer die Melancholie stets unbegründeten Idealismus vorzieht, der kann seine Werke als Ausgangspunkt dafür nehmen, was zu ändern ist, welche vorherrschenden Denkweisen eine Kritik verdienen.
Tschechow war der Ansicht, eine Veränderung könne nur von unten, von Individuen ausgehen. Die Mächtigen und die, die sich aufplustern, auch und gerade, wenn dies in idealistischer Absicht ist, solche Leute waren ihm suspekt. Insofern beargwöhnte er auch den sich revolutionär betätigenden Schriftstellerkollegen Gorkij. Ob Tschechow gefühlt hat, daß jener hauptsächlich sich aus Opportunitätsgründen – er erwartete die Revolution als künftig quasi determiniert – sich revolutionär betätigte? (siehe sein Brief an Iwan Orlow vom 22.02.1899)
Bei seinen tiefen Empfindungen blieb er nicht stehen, wenn es sein mußte, so verteidigte er Zola in der Dreyfus-Affäre noch im nachhinein: „Mag Dreyfus schuldig sein – Zola hat trotzdem recht, weil es Sache der Schriftsteller ist, nicht anzuklagen oder zu verfolgen, sondern sich sogar für die Schuldigen einzusetzen, auch wenn sie schon verurteilt sind und ihre Strafe verbüßen. Man wird sagen: Aber die Politik? Die Interessen des Staates? Aber die großen Schriftsteller und Künstler sollen sich mit Politik nur soweit beschäftigen, als sie sich ihrer erwehren müssen. Ankläger, Staatsanwälte, Gendarmen gibt es auch ohne sie reichlich […]“ (Sein Brief an Suworin vom 06.02.1898)
Seine Werke, die abgesehen von einigen Schauspielen (u. a. »Iwanow«, »Tatjana Repina«, »Der Waldschrat«/»Onkel Wanja«, »Die Möwe«, »Drei Schwestern«, »Der Kirschgarten«) im wesentlichen in Novellen bestehen, sind dermaßen zahlreich, daß es an dieser Stelle vorzuziehen ist, auf die drei Dünndruckbände des Winkler-Verlages zu verweisen, geteilt in Erzählungen 1883-1887, 1887-1892 und 1893-1903. Im gleichen Verlag sind die Dramata, den Bericht »Die Insel Sachalin« (die er nach intensivem vorangehenden Studien besucht hatte und wo die dortigen Gefängnisse inspizierte) und die Briefe erschienen, welche auch im Verlag Rütten & Loening, Berlin, 1968 verlegt worden waren. Olja Knipper war seine Frau und die Liebesbriefe sind ebenfalls veröffentlicht (S. Fischer Verlag). Sie schrieben sich viele Briefe, weil sie sehr lange getrennt lebten: Eine Romantik, die der Kapitalismus mit seinen technischen Errungenschaften in dieser Weise jedenfalls ausgerottet hat.
Die Lage der Frauen ist ja heute alles andere als berauschend, für die vom Lohn abhängigen sowieso und selbst von denen, welche bessere Berufe erstrebt haben, sind landauf landab Klagen zu hören. Zur sozialen Lage der Frau in der bundesdeutschen Vorzeigerepublik gibt es bereits einen Artikel. [1]
Auch die extremen Außenseiterinnen der Frauenbewegung Rosa Luxemburg und Clara Zetkin sollen an dieser Stelle nicht Thema sein ebensowenig wie Lilly Prem, die sich in Augsburg 1918/19 mit an die Spitze der Revolution stellte.
Hier solle es um die Hauptströmung der Frauenbewegung, der Frauenrechtsbewegung, des Feminismus gehen, die sich zweifellos durch gewisse Erfolge auszeichnet. Die Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts sowie in den Jahrzehnten danach kam im wesentlichen aus dem Proletariat. Es waren Frauen, Ehefrauen von ausgebeuteten Männern und Frauen, die sich selbst verdingen mußten — jedenfalls solange sie nicht ihr Ziel einer Versorgungsehe erreicht hatten, wobei das Heiraten, so es sich immer zwangloser gestaltete, zunehmend problematischer wurde und eben darob auch die Zahl der — moralisch immer weniger verpönten — Scheidungen anstieg.
All diese Frauen fanden Ansprechpartner insbesondere in der Sozialdemokratischen Partei, in der sie Beisitzerposten angeboten bekamen und von der ihnen unter dem Schein völliger Selbstlosigkeit versprochen wurde, sich um ihre Belange zu kümmern. Nun hat diese Partei die Lage der Frauen ebensowenig zum Positiven verändert wie die des Proletariats überhaupt. Erstmal durften sich die Frauen, agitiert von der SPD, in einem Weltkrieg für die Nation seelisch wie körperlich zerreißen. Und dafür erhielten sie dann durch die Niederlage Deutschlands weniger erkämpft als zwangsläufig das Wahlrecht — schließlich galt es für den Staat, einen neuen Erfolgsweg zu suchen und einzuschlagen, der dann in der demokratischen Form von Herrschaft blutig durchgesetzt wurde. Das galt der Frauenbewegung damals — ungeachtet dieses Entstehungshintergrundes — als ein Meilenstein schlechthin: Denn damit erhielten sie, wie sie meinten, immerhin den Hauch einer Chance, auch an ihrer materiellen Abhängigkeit etwas zu ändern.
Wie sehr die Frauen damals ihr Schicksal mit dem ihrer Nation verbunden hatten, ist sicherlich eine der großartigsten Agitationsleistungen der SPD gewesen. Angereichert wurde diese Agitation durch universitätsgebildete Frauen. Dies sei hier in einem Gedicht von Anita Augspurg [2], einer Juristin, dokumentiert, auf die sich übrigens erst kürzlich die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer bezog:
»Nationalhymne der Frauen
Deutschland, Deutschland über alles,
Wenn es auch die Frau befreit,
Ihr die Bürgerkrone bietet,
Folgend einer neuen Zeit.
Weil die Frau in Heim und Werkstatt
An des Volkes Reichtum schafft,
Weil ihr Wesen und ihr Walten
Mehrt und hebt des Reiches Kraft.
Einigkeit und Recht und Freiheit
Heischt die Frau gleichwie der Mann.
Weil für ihre gleiche Leistung
Gleiches Recht sie fordern kann.
Frei, wer für die Volksgemeinschaft
Mühsal trägt und strebt und denkt,
Frei vor allem auch die Mutter,
Die dem Reich die Bürger schenkt!
Deutschland, Deutschland über alles,
Wenn es wie in alter Zeit
Seinen Frau‘n im Volksrate
Sitz und Recht und Gleichheit beut.
Nur ein Land, das seine Frauen
Frei und gleich und würdig stellt,
Nur ein solches Land strebt aufwärts,
Steht voran in aller Welt!«
Dieses Gedicht übrigens wurde nicht von KoKa-Augsburg aus der Versenkung geholt, sondern von den Initiatorinnen der kürzlich gezeigten Ausstellung »Die modernen Frauen des [Foto]Ateliers Elvira in München und Augsburg 1887 – 1908« [3] Diese Verse wurden ganz offensichtlich deshalb hervorgezaubert, weil ihr Gehalt den heutigen modernen Frauen eben auch aktuell absolut zeitgemäß erscheint.
Nun war die Beteiligung der Frauen an der Männerdomäne Politik richtungsweisend und gab schon Anfang der 1920 Jahre Visionen frei, die mit dem mittlerweile erreichten Stand der Frauenbewegung verglichen werden können. Arthur Zapp hat die Entwicklung in seinem Roman »Im Frauenstaat« zu antizipieren versucht.[4] Ausgehend von den sich damals ändernden Verhältnissen, in denen sich junge Frauen bei allen Vorbehalten ihrer Eltern in ihren Ansprüchen nicht länger bremsen lassen wollten einerseits und einer nach wie vor — sich auf die Natur berufenden! — frauenfeindlichen Gerichtsbarkeit andrerseits, stellt er das heraus, wohin das Staatswesen heute so ziemlich gelangt ist: Frauen zur Genüge in den Parlamenten, in Spitzenpositionen der Regierung.
An dieser Stelle ein Zitat aus dem Roman, die Alterspräsidentin des Parlaments bei der Sitzungseröffnung:
»"Deutschland habe sich mit einem Ruck an die Spitze aller Kulturstaaten gestellt, es habe eine große Kulturtat zu verzeichnen, eine der größten in der Geschichte der Menschheit. Ein Riesenunrecht habe das deutsche Volk gutgemacht, eine große Schuld abgetragen. Zum erstenmal, seit es Weltgeschichte gab, sei die Vorherrschaft der Männer im Staat gebrochen. Bisher sei den Frauen nur ein bescheidener Anteil an der Erledigung der regierungsgeschäfte gegönnt gewesen. Jetzt zum erstenmal würden sie das Steuer eines Staates in die Hand nehmen. Unter der männlichen Herrschaft seien Krieg und Gewalttätigkeiten aller Art die Regel gewesen, hätten die Ungerechtigkeiten der sozialen Verhältnisse, der krasse Gegensatz zwischen reich und arm — von den sozialen Errungenschaften der letzten Jahre abgesehen — Unheil über Unheil über die Welt gebracht, die übergroße Mehrheit der Menschen zu Armut und Not, zu Elend und Niedrigkeit verdammt und nie zu sorglosen, frohem Lebensgenuß gelangen lassen. …
Die Schmach, die uns einst zugefügt wurde, mit den Worten: ‚Die Frau gehört ins Haus‘ und ‚mulier taceat in ecclesia‘ [ein Weib hat in der Kirche zu schweigen] ist glänzend gesühnt. …
Man sagt immer, …, daß die Politik eine rein verstandesmäßige Angelegenheit sei. Wie soll man dann den Verstand der Männer einschätzen, die die Politik, die sie bis zur großen Revolution ausschließlich beherrschten, so herrlich ausgeübt haben, daß Deutschland 1918 einem Trümmerhaufen glich? Haß, Gewinnsucht, Unterdrückung und Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren, das waren die treibenden Kräfte der männlichen Politik im Verhältnis zum Ausland und in den Beziehungen der Bürger untereinander. Dann begann das große Aufbauwerk, die große Mehrzahl der Probleme war rein wirtschaftlicher Natur. Erst als wir Frauen nach und nach mehr Terrain im öffentlichen Leben gewannen, wurden die Kulturprobleme, soziale und Sittlichkeitsfragen aller Art energisch in Angriff genommen. Das warme Herz der Frauen holte nach und machte gut, was der kalte Verstand, die sogenannte Realpolitik der Männer, versäumt und verschuldet hatte. …
Friedensverträge, in denen man die im Krieg besiegten Völker zu Heloten, zu wirtschaftlichen Sklaven gemacht, aufs unerhörteste ausgesogen hatte, fielen unter der sittlichen Empörung der zur Besinnung kommenden breiten Massen der uns ehemals feindlich gesonnenen Völker. Deutschland gelangte zu neuer Blüte, nicht nur zur Blüte kleinerer Teile der Nation, wie vor 1914, sondern zu einem Wohlstand aller Schichten des Volkes. Der Sozialismus war in Deutschland immer breiter und tiefer begründet gewesen, als sonstwo in der Welt. Er ist es, der Deutschland an die Spitze der Welt stellt. Wir waren es, die zuerst den entscheidenden Schritt auf dem Wege zur Vollendung der großen sozialen Reform taten, zur Aufhebung des unseligen Gegensatzes zwischen reich und arm, zwischen Überfluß und bitterstem Mangel, diesem Fluch der Menschheit, ohne dessen Beseitigung Ruhe und Frieden, Einigkeit und Glück unter den Menschen unmöglich ist. Das ist der große Ruhmestitel unsres Volkes, womit die deutsche Republik alles gesühnt hat, was die Monarchie verbrochen hatte. …
Aber noch anderer Fortschritte in Kultur und Gesittung können wir uns rühmen. Zwei der wichtigsten Faktoren im Kulturleben, die Rechtsprechung und die ärztliche Hilfe sind sozialisiert. Das Gericht ist verpflichtet jedem Bürger ohne Kosten zu seinem Recht zu verhelfen, und nicht mehr hat der Reiche vor dem Armen den Vorteil voraus, sich den gewiegtesten, aber auch teuersten Anwalt kraft seines größeren Geldbeutels zu sichern, sondern die Behörde weist je nach der Art der Fälle den Parteien einen Anwalt zu. Ähnlich wird bei den Erkrankungen verfahren. Nicht der Reichste erhält den tüchtigsten Arzt, sondern der am schwersten Leidende.
Wir haben …, unsre Dichter und Künstler in ihrem Schaffen von den Rücksichten auf den materiellen Ertrag ihrer Tätigkeit unabhängig gemacht. …
Wissenschaft und Kunst ersetzen unserm Volk einen Aberglauben, der sich nur auf Legenden und Märchen aus der Kindheit der Menschheit stützte. Unser Volk hat es nicht mehr nötig, in den Gotteshäusern Erhebung seiner Seelen zu suchen, denn alle Kunstdarbietungen sind frei. …"« (S. 86-92)
Der Text des Romans zeigt klar die Illusion, mit moralischer Kritik die bisherigen Zustände aufheben und beseitigen zu können. Denn welcher hier im Roman vorweggenommene Erfolg hat sich denn in rund 100 Jahren deutscher Republik wirklich eingestellt? Und wollen denn die heutzutage zahlreich in den Parlamenten vertretenen Staatsdienerinnen überhaupt etwas wissen davon, was die romanhafte Alterspräsidentin als Erfolge der Frauen herausgestellt hat? Davon ist nun wahrlich nichts, aber auch überhaupt nichts zu sehen:
Von einer Auflösung des Militärs — auch die wurde in dem 1922 erschienen Roman begrüßt — schon gleich nicht: Frauen an der Spitze des Kriegsministeriums, das konnte sich selbst der Frauenbewegteste seinerzeit beim besten Willen kaum vorstellen! Ebenso die weitgehende Beschränkung der Polizei auf eine einzig angemessene Aufgabe, die Verkehrsregelung. Von einer wirklichen und nicht bloß formellen Beseitigung der Benachteiligung der zwecks notwendigen Gelderwerbs arbeitenden Klasse in Rechtsstreitigkeiten, bei Erkrankung etc. ist nun wirklich nichts zu sehen.
Doch selbst wenn dies alles erreicht wäre, hat Zapp die Wunde schlechthin nicht übergangen:
»… Üppigkeit und Prasserei, die unter den veränderten sozialen Verhältnissen schon in der Abnahme begriffen gewesen, nahmen wieder zu. Das Geld wurde wieder zum Gegenstand des heißesten Begehrens, und der soziale Frieden, der angefangen hatte, den früheren Kampf aller gegen alle abzulösen, wurde wieder erschüttert. Die Rücksichtslosigkeit der noch im Besitz kaufmännischer und industrieller Betriebe befindlichen Geschäftsleiter gegen Angestellte und Käufer kehrte wieder. …
Wo war die Wurzel des Übels? War die Welt doch nicht reif gewesen für die Umleitung des kapitalistischen Systems in den sozialen Staat? Sollte man die Abschaffung des Erbrechts, die in absehbarer Zeit das soziale Programm restlos zur Ausführung bringen würde, wieder rückgängig machen? Oder war man zu zögernd gewesen, sollte man die Konfiskation aller Vermögen mit einem Ruck gesetzlich bewirken? Sollte man das Geld, das doch schließlich die Ursache aller Unzufriedenheit, aller Gehässigkeit unter den Menschen und aller Verbrechen war, und das auch in weiterer Folge die Genußsucht und die Unsittlichkeit unterstützte und förderte, abschaffen und so letzten Endes den vollen Kommunismus herbeiführen?. …« (S. 148-149)
Wie sehr die heutigen Verhältsnisse den unerreichten Zielen weiblicher Politikbeteiligung als Erstrebenswerte recht geben — abgesehen davon, inwieweit sie nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt noch verfolgt wurden —, das war im Detail damals noch kaum erkennbar: Frauen erhalten für gleiche Tätigkeiten mittlerweile weitgehend den gleichen Lohn. Aber die Ausdifferenzierung der Tätigkeiten nach minder- und höherwertiger Arbeit, die insbesondere die deutschen Gewerkschaften als ambitionierte Manager des Kapitals vorangetrieben haben, führt ja dazu, daß Frauen sich hauptsächlich in Billiglohntätigkeiten wiederfinden. Das gilt im übrigen nicht allein für Arbeiter im engeren Sinne, auch für Angestellte und Staatsbüttel.
Nun gibt es ja nicht wenige Frauen, die etwas Besseres werden wollen, weil sie kapiert haben, daß in dieser Gesellschaftsordnung ihre Freiheit mit dem Verfügen über Geld zusammenfällt. Also werden sie als Universitätsabsolventinnen dem Staat und seiner Wirtschaft nützlich und hausen sich so in den damit einhergehenden neuen Sachzwängen ein. Eine Ärztin zum Beispiel muß sich mit der von Staats wegen eingeleiteten knallharten Profitausrichtung des Gesundheitswesens herumschlagen, die den gleichzeitigen Staatsauftrag, die Verwertungsfähigkeit der Bürger wiederherzustellen und zu erhalten, torpediert. Eine Juristin muß sich sowieso spezialisiert haben, um den immer neuen und umfangreicheren Gesetzen und Rechtsprechungen überhaupt folgen zu können und sich eine zahlungskräftige Kundschaft zu sichern. Eine Pädagogin oder Lehrerin darf sich mit den gesellschaftlich zugerichteten Kreaturen eben dieses modernen Staates herumschlagen. Eine Wirtschaftswissenschaftlerin darf sich für die Sachzwänge der Geldverwertung eines Betriebes oder gleich über die Bilanzen des ganzen Staates den Kopf zerbrechen. Eine Journalistin darf dem Publikum die Politik verdolmetschen und beißende Kommentare darüber schreiben, wie sehr die sich an ihren Idealen, der Durchsetzung ihrer »Werte« gemessen blamiert [5]. Usw. usf. Indem gerade solche Frauen in ihrem Beruf aufgehen, betätigen sie sich völlig unemanzipiert als die Charaktermaske Staatsbürger, pardon: Staatsbürgerin. Zweifellos ist das 3. »K« des Trios KKK (Kinder-Küche-Kirche) durch »Karriere« ersetzt worden. Die bewegten Frauen bedauern nur noch ihren nach wie vor viel zu geringen Anteil in den Vorständen der Aktiengesellschaften und sonstigen Konzerne. Wenn die Geschäftemacherei erst in weiblichen Händen ist, gibt es dann noch irgendeine Lohnfrage? Dann ist doch wohl endgültig bewiesen, daß jede/r seines Glückes Schmied höchstselbst ist!
Aber egal, ob Proletarierin oder besser gestellte Frau: Es bleibt immer noch ihr biologisches Spezialproblem: Der Nachwuchs. Der stellt sich ein, mal mehr gewollt, mal weniger. In jedem Fall jedoch erfordert er zusätzliche Substanz. Neben dem beruflichen Dasein, sprechen alle deshalb von einer Doppelbelastung. Und der Staat möchte diese den Frauen nicht abnehmen, sondern ermöglichen. Die Frauenbewegung hat dagegen keine Einwände. Und zwar deshalb nicht, weil sie die Wirtschaftsordnung apodiktisch für an sich total in Ordnung hält. Diese Haltung ist dem Staat äußerst willkommen, weil er sich nicht nur in seinem Verwertungswahn — er betrachtet seine Manövriermasse als potenzielle ökonomische Verwertungsmasse — bestätigt fühlt, sondern weil er es ebenso für höchst gerechtfertigt hält, den Frauen das zuzumuten, was sie selber in ihrer vermeintlichen Emanzipiertheit als Herausforderung begreifen.
Die Frauen, die sich entschlossen haben, in die Politik zu gehen, sich dort — emanzipiert wie sie glauben, daß sie gerade dadurch sind — für die Nation stark machen, wollen nichts zu wünschen übrig lassen und so werfen sie sich dann an die nationale Front. [6] Was zeichnet diese Regierungsfrauen vor allem und vor allen aus? Nicht die Sache die vor, nach und neben ihnen die männlichen Politiker nicht weniger ordentlich erledigen und die jedem national Gesonnenen ganz abstrakt als »Verantwortung für Deutschland« geläufig ist. Auffallend ist eine gewisse Radikalität, in der die Frauen diese »Verantwortung« vortragen. Im Gegensatz dazu, daß Frauen im allgemeinen von weicherer Natur sind, treten sie in der Politik bemerkenswerterweise oftmals als das glatte Gegenteil auf. Sie werfen sich doppelt massiv für die staatlichen Belange in die Brust, allen voran beispielhaft die deutsche EU-Kommissionspräsidentin. So vermitteln sie gegenüber ihrer Natur einen geradezu schrägen Eindruck: Sie gelten als unschöne Abart des weiblichen Geschlechts und sogar mancher gar nicht frauenfeindliche Betrachter wünscht sie sich an Heim & Herd zurück: Hat jene keine Kinder?
Eben so wird allerdings wieder wie überhaupt mit der gesamten Personalisierung der Politik das Wesentliche übersehen: Es ist nämlich völlig egal, welchen Geschlechts die Person ist und wie stark sie in den Saal brüllt, um die von der Politik erheischten Notwendigkeiten — all die Zumutungen des »Gürtel-enger-Schnallens« samt ihren Trostpflästerchen — den Staatsbürgern herunterzubeten und aufzuherrschen. Oder schmecken einem deutschen Staatsbürger Ausbeutung, Verarmung und Kriegsvorbereitungen besser, wenn sie ihm von einer aparten Zuckerpuppe — die dann vielleicht sogar ausländische Wurzeln haben darf — mit warmen Worten eingesäuselt würde?
An dieser Stelle noch einmal der Roman:
»Er [Robert Wussow, Hauptfigur des Romans] gab ihr [Dr. Susanne Ruland, seine Angebetete] einen kurzen historischen Abriß der Frauenbewegung, ihrer Ursachen und ihrer Irrwege. Der Mann war von Natur ein politisches Wesen, die Organisation des öffentlichen Lebens betrachtete er, seit er in die Kultur eingetreten war, als seine höchste Aufgabe. Er gründete die Familie, die Gemeinde, die Kirche und den Staat. Die Frau aber gehörte lediglich der Familie an, der Staat war ein abstraktes Gebilde, dem sie verständnislos, gleichgültig, feindlich gegenüberstand. Die Neigung des Mannes zur Entpersönlichung, zum Aufgehen in der Gemeinschaft war ihr etwas Fremdartiges. Sie lebte nicht abhängig von einem abstrakten sozialen Zustand, sondern von der konkreten Einzelperson des Mannes, auf dessen Schutz sie, die körperlich Schwache, angewiesen war. Dadurch blieb ihr Blick viele Generationen hindurch auf das Persönliche gerichtet, und sie ergab sich und ordnete sich dem unter, der sie mit seiner stärkeren körperlichen Kraft und seiner sozialen Überlegenheit in seine Obhut nahm. Erst viel später, als die Familie immer mehr beeinflußt wurde von dem öffentlichen Leben, als alles: Beruf, Wirtschaft, Wohnungswesen, Kinder- und Jugendpflege und Bildungsfragen zu politischen Problemen wurden, entstand die Frauenbewegung. Die Frau, vom männlichen Denken abseits geleitet, entfremdete sich immer mehr ihrem eigentlichen Wesen und heischte ihren Anteil an der Politik. Sie vergaß, daß ihrer größeren Naturgebundenheit das Interesse am Persönlichen weit mehr entsprach, als die Abstraktion, zu der der Mannesgeist nach der Geschichte seines Werdens neigte.
Damit begann die Loslösung des Weibes von ihrer Natur, ihr quälerisches Bestreben, immer mehr in die männliche Sfäre einzudringen. Es kam wie ein Rausch über die Frauen. … ‚Hat aber der Eintritt der Frau in die Politik an den Parteiverhältnissen und an der öffentlichen Meinung etwas geändert? Haben die Frauen etwas Besonderes, Neues, Originelles im Staat geschaffen? Nur die Zahl der Mitglieder der einzelnen politischen Parteien ist gewachsen. Gibt es eine einheitliche Frauenpolitik? Sind die Frauen nun glücklicher geworden? Die wenigen verständigen Frauen, die sich ihre Menschlichkeit durch die Politisierung der Frau nicht haben verderben lassen, verneinen diese Frage. Freilich, als die Frauen in die Politik handelnd eintraten, war die Politik und die Kultur krank, schwer krank. Der Weltkrieg, dieser Rückfall in die Bestialität, in die Zerstörungs- und Vernichtungswut der Urzeit, und danach die Revolution, bewies wie ungesund das Verhältnis der Bürger eines Landes untereinander und die gegenseitigen Beziehungen der Völker gewesen waren.‘
‚Nun‘, unterbrach Susanne die Ausführungen des Geliebten, ‚ist das nicht ein Beweis, daß die Männer der Aufgabe der Politik, das Menschentum zu erhöhen, nicht gewachsen waren? Führte die Männerpolitik nicht zum Imperialismus und Nationalismus, fast zum Untergang? War deshalb die Mitwirkung des Weibes nicht notwendig, um ein neues Staatswesen, um eine neue Kultur aufzubauen?‘
‚Ich antworte die mit einer Gegenfrage: Wohin sind wir mit dem Eintritt der Frau in den Staats- und Kommunaldienst, in Parlament und Verwaltung gekommen? Meinst Du nicht, daß wir aufs neue dem Untergang zusteuern?‘ …‘…Das politische Weib ist nichts als eine Karikatur des Mannes, ganz gewiß ist ihr der Logos, der Geist, nicht in höherem Maße verliehen als dem Mann, ganz gewiß ist sie kein besserer Organisator, kein besserer Staatsbaumeister, als der Mann. In allem Geistigen ahmt sie doch nur dem Manne nach. …‘ …« (S. 206-208)
Eine Bekämpfung des Patriarchats — das wird an dieser Stelle deutlich — neben der bestehenden Gesellschaftsordnung ist eine Schimäre. Entweder denken manche Frauen (eine Minderheit) sich ganz einfach mal Staat & Kapital weg, sodann bleibe immer noch das Patriarchat übrig, mit dem sie sich dann ganz vornehmlich zu beschäftigen gedenken. Oder sie (die Mehrheit) denken sich das Patriarchat weg und dann geht mit einem Schlag — so die aktuelle Lage — der Kapitalismus samt seinen Krisen & Kriegen doch vollauf in Ordnung. Die einzige Kritik, die dann noch aufkommt ist die, daß, obzwar in der Politik frauenmäßig im Prinzip alles in bester Ordnung ist, in den Vorstandsetagen der deutschen Aktiengesellschaften und sonstigen Konzerne der Frauenanteil nach wie vor sehr zu wünschen übrig läßt.
»„Meine Regierung“, sagt der Politiker, „wird vor allem sagen, wie schon der große englische General Waterfoot: ‚Ladies to the front!‘“ Er will Damen stark mit der Verantwortung bedenken, weil allein die Tatsache, daß sie welche sind, ein politisches Programm abgibt.« [7] Das ist exakt der Stand im Jahre 2023.
(07.03.2023)
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[1] siehe GegenStandpunkt 4-2019
[2] in der ersten Ausgabe der in München erscheinenden Zeitschrift Frauenstimmrecht — Monatshefte des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht, erste Ausgabe, 1912, erschienen
[3] umfangreich in dem von Ingvild Richardsen herausgegebenen, im Verlag Volk, München, 2022, erschienenen gleichnamigen Band dokumentiert und illustriert; Anita Augspurg war zur Juristin ausgebildet und an diesem Fotoatelier beteiligt.
[4] Arthur Zapp, Im Frauenstaat, Verlag Gebrüder Enoch, Hamburg, 1922.
Arthur Zapp (1856-1925, Abb. KoKa-Archiv) verstand wie kaum ein Zweiter seiner Zeit das Ticken des weiblichen Geschlechts und war sich nicht weniger der gesellschaftlichen Lage desselben ebenso bewußt. Dies beweist eine ganze Anzahl seiner Bücher u. a. »Bürgerliche und natürliche Liebe«, »Die freie Frau«, »Vom Stamm der Helena«, »Moderne Frauen«, »Moderne Ehen«, »Versorgungsehe«, »Eine wilde Ehe«, »Die Lüge der Ehe«, »Sünde wider das Weib« etc..
Nicht nur dieses Buch des Autors ist empfehlenswerte und größtenteils eben nicht bloß Unterhaltungslektüre. Leider sind seine Bücher rar geworden, zumal sie der bürgerlichen Moral unter den Nationalsozialisten zum Opfer fielen und verbrannt wurden.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hinter Zapp eine starke Frau stand, doch ist über seine Gemahlin nichts bekannt. Bekannt ist nur, daß er zumindest zwei Kinder hatte, eine Tochter und einen Sohn, die er in seiner Schrift gegen die Religion nachfragend zu Wort kommen läßt. Diese Schrift wurde ein Jahr nach seinem Tod als Agitationsschrift unter dem Titel »Wir brauchen keinen Gott« neu aufgelegt: »Kleine Agitations-Bibliothek« Nr. 38, Freidenker-Verlag, Leipzig, 1926.
[5] Eine der unverschämtesten imperialistischen Einpeitscherinnen ist übrigens Kristin Helberg.
[6] Sicher, ein paar Frauenfeinde von Rechtsaußen haben immer an der Bundeskanzlerin herumgemäkelt, auch an der jetzigen Außenministerin, aber nicht, weil solche Persönlichkeiten ihren Aufgaben nicht gewissenhaft nachkämen, sondern weil sie jene als Mitglieder nicht genehmer Parteien wahrnehmen: Parteien, denen sie anlasten, Deutschland nicht (genug) voranzubringen, ja gar es zu verraten. Und es sei ja kein Wunder, daß solche Parteien zunehmend von »Weiberwirtschaft« geprägt seien.
[7] Benno Plabst, »Im sozialen Netz hängt mancher Karpfen« in: »Leute, laßt uns endlich leben«, 1985, S. 53
Schon mit 21 Jahren wurde Puschkin (1799-1837), der im Staatsdienst stand, wegen aufrührerischer Gedichte von Moskau nach Odessa strafversetzt. Anfangs noch im Banne der Romantik George Gordon Byrons begann er dort sein Hauptwerk »Eugen Onégin«, der als erster realistischer Roman Rußlands gilt. Neben vielen Gedichten entstand dort die in Versen gefaßte Romanragödie »Eugen Onégin«, in dem Tatjana mit ihrer unglücklichen Liebe schon Tolstojs »Anna Karenina« den Weg weist. In Odessa erinnert ein Museum an ihn. Nachdem er aufgrund eines Briefes des Atheismus beschuldigt wurde, wurde er erneut verbannt und zwar auf das Gut seiner Familie in Michajlovskoje bei Pskov. Dort in der Provinz schrieb er das Drama »Boris Godunow« und versäumt den Dekabristenaufstand 1825, obschon er Verbindungen zu den Aufständischen hatte. Auch nach seiner Rückkehr nach Moskau 1826 fiel er unter die zaristische Zensur. Ab 1831 lebte er mit seiner Frau in Petersburg, wo er 1836 die literarische und politische Vierteljahreszeitschrift Sowremennik (Der Zeitgenosse) herausgab. Ab 1843 erschien sie monatlich und etablierte sich zum intellektuellen Forum Rußlands schlechthin. Sie existierte bis zu ihren Verbot 1866. Besonderes Niveau erhielt sie 1856 durch den Eintritt von Nikolaj Tschernyschewskij in die Redaktion. Außerdem schrieben in ihr Iwan Turgenjew, Fjodor Dostojewskij, Dmitirij Grigorowitsch, Iwan Panajew, Iwan Gontscharow, Alexander Herzen, Nikolaj Ogarjow und andere mehr.
Puschkins Lyrik, die in Rußland als zauberhaft gepriesen wird, kann kaum adäquat wiedergegeben werden. So beschränken sich die deutschsprachigen Übersetzungen hauptsächlich auf seine Erzählungen. Puschkin sah sich zunehmend zur »rauhen Prosa« hingezogen. Es entstanden unter anderem »Erzählungen Belkins«, »Dubrovskij«, »Pique Dame«, »Geschichte des Dorfes Gorjuchino« sowie der historische Roman »Hauptmannstochter«, der vor dem Hintergrund des Aufstands von Pugatschov im Jahre 1772 spielt.
Schon 1837 schied Puschkin aufgrund eines Duells aus dem Leben.
Wer auf die sprachlichen Feinheiten seiner Werke aufmerksam werden möchte, der sei auf die Rezension von Dmitrij Tschizewskij verwiesen, der unter anderem die Unterschiede zu Gogol und Mereschkowskij herausstellt [siehe das Nachwort der dtv-Ausgabe, »Erzählungen«]. Ferner sei die Romanbiografie Puschkins »Das letzte Jahr« von Alexej Nowikow empfohlen (Original 1968, dt. 1983 im Verlag der Nation, Ost-Berlin).
»Pique Dame« wurde übrigens in einen Sammelband »Russische Gespenstergeschichten« ausgenommen (Verlag Rütten & Loening, Berlin, 1958). Darin finden sich auch »Der Salamander« von Wladimir Odojewskij, »Die verschwunde Urkunde«, »Der verhexte Platz«, »Der Wij« (alle von Gogol), »Eine unvollendete Novelle« (von Machail Lermontow), »Faust«, »Der Hund«, »Eine seltsame Geschichte« (alle von Iwan Turgenjew), »Der schwarze Mönch« (von Anton Tschechow) und »Verteidigung« (von Valerij Brjusow).
Adolphe Belot (1829-1890) riskierte viel. Seine Literatur brach mich die vorliegenden Moralvorstellungen radikal. Erotik und Exotik waren seine Spezialitäten und so wurden seine Bücher einerseits zum Skandal, andrerseits eben gerade deshalb geschätzt (unter anderem auch von Zola). »Fräulein Griaud, meine Frau« ebenso wie der Roman »Zwei Frauen« widmete sich der lesbischen Liebe. Ersterer wurde als Fortsetzungsroman in der französischen Zeitung Figaro veröffentlicht, mußte dort aber vor seiner Beendigung abgebrochen werden. Ein Roman erschien sogar hier in Deutschland als Fortsetzungsroman in dem Blatt »Illustrierte Welt« im Jahrgang 1880, der Titel »Der Würger von Paris«; wobei der Übersetzer hinzufügte »nach« Adolphe Belot. Ob hier Pikantes ausgelassen oder geglättet wurde, wer weiß?
Sensationell auch der Roman »Das Glutweib«, ein Pariser Salonroman. Aufwühlend der exotische Roman über »Walinda – die schwarze Venus«, der in Äquatorial-Afrika spielt und den europäischen Eindringlingen wahrlich kein gutes Zeugns ausstellt. Aber das war erst der Anfang der Ruinierung des Kontinents durch die kapitalistischen Europäer; nach mittlerweile 150 Jahren hat seine Zerstörung ein damals sicherlich unvorstellbares Ausmaß angenommen.
All seine Werke sind, soweit hier bekannt, nur noch antiquarisch erhältlich. Die einzige Ausnahme bildet ein 1990 bei rororo erschienenes Taschenbuch »Sie naschten von Lilien und Lotos – ein erotischer Briefwechsel Paris – Kalkuta«.