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Isaac Deutscher (1907-1967) wurde hierzulande insbesondere durch seine ausgezeichneten, lesenswerten Biografien Trotzkis und Stalins bekannt. Er hielt im Jahre 1966 bei einem TeachIn in den USA nachfolgenden Vortrag. Darin greift er bürgerliche Urteile über den Marxismus auf: Zum einen die Vorstellung, daß, insofern man einen Menschen in den Sozialismus verpflanzt, er aufgrund seiner Menschennatur dem nicht entsprechen könne, der Sozialismus also per se menschenwidrig sei. (Wie sollte das auch möglich sein bei einem Menschen mit seinen Vorurteilen und seinem Opportunismus, die ihn für den kapitalistischen Staat so wertvoll machen?) Zum anderen die Gleichsetzung der Sowjetunion und Chinas mit der Marxschen Kritik. Nachdem sowohl Rußland wie China mittlerweile zum Kapitalismus zurückgekehrt sind, gilt auch diese Kritik als endgültig erledigt… (24.04.24)
 

Isaac Deutscher
Die sozialistische Konzeption des Menschen

Marxisten widerstrebt es im allgemeinen, über den sozialistischen Menschen zu sprechen. Jeder Versuch, den Menschen der klassenlosen Gesellschaft der Zukunft zu porträtieren, hat notgedrungen einen utopischen Anstrich. Solche Beschreibungen waren die Domäne der großen Visionäre des Sozialismus, der Saint-Simon und Fournier, die wie die französischen Rationalisten des 18. Jahrhunderts glaubten, daß sie (und damit die Vernunft) endlich den idealen Menschen entdeckt hätten, und daß dieser Entdeckung nun unmittelbar die Verwirklichung folgen müsse. Nichts lag Marx und Engels und den bedeutenden Marxisten späterer Generationen ferner als dieser Gedanke. Sie verkündeten der Menschheit nicht: »Hier ist das Ideal, fallt vor ihm auf die Knie«, sie zeichneten kein Prospekt der zukünftigen Gesellschaft, sondern widmeten all ihre Kraft der gründlichen, realistischen Analyse der bestehenden, kapitalistischen Gesellschaft; den Klassenkampf ihrer Zeit vor Augen, weihten sie sich der Sache des Proletariats.
Bei aller Hingabe an die Erfordernisse ihrer Zeit kehrten sie aber der Zukunft nicht den Rücken. Sie versuchten, wenigstens die Umrisse der Zukunft zu erraten, aber sie formulierten ihre Vermutungen mit bemerkenswerter Zurückhaltung und auch das nur sehr selten. In ihren umfangreichen Schriften haben uns Marx und Engels nur wenige, verstreute Hinweise zu unserem Thema hinterlassen, bedeutsam aufeinander bezogene Andeutungen, die neue Horizonte eröffnen, aber eben nur Andeutungen. Zweifellos hatte Marx seine Vorstellung vom sozialistischen Menschen, aber das war die Arbeitshypothese des Analytikers, nicht die Erleuchtung eines Visionärs. Und obwohl er vom historischen Realismus seiner Antizipationen überzeugt war, stand er ihnen doch mit einer gewissen Skepsis gegenüber.

Marx suchte, nach seinen eigenen Worten, nach den Keinen des Sozialismus im Leibe des Kapitalismus; darum konnte er auch nur den Keim des sozialistischen Menschen sehen. Auf die Gefahr hin, Erwartungen zu enttäuschen, muß ich sagen, daß wir bis heute nicht mehr tun können. Nach all den Revolutionen unseres Zeitalters und trotz allem, was wir seit Marx über die Gesellschaft gelernt haben, sind wir in dieser Hinsicht nicht über ihn hinausgekommen. Was wir zum Problem des sozialistischen Menschen sagen können, bleibt notwendigerweise sehr allgemein, fragmentarisch und in bestimmter Weise negativ. Wir können leichter bestimmen, wie der sozialistische Mensch nicht sein wird, als wie er sein wird. Im gleichen Maße aber, wie eine Negation zugleich eine Position impliziert, weist negative Charakteristik des sozialistischen Menschen auch auf einige seiner positiven Züge hin.
Der Marxismus sieht den Hauptwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die wesentliche Ursache ihrer Anarchie und Irrationalität in dem Konflikt zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung des modernen Produktionsprozesses einerseits und dem nicht gesellschaftlichen Charakter der Kontrolle, die das Privateigentum über diesen Prozeß ausübt. Die moderne Technik und Industrie tendieren zu einer Vereinigung der Gesellschaft, das Privateigentum an den Produktionsmitteln reißt sie auseinander. Der vergesellschaftete Produktionsprozeß — ein Stück Kollektivismus inmitten der neokapitalistischen Wirtschaft — muß von den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen befreit werden, die ihn einzwängen und stören. Mehr als ein Jahrhundert hindurch waren bürgerliche Ökonomen blind für diesen Widerspruch, ehe Keynes und seine Schüler ihn in der ihnen eigenen, eklektischen Weise bemerkten und damit der Marxschen Kritik unfreiwilligen Tribut zollten.
Aber alles, was Keynesianismus und Neokapitalismus — die vom Gespenst des Kommunismus mehr denn je heimgesucht werden — tun können, ist der Versuch, auf Basis des Privateigentums (d.h. der monopolkapitalistischen Unternehmen) eine Art von pseudo-gesellschaftlicher Kontrolle über den vergesellschafteten Produktionsprozeß einzuführen. Es geschieht nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal, daß Menschen sich verzweifelt mühen, archaische Institutionen und Lebensweisen in ein Zeitalter hinüberzuretten, das sie nicht brauchen kann. In meiner Heimat Polen habe ich einmal einen Bauern gesehen, der zufällig ein altes Auto bekam, vor das er unbedingt seine Pferde spannen wollte. Keynesianismus und Neokapitalismus spannen die Pferde des Privateigentums vor die atomgetriebenen Fahrzeuge und Raumschiffe unserer Zeit und setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um uns am Ausspannen zu hindern.

Unsere Konzeption des Sozialismus ist keine willkürliche, intellektuelle Konstruktion, sondern eine sorgfältige Extrapolation und Projektion jener Elemente rationaler sozialer Organisation, die bereits der kapitalistischen Gesellschaft inhärent sind, aber ständig von ihr durchkreuzt und negiert werden. In ähnlicher Weise ist unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen eine Projektion des gesellschaftlichen Menschen, der bereits der Möglichkeit nach in uns existiert, aber durch die Lebensbedingungen, unter denen er leben muß, verstümmelt, zerschlagen und widerlegt wird. (Der Keim des sozialistischen Menschen ist selbst im entfremdeten Arbeiter unserer Zeit gegenwärtig in den seltenen Augenblicken, wenn er seiner Rolle in der Gesellschaft bewußt wird, sich zur Klassensolidarität erhebt und für seine Befreiung kämpft.) So wurzelt unsere Zielvorstellung in der Wirklichkeit, wird von ihr bestärkt und bleibt in ihr befangen.
Wir wissen, was der sozialistische Mensch nicht sein wird: das Produkt einer antagonistischen Gesellschaft. Er wird nicht mehr der kollektive Produzent sein, der von seinem eigenen Produkt und seiner sozialen Lebenswelt kontrolliert wird, statt sie zu kontrollieren. Er wird nicht Spielball der blinden Kräfte des Marktes sein, noch Roboter einer staatlich organisierten, neokapitalistischen Kriegswirtschaft. Er wird nicht der entfremdete und geduckte Arbeiter früherer Tage sein, noch die langweilige Imitation des Kleinbürgers, wozu ihn unser sogenannter Wohlfahrtsstaat macht. Er kann nur zu sich selbst kommen als Kollektivarbeiter in einer höchst entwickelten, kollektivistischen Gesellschaft. Nur eine solche Gesellschaft erlaubt, die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf ein erträgliches Minimum zu reduzieren, was die moderne Technik schon möglich macht. Erst in dieser Gesellschaft wird der sozialistische Mensch seine materiellen und geistigen Bedürfnisse in Sicherheit, nicht zufällig, befriedigen können, rational, nicht in bizarren Formen. Nur in dieser Gesellschaft wird er sich bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse und beim Gebrauch seiner freien Zeit mittels durchgebildetem Differenzierungsvermögen und kluger Wahl selbst organisieren können, statt geheimen oder lautstarken Verführern der kommerziellen Reklame zu folgen. Nur in einer sozialistischen Gesellschaft wird der Mensch imstande sein, all seine biologischen und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln, seine Persönlichkeit auszubilden und zu integrieren und sich von dem düsteren Erbe tausendjähriger materieller Knappheit, Ungleichheit und Unterdrückung frei zu machen. Nur in einer solchen Gesellschaft werden die Menschen endlich die Scheidung von fysischer und intellektueller Arbeit überwinden können, die die Ursache der Entfremdung des Menschen vom Menschen, der Aufteilung der Menschheit in Herrscher und Beherrschte, in antagonistische Klassen, war, die die fortgeschrittene Technik gerade jetzt überflüssig macht, während das neokapitalistische System daran arbeitet, sie mit allen Kräften zu verewigen. Erst auf dem Höhepunkt unserer Kultur und Zivilisation kann sich der sozialistische Mensch zu seiner vollen Größe erheben. Dieser Gipfelpunkt ist bereits in Sichtweite, aber unsere Eigentumsverhältnisse, die sozialen Institutionen und unser tief verwurzeltes Beharrungsvermögen hindern uns, uns so rasch wie möglich darauf zuzubewegen.

Unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen ist oft wegen ihres furchtlosen Optimismus kritisiert worden. Man sagt uns, auch wir seien Utopisten und unsere geschichts-filosofischen und psychologischen Annahmen seien unhaltbar. Man sagt, das »Paradies auf Erden«, von dem die Propagandisten des Sozialismus gesprochen haben, sei ebenso unerreichbar wie das himmlische Paradies, das die Theologen versprachen. Wir müssen dieser Kritik aufmerksam zuhören, manchmal sind ein paar Körnchen Wahrheit darin enthalten. Wir müssen zugeben, daß wir oft eine allzu optimistische Vorstellung hatten, wenn nicht vom Sozialismus, dann doch von den Wegen dahin. Aber wir müssen uns auch klarmachen, daß viele dieser kritischen Bemerkungen lediglich Produkte jener Untergangsstimmung sind, die die bürgerliche Gesellschaft und ihre Ideologen erfüllt, oder in irrational verarbeiteter Enttäuschung von Menschen aus unserem eigenen Lager ihre Wurzeln haben. Die Existentialisten sagen uns, daß wir den Grundbefindlichkeiten menschlichen Daseins entfliehen möchten und die unausweichliche Absurdität unseres Schicksals leugnen. Es ist außerordentlich schwierig, mit Gegnern, die unterm Aspekt der Ewigkeit und von rein teleologischen Prämissen her argumentieren. Der pessimistische Existentialist stellt die alte Frage: Was ist der Sinn oder das Ziel menschlicher Existenz und menschlichen Tuns, wenn man sie mit der Unendlichkeit von Zeit und Raum vergleicht? Darauf haben natürlich weder wir noch der Existentialist eine Antwort. Aber die Frage selbst ist sinnlos, da sie das Bedürfnis nach einem absoluten, metafysischen Zweck menschlicher Existenz postuliert, der für die Ewigkeit gilt. Einen solchen Zweck kennen wir nicht und wir haben auch kein Bedürfnis danach. Wir sehen in unserer Existenz weder metafysischen Sinn noch Absurdität — das sind übrigens nur zwei Seiten derselben Medaille; nur wo ein Sinn postuliert wird, kann man von Absurdität reden.
Das menschliche Leben, mit dem wir uns befassen, ist nicht die Einsamkeit des Menschen in der Unendlichkeit von Raum und Zeit. In dieser Unendlichkeit sind selbst die Begriffe Einsamkeit und Absurdität bedeutungslos. Wir beschäftigen uns mit der Lage des Menschen in einer Gesellschaft, die er selbst geschaffen hat und verändern kann. Das Argumentieren unterm Aspekt der Ewigkeit ist filosofisch steril und sozial reaktionär. Man kann damit moralische Indifferenz und politischen Quietismus rechtfertigen. Die filosofischen Argumente werden zu Argumenten für die resignierte Anerkennung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie sind. Glücklicherweise können Existentialisten — wie das bemerkenswerte Beispiel Sartres bezeugt — filosofisch inkonsequent sein und trotz ihrer Überzeugung von der Absurdität menschlicher Existenz die Idee vom sozialistischen Menschen akzeptieren.

Spezifischer ist die Kritik marxistischer und sozialistischer Hoffnungen, wie sie Sigmund Freud in seiner Schrift »Das Unbehagen in der Kultur«(1930) vorgenommen hat. Unserer Vorstellung davon, was der Mensch in einer Gesellschaft ohne Klassen und Staat sein kann, entgegnet Freud mit dem alten Spruch »homo homini lupus«, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Menschliche Wesen, sagt er, werden immer aggressiv und feindselig einander gegenüberstehen; ihre aggressiven Instinkte sind biologisch festgelegt und werden durch Änderungen der Gesellschaftsstruktur nicht wesentlich beeinflußt. »Die Kommunisten«, sagt Freud, »glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen einen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen.«
Ehe ich fortfahre, möchte ich zunächst prüfen, ob Freuds zusammenfassende Darstellung der marxistischen Ansichten korrekt ist. Glauben wir wirklich, daß der Mensch von Natur aus »eindeutig gut« und »seinem Nächsten wohlgesinnt« ist? Freud, der über die marxistische Theorie ziemlich schlecht informiert war, fand zweifellos derartige Behauptungen in der populären, kommunistischen oder sozialdemokratischen Propaganda. Die ernstzunehmende marxistische Theorie stellt hingegen keinerlei derartige Sätze über die Menschennatur auf; am ehesten kann man die Quelle solcher Anschauungen in den feuerbachianischen Jugendschriften von Marx auffinden. Ich erinnere mich, daß mich dies Problem als junger Mensch sehr beschäftigt hat, als ich mich mit marxistischer Theorie anfreundete und über die der Theorie zugrunde liegende Konzeption der menschlichen Natur ins Klare kommen wollte. Nachdem ich mich durch die Schriften von Marx, Engels, Kautsky, Plechanow, Mehring, Rosa Luxemburg, Lenin, Trotzki und Bucharin hindurchgelesen hatte, kam ich zu dem Schluß, daß deren Annahmen über die menschliche Natur wesentlich »neutral« waren. Sie hielten den Menschen weder für »eindeutig gut«, noch für »eindeutig schlecht« und weigerten sich, die metafysischen Vorstellungen einer unwandelbaren, von sozialen Bedingungen unbeeinflußten Menschennatur zu akzeptieren. Ich bin immer noch der Meinung, daß dieser Schluß, zu dem ich damals vor vierzig Jahren kam, richtig ist.

Der Mensch ist Produkt der Natur, speziell jener Natur, die sich als menschliche Gesellschaft der außermenschlichen Natur entgegenstellt. Wie immer die biologische Basis unseres Lebens beschaffen sein mag, — die sozialen Verhältnisse spielen die entscheidende Rolle bei der Formung unseres Charakters, und selbst die biologischen Faktoren werden durch unsere soziale Persönlichkeit gebrochen und teilweise umgeformt. Die menschliche Natur und ihre Triebe sind bisher durch die sozialen Bedingungen in starkem Maße unterdrückt und entstellt worden, und nur wenn diese Bedingungen ihre unterdrückende und verzerrende Qualität verlieren, werden wir eine deutlichere und wissenschaftlichere Vorstellung von den biologischen und sozialen Elementen der Menschennatur haben als bisher.
Die wesentliche Kritik an Freuds Theorie, die ein Marxist üben muß […] bezieht sich darauf, daß Freud und seine Schüler nur zu oft diese Brechung und Transformation der Triebe des Menschen durch seine sich wandelnde soziale Identität unberücksichtigt lassen, — und dabei war es Freud, der uns auf die Prozesse der Sublimierung aufmerksam gemacht hat. Die Psychoanalyse konnte sich bisher nur mit dem bürgerlichen Menschen der imperialistischen Epoche befassen. Sie präsentierte ihn als den Menschen schlechthin, behandelte seine inneren Konflikte in überhistorischer Manier als Konflikte von Menschen aller Epochen, aller sozialen Ordnungen, — als der menschlichen Existenz inhärente Konflikte. Unter diesem Aspekt kann der sozialistische Mensch nur als eine Variation des bürgerlichen Menschen erscheinen. Freud selbst sagt dazu: »Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht.« Dann macht er folgende, noch weitaus kategorischere Aussage: »Sie (die Aggression) ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in Urzeiten, als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigte sich bereits in der Kinderstube, kaum daß das Eigentum seine anale Urform aufgegeben hat. … Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muß.« Freud warnt uns also, der sozialistische Mensch werde nicht weniger als der bürgerliche aggressiv und feindselig gegen seine Mitmenschen sein, und seine Feindseligkeit werde sich selbst im Kindesalter zeigen.
Freud sieht im Privateigentum ein starkes Aggressionsinstrument, aber er behauptet in dogmatischster Weise, daß es nicht das stärkste sei. Woher weiß er das? Wie mißt er die relative Stärke der verschiedenartigen Aggressionsinstrumente? Wir Marxisten sind darin bescheidener und weniger dogmatisch: Wir behaupten nicht, vergleichende Messungen angestellt zu haben, die es uns gestatten würden, sexuelle Triebe und triebhafte Aggression gegen soziale Bedürfnisse, Interessen und Zwänge abzuwägen. Die biologischen Triebe werden beim sozialistischen Menschen so wie beim heutigen gegeben sein, aber wir wissen nicht, in welcher Brechung sie in seiner Persönlichkeit zum Ausdruck kommen werden. Wir können nur vermuten, daß sie ihn in einer anderen Weise motivieren werden als den bürgerlichen Menschen. (Ich vermute sogar, daß der sozialistische Mensch dem Psychoanalytiker reicheres und verläßlicheres Material für Forschung und Theorie liefern wird, weil ein künftiger Freud in ihm die Arbeit der Triebe direkter beobachten können wird, nicht durch eine dunkle Brille, durch die verzerrenden Prismen der Klassenpsychologie des Analytikers und seines Patienten.) Freud irrt sich auch, wenn er das Eigentum lediglich ein Instrument unserer aggressiven Instinkte nennt. Im Gegenteil: das Eigentum nutzt jene Instinkte häufig als Instrumente und entwickelt seine eigene Vielfalt von aggressiven Trieben. Ferner haben sich in der Geschichte in Armeen organisierte Menschen gegenseitig abgeschlachtet wegen des Eigentums oder wegen Eigentumsforderungen, aber sie haben bisher — außer in der Mythologie — keine Kriege wegen sexueller Privilegien geführt.
Wenn Freud behauptet, daß die Abschaffung des Eigentums »die Unterschiede von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht«, ebensowenig ändern wird wie »die Natur der menschlichen Aggression«, so bleibt er den Beweis schuldig. Und wenn er schreibt, daß »Aggression … fast uneingeschränkt in Urzeiten herrschte, als das Eigentum noch sehr armselig war«, so entgeht ihm, daß es gerade die materielle Knappheit war, die die Einheit der primitiven Gesellschaft zerstörte, weil sie grausame Kämpfe um knappe Ressourcen auslöste, die die Gesellschaft in antagonistische Klassen spaltete.
Gerade deshalb halten wir daran fest, daß der sozialistische Mensch nur vorstellbar ist auf der Basis eines beispiellosen Überflusses von materiellen und kulturellen Gütern und Dienstleistungen. Das ist das ABC des Marxismus. Einer meiner Freunde, ein alter, weiser Psychoanalytiker, sagt oft seufzend: »Wenn doch Freud Engels ›Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates‹ gelesen hätte; – er hätte manche Umwege und Irrtümer vermeiden können!« Er hätte dann jedenfalls denen keine Munition geliefert, für die das ›homo homini lupus‹ der Schlachtruf gegen Fortschritt und Sozialismus ist, und die mit dem Buhmann der ewigen menschlichen Wolfsnatur im Interesse des realen, blutrünstigen imperialistischen Wolfes operieren. […]
Er scheint freilich andere Möglichkeiten geahnt zu haben: »Hebt man auch dieses« (das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen) »durch die völlige Befreiung des Sexuallebens (auf), beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so läßt sich nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann…« Diese Perspektive kann er sich jedoch nicht vorstellen, da ihm die monogame Familie als Keimzelle der Kultur gilt; er kann sich nicht lösen von seinem Patienten, dem bürgerlich monogamen Menschen, der vor ihm auf der Couch liegt. Obwohl er mit Unbehagen zugesteht, daß wir nicht vorhersehen können, welche neuen Wege der Kulturentwicklung sich nach Beseitigung der gegenwärtigen Familieninstitutionen ergeben werden, ist er doch sicher, daß die unaufhebbare Destruktivität der Menschennatur auch den sozialistischen Menschen heimsuchen wird, jenseits von Klasse, Gesellschaft, Staat und Familie.

Wir Marxisten bescheiden uns hier wiederum mit einem Stück Unwissenheit. Wir haben natürlich in erster Linie mit jener Grausamkeit und Unterdrückung zu tun, die direkt durch Armut, Knappheit am Gütern, die Klassengesellschaft und die Herrschaft von Menschen über Menschen verursacht wird. Wann immer Freud sich auf das Gebiet der Soziologie und Geschichte begibt, sitzt er dem Vorwurf auf, willentlich oder unwillentlich die bestehende Gesellschaft zu rechtfertigen. […]
Wir sagen nicht, daß der Sozialismus alle Probleme der menschlichen Gattung lösen wird. Wir kämpfen in erster Linie gegen Übel, die der Mensch angerichtet hat, und die er bewältigen kann. […] Wenn wir gegen soziale Ungleichheit und Unterdrückung kämpfen, kämpfen wir zugleich für eine Milderung der Schläge, die die Natur uns versetzt. Ich meine, daß der Marxismus die Probleme unserer Gesellschaft am richtigen Ende anpackt. […] Unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen inspirierte hingegen [gegen die Freudianer] einen riesigen Teil der Menschheit, und obwohl wir mit wechselndem Erfolg gekämpft haben und schreckliche Niederlagen erlitten, haben wir doch Berge versetzt, während alle Psychoanalyse dieser Erde die überkochende Aggressivität unserer Zeit nicht um ein Jota vermindern kann.

Auch für den sozialistischen Manschen, werden natürlich Sexualität und Tod Probleme darstellen, aber wir sind sicher, daß er ihnen besser ausgerüstet entgegentreten wird. Und sollte sein Wesen aggressiv bleiben, so wird ihm seine Gesellschaft ungleichlich vielfältigere und bessere Möglichkeiten zur Triebsublimierung bieten, als sie dem Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft zur Verfügung standen. Auch wenn der sozialistische Mensch nicht ganz »frei sein wird von Schuld und Schmerz«, wie Shelley träumte, mag er doch »zepterlos, frei und unbeschränkt sein, ein gleicher Mensch, nicht in Klasse, Stamm, Nation eingezwängt, frei von Götzendienst und Gottesfurcht.« Das durchschnittliche Mitglied der sozialistischen Gesellschaft wird sich – wie Trotzki antizipierte – zur Größe eines Aristoteles oder Marx erheben, die – wie immer ihre Triebstruktur beschaffen war – die großartigsten bisher erreichten Entwicklungen unserer Gattung repräsentieren. Und wir vermuten, daß sich »über diesen Höhen neue Gipfel erheben werden«. Wir sehen im sozialistischen Menschen nicht das letzte, vollkommenste Produkt der Entwick-lung oder das Ende der Geschichte, sondern den eigentlichen Anfang der Geschichte. Der sozialistische Mensch mag das »Unbehagen« fühlen, die Unruhe und Qual, die die Kultur dem Tier im Menschen aufbürdet. Es kann sogar im Zentrum seiner inneren Widersprüche und Spannungen stehen, die ihn dazu treiben, ein Niveau zu erreichen, das einstweilen jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.

Die vorgetragenen Anschauungen sind oder sollten für jeden Marxisten selbstverständlich sein und ich muß mich vielleicht entschuldigen, daß ich sie auf einer Konferenz wie der unseren (Socialist Scholars‘ Conference) wiederhole. Beim gegenwärtigen Stand der Arbeiterbewegung und des sozialistischen Denkens müssen jedoch bestimmte elementare Einsichten wiederholt werden, weil sie vergessen oder verfälscht werden um zweifelhafter politischer Vorteile willen. So wurde mir z.B. gesagt, der eigentliche Gegenstand meiner Analyse müsse jener sozialistische Mensch sein, der heute in der UdSSR oder in China lebt. Ich könnte diesen Standpunkt nur dann teilen, wenn ich der Meinung wäre, daß diese Länder den Sozialismus bereits weitgehend oder gänzlich erreicht hätten. Diese Vorstellung kann ich nicht teilen und ich glaube nicht, daß das typische oder auch das fortgeschrittene Mitglied der sowjetischen oder der chinesischen Gesellschaft von heute als sozialistischer Mensch beschrieben werden kann.
Wir alle reden natürlich üblicherweise von der UdSSR, China und den Verbündeten oder nichtverbündeten Staaten gleichen Typs als von »sozialistischen Ländern«, und wir können das tun, solange wir den nach-kapitalistischen Charakter dieser Regime (im Gegensatz zu den kapitalistischen) meinen oder auf die sozialistischen Ursprünge bzw. die Leitideen ihrer Regierung und Politik hinweisen wollen. Hier aber geht es mir um eine theoretisch präzise Beschreibung der Struktur ihrer Gesellschaft und der Verhältnisse zwischen den Menschen, wie sie sich innerhalb dieser Struktur entwickeln. Vor mehr als 30 Jahren verkündete Stalin, die Sowjetunion habe den Aufbau des Sozialismus beendet; trotz Entstalinisierung und trotz des Abbaus vieler stalinistischer Mythen ist das ein zentraler Glaubenssatz der offiziellen sowjetischen Ideologie geblieben. Mehr noch, Stalins Nachfolger behaupten, die Sowjetunion befinde sich jetzt im Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus, sie trete in den höheren Zustand der klassenlosen Gesellschaft ein, der den Zyklus sozialistischer Transformation abschließt, der durch die Oktoberrevolution eingeleitet wurde.
Sprecher der Volksrepublik China haben ähnliche Ansprüche für ihr Land erhoben. Das stalinistische Dogma vom vollendeten Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion hat die populäre Vorstellung vom sozialistischen Menschen in starkem Maße beeinflußt und verändert, sogar das Denken einiger Sozialisten. Eins aber ist klar oder sollte doch klar sein: der typische Mensch der sowjetischen Gesellschaft, ob unter Stalin oder unter seinen Nachfolgern, steht in so schlagendem Gegensatz zur marxistischen Konzeption vom sozialistischen Menschen, daß wir ihn entweder nicht als solchen bezeichnen können oder
aber die marxistische Konzeption über Bord werfen müssen, wie die stalinistische Doktrin es stillschweigend getan hat. Es geht uns hier nicht um den Buchstaben des Evangeliums sondern um eine Frage von größter theoretischer und praktischer Bedeutung. Wenn unser Ziel der sozialistische Mensch ist, dann ist unsere Konzeption dieses sozialistischen Menschen wesentlich für unser theoretisches Denken, für das moralisch-politische Klima der Arbeiterbewegung und für unsere eigene Fähigkeit oder Unfähigkeit, unsere Arbeiterklasse zu inspirieren.

Der sozialistische Mensch wurde von Marx und seinen Schülern – vor Stalin – als frei assoziierter Produzent gesehen, der selbst auf der sogenannten unteren Stufe des Kommunismus in einer rational geplanten Wirtschaft arbeitet, nicht länger mehr der Käufer oder Verkäufer ist, der seine Produkte auf dem Markt handelt, sondern Produzent von Gütern für die Gesamtgesellschaft, der das, was er zu persönlichem Verbrauch benötigt, aus dem gemeinsamen Vorrat der Gesellschaft erhält. Per definitionem lebt der sozialistische Mensch in einer klassenlosen Gesellschaft ohne Staat, frei von sozialer oder politischer Unterdrückung, auch wenn er anfänglich noch eine – allmählich schwindende – Last ererbter sozialer Ungleichheit zu tragen hat. Die Gesellschaft, in der er leben kann, muß so weit entwickelt sein, so wohlhabend, gebildet und zivilisiert sein, daß es kein objektivesBedürfnis, keine Notwendigkeit gibt, die zum Wiederaufleben von Ungleichheit oder Unterdrückung führen.
Das hielten alle Marxisten vor Stalin für selbstverständlich. Dies Ideal inspirierte Generationen von Sozialisten, ohne es hätte der Sozialismus als geschichtsmächtige Kraft des Jahrhunderts nie das Licht der Welt erblickt. Der Marxismus hat den realistischen Charakter dieses Ideals demonstriert; er zeigte, daß die gesamte Entwicklung der modernen Gesellschaft mit ihrer Technologie, Industrie und dem zunehmend vergesellschafteten Produktionsprozeß auf dies Ziel hintendiert. Der sozialistische Mensch aber, den Stalin und seine Nachfolger der Welt präsentierten, ist eine klägliche Parodie auf die marxistische Konzeption. Es ist richtig: der sowjetische Bürger lebt in einer Gesellschaft, wo der Staat und nicht die Kapitalisten die Produktionsmittel besitzt, und das spiegelt sich bereits in einigen fortschrittlichen Zügen seiner Mentalität. Selbst die zurückgebliebensten sowjetischen Arbeiter halten das öffentliche Eigentum an den Produktionsmitteln für selbstverständlich. Der private Besitz einer Fabrik oder eines Bergwerks erscheint ihm als empörendes Relikt aus barbarischer Vergangenheit. Er schaudert beim bloßen Gedanken daran. Er blickt darauf zurück wie der durchschnittliche Mensch der bürgerlichen Gesellschaft auf die Sklaverei – ein gesellschaftliches Verhältnis, das den Menschen erniedrigt. Aber diese fortschrittlichen Züge in der Einstellung des sowjetischen Menschen sind nicht die vor-
herrschenden Züge seines Sozialcharakters.
Die sowjetische Gesellschaft litt und leidet noch unter materieller Knappheit, in erster Linie an extremer Konsumgüterknappheit. Das führte im Laufe von Jahrzehnten zu einem unvermeidlichen Wiederaufleben und zur Verstärkung der sozialen Ungleichheit, zu einer tiefen Kluft zwischen einer privilegierten Minderheit und einer beraubten Mehrheit, zum spontanen Wiedererstehen der ökonomischen Kräfte des Markts und zur Erneuerung und zu furchterregendem Anwachsen der Unterdrückungsfunktionen des Staates. Der sozialistische Mensch, den Stalin der Welt präsentierte, war der hungrige, schlechtgekleidete, schlecht beschuhte oder barfüßige Arbeiter, der Bauer, der auf dem schwarzen oder grauen Markt ein Hemd, ein Möbelstück, ein paar Unzen Mehl oder auch nur ein Stück Brot kaufte oder verkaufte; der täglich zehn oder zwölf Stunden unter einer kasernenähnlichen Fabrikdisziplin arbeitete und manchmal für irgendein wirkliches oder vorgebliches Vergehen mit jahrelanger Zwangsarbeit im Konzentrationslager zahlen mußte. Er wagte nicht, einen Fabrikdirektor zu kritisieren, schon gar nicht einen Parteiboß. Er hatte nicht das Recht, irgendeine Meinung zu einem größeren Problem zu äußern, das sein oder seines Landes Schicksal betraf. Er hatte zu wählen, wie man es ihm befahl, dem Führer mit frenetischem Beifall zu applaudieren, seine Würde und Persönlichkeit durch den sogenannten Personenkult verhöhnen zu lassen. Das sind die Tatsachen, die gegenwärtig offiziell von den sowjetischen Führern beschrieben werden und sich in einer umfangreichen sowjetischen Literatur von größter Authenzität widerspiegeln. Und obwohl sich die Bedingungen in den vergangenen Jahren sehr verändert haben, sind Armut, Ungleichheit, Mangel an politischer und intellektueller Freiheit und der bürokratische Terror noch immer vorhanden.

Ich rufe all das nicht aus polemischen Gründen ins Gedächtnis zurück, schon weil ich die Hauptursache für diese Zustände nicht im bösen Willen der Herrschenden sehe – an dem es freilich nicht gefehlt hat –, sondern in den objektiven Bedingungen, in der überkommenen schrecklichen Armut, die die Sowjetunion (und jetzt China) unter den Bedingungen der Isolation, der Blockaden, Kriege und des Wettrüstens zu überwinden hatte. Es stand überhaupt nicht zur Debatte, daß ein Land wie dieses unter diesen Bedingungen fähig sein könne, den Sozialismus zu erreichen. Es mußte all seine Kräfte der »ursprünglichen Akkumulation« widmen, d.h. der Herstellung der wichtigsten ökonomischen Vorbedingungen unter Staatseigentum für den Aufbau eines wirklichen Sozialismus. Folglich ist die Sowjetunion auch heute noch eine Übergangsgesellschaft, irgendwo zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die Merkmale der einen wie der andern Gesellschaft kombiniert und sogar noch Spuren ihres noch primitiveren vorkapitalistischen Erbes zeigt. Das gleiche gilt leider auch für China, Vietnam, Nordkorea und den größten Teil Osteuropas.
Wir im Westen tragen eine schwere Verantwortung für die schlechte Lage dieser Gesellschaften; unser Versagen, den Sozialismus im Westen voranzutreiben, war die wesentliche Ursache ihres Mißlingens. Aber wenn wir unsere Aufgabe neu überdenken, um eine neue Generation von Sozialisten instand zu setzen, den Kampf aufzunehmen, müssen wir unsere Vorstellungswelt gründlich von den falschen Vorstellungen und Mythen über den Sozialismus befreien, die in den letzten Jahrzehnten aufgekommen sind. Wir müssen den Sozialismus ein für alle Mal nicht von der Sowjetunion oder China und ihren fortschrittlichen sozialen Errungenschaften, sondern von der stalinistischen und nachstalinistischen Parodie auf den sozialistischen Menschen ablösen.
Ich kann hier nicht auf die dogmatischen und Prestige-Motive eingehen, die Stalin und seinesgleichen zu der Behauptung veranlaßten, die Sowjetunion habe den Sozialismus erreicht, und die noch seine Nachfolger zur Aufrechterhaltung dieser Legende drängen. Ich will nur von dem Einfluß sprechen, den dieses Dogma, diese Prahlerei auf den westlichen Sozialismus hatte. Dieser Einfluß war verheerend. Er hat unsere Arbeiterbewegung demoralisiert und das sozialistische Denken verwirrt. Unsere arbeitenden Klassen haben mit der ihnen eigenen Klugheit die Entwicklung in der Sowjetunion beobachtet und ihre
eigenen Schlußfolgerungen daraus gezogen. »Wenn das das Ideal des sozialistischen Menschen ist«, sagten sie am Ende, »dann wollen wir nichts damit zu tun haben«. Viele unserer sozialistischen Intellektuellen reagierten ebenso oder sie wurden von der stalinistischen Mythologie und Scholastik dermaßen eingefangen, daß ihnen die Kraft ihrer sozialistischen Überzeugung verlorenging und sie sich selbst geistig soweit entwaffneten, daß sie unfähig wurden, gegen die Enttäuschung und Apathie der arbeitenden Klassen zu kämpfen.
Von den Jesuiten hat man gesagt, sie hätten, weil es ihnen nicht gelang, die Erde zum Himmel zu erheben, den Himmel auf die Erde heruntergezogen. In ähnlicher Weise haben Stalin und der Stalinismus, unfähig, das mit Armut geschlagene, elende Rußland zum Sozialismus zu führen, den Sozialismus auf das Niveau des russischen Elends heruntergebracht. Man könnte sagen, daß sie es tun mußten. Selbst wenn das stimmte, müssen wir etwas anderes tun: wir müssen den Sozialismus auf sein eigenes Niveau zurückbringen.
Wir müssen unseren arbeitenden Klassen und den Intellektuellen erklären, warum die Sowjetunion und China den sozialistischen Menschen nicht schaffen konnten, trotz ihrer bemerkenswerten Errungenschaften, für die wir ihnen Anerkennung und Respekt schulden. Wir müssen der Idee des sozialistischen Menschen ihre Aura wiedergeben. Wir müssen sie zuerst für unser Bewußtsein wiederherstellen und dann sozialistisches Bewußtsein und sozialistische Theorie mit gestärkter Überzeugung und mit neuen politischen Waffen in die Arbeiterklasse hineintragen.

[Nach dem Vortrag von Deutscher wurde ein Brief von Herbert Marcuse verlesen. Dann sprachen die Referenten Robert S. Cohen, Shane Nage, Donald McKelvey und Robert P. Wolff. Es folgten Fragen und Kommentare aus dem Publikum. Isaak Deutscher hatte das Schlußwort.]

Ich bin noch dabei, die schmerzliche Überraschung, die mir der erste Teil der Diskussion bereitet hat, zu überwinden. Man lernt selbst in meinem Alter noch dazu, man lernt nie aus. Ich bin den beiden letzten Sprechern dankbar, die mein Gefühl für Realität wieder einigermaßen hergestellt haben. Ob ich mit ihnen übereinstimme oder nicht, wir können darüber diskutieren. Dennoch glaube ich, daß ich vor allem auf die Redner des ersten Teils der Diskussion eingehen muß, da ich hier ein beunruhigendes Symptom jenes schöpferischen intellektuellen Ferments sehe, das die Köpfe der amerikanischen Intelligenz, der jungen Generation der amerikanischen Wissenschaftler erfüllt. Es gibt davon seltsame Nebenprodukte, die mir wirklich außerordentlich gefährlich erscheinen. Ich bin fast verdutzt über die Thesen Professor Marcuses. Da die ersten Redner eine Art von unterstützendem Chorus für ihren abwesenden Lehrer bildeten, muß ich mich leider auf Professor Marcuses Erklärung konzentrieren. Er bringt drei oder vier bedeutende Gesichtspunkte, aber in so vager und schwer zu fassender Art, daß die Diskussion ziemlich erschwert wird. Zunächst einmal stellt er fest, daß wir Marx und dem Marxismus weit
voraus sind, daß unsere fortgeschrittene westliche Gesellschaft den Marxismus überflüs-sig gemacht hat, und daß wir folglich über den Marxismus irgendwie hinausgehen müssen. Ich bin immer geneigt, ja zu sagen, wenn mir jemand sagt, der Marxismus sei sicher nicht das letzte Wort in der Entwicklung des menschlichen Denkens und wir müßten über den Marxismus hinausgehen. Das ist ein sehr marxistisches Argument gegen den Marxismus, und ich bin geneigt, ihm zuzustimmen. Aber man muß auch einen Augenblick darüber nachdenken, in welcher Beziehung der Marxismus wirklich so überholt ist und wohin wir über ihn hinausgehen sollen.
Zuerst muß ich die Frage stellen, ob der Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft, wie ihn der Marxismus analysiert und diagnostiziert hat — der Widerspruch zwischen dem vergesellschafteten Produktionsprozeß und der unsozialen Kontrolle der Produktion durch private Eigentümer — überwunden worden ist. Wird er nicht immer tiefer und irrationaler mit jedem Jahrzehnt? Man sagt uns, die fortgeschrittene amerikanische Gesellschaft habe die marxistische Analyse des Kapitalismus veralten lassen. Trifft das wirklich für diese Gesellschaft zu, die ihr Gleichgewicht und ihre Produktion nur durch beinahe permanente Kriegführung aufrechterhält? Ich verstehe einfach die logischen oder auch unlogischen Denkprozesse nicht, vermöge deren man zu solchen Schlüssen kommen kann. Man sagt uns, eine Diagnose, die auf der Basis der Technologie von 1867 gestellt wurde, könne man 1966 nicht aufrechterhalten. Darum hätten wir den Marxismus weit hinter uns gelassen. Mein Argument dagegen ist, daß Marx geistig seiner Zeit und der Gesellschaft, in der er lebte, soweit voraus war, daß wir selbst heute noch in gewisser Beziehung hinter ihm herhinken. Man braucht nur unserer Debatte zuzuhören, um einen Beleg dafür zu haben.
Marx hat tatsächlich vor 100 Jahren für den Sozialismus eine technologisch weit entwickelte Gesellschaft vorausgesetzt, die imstande wäre, einen solchen Überfluß von Gütern zu produzieren, daß für sein Jahrhundert selbst die Vision einer solchen Gesellschaft utopisch war. Analysierte man die Statistiken der ProKopf-Produktion in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts, so käme man zu dem Schluß, daß — sofern die sozialistische Revolution damals gesiegt hätte — sie (nach unserm heutigen Standard) in einem unterentwickelten Land gesiegt hätte. Das kann man Marx vorwerfen, daß er intellektuell seiner Zeit so weit voraus war, daß wir ihn noch immer nicht eingeholt haben.
Man sagt, Marx habe keine Gesellschaft vorhergesehen, in der Kybernetik, Maschinen und Computer in solchem Maße die Arbeit von Menschen ersetzen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Marx habe keine Gesellschaft vorhergesehen, in der die Wissenschaftler, die führenden Wissenschaftler so bedeutend sein würden. Aber Marx nahm im Gegenteil immer an, daß seine Gesellschaft bereits im Begriff sei, eine solche Gesellschaft zu werden, und darin hatte er recht. Es ist richtig, daß eine vor 100 Jahren formulierte Theorie in mancher Hinsicht veraltet sein muß, obwohl diejenigen, die das sagen, am Ende meist — sofern sie uns nicht gerade Drogen zur »Befreiung« von der Unterdrückung dieser Gesellschaft empfehlen — für eine Rückkehr zu vormarxistischen Ideen plädieren, manchmal für eine Rückkehr zum Christentum, das 2000 Jahre älter ist als der Marxismus.
Wenn wir es mit sehr gebildeten und aufgeklärten Kritikern des Marxismus zu tun haben, bieten sie uns häufig eine Rückkehr, eine Regression — aber keine infantile — zum utopischen Sozialismus oder zum Rationalismus des 18. Jahrhunderts an. Aber es gibt bestimmte Revolutionen im menschlichen Denken, die nicht rückgängig zu machen sind. Niemand kann zum vor-kopernikanischen System der Kosmologie zurückkehren, nachdem die Entwicklung des menschlichen Denkens von Kopernikus zu Einstein geführt hat; aber dazu brauchte es 250 Jahre.
Ich glaube nicht, daß die allgemeine marxistische Kritik am kapitalistischen System obsolet werden kann, solange wir dies System — wie immer weiterentwickelt — haben. Unser Überdruß an einigen bekannten Formeln und Binsenwahrheiten des Marxismus läßt sie nicht falsch oder nutzlos werden. Einige Leute glauben, man müsse nur auf den jungen Marx zurückgreifen, seine frühesten und sogar seine unreifen Gedanken über »Verdinglichung« und Entfremdung in und außerhalb ihres Zusammenhangs zu deklamieren, sie in Zirkeln zu wiederholen, um die Probleme unseres Zeitalters zu lösen. Aber sie gehen nicht über den Marxismus hinaus, sondern vom reifen zum unreifen, jugendlichen Marx zurück. Aber selbst der junge Marx war ein reifer Denker im Vergleich zu jenen, die jetzt, wie es ein Sprecher formulierte, eine Tendenz zur infantilen Regression zur Schau stellen. Ich sehe nur eine wichtige marxistische Prognose, die durch die reale Entwicklung bisher in gewissem Maße widerlegt worden ist: Der Sozialismus hat bisher nicht in einer der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften gesiegt, sondern in den zurückgebliebenen, wo eine feudale Struktur unter dem Einfluß des Kapitalismus zusammenbrach und wo feudal-kapitalistische Systeme unter dem Druck primitiver bürgerlicher und sozialistischer Revolutionen zusammenbrachen.

Als Erbschaft dieser geschichtlichen Entwicklung, die sich wirklich von der marxistischen Prognose unterscheidet, haben wir heute die mächtige Diskrepanz, die Kluft zwischen Ost und West, eine Kluft, die unglücklicherweise dazu tendiert, sich zum Schaden von Ost und West zu perpetuieren. Für Marxisten und Sozialisten, hier und anderswo, liegt das große Problem unseres Zeitalters, das Problem der Bewegung auf unser Ziel — den sozialistischen Menschen, eine sozialistische Gesellschaft — hin darin, wie diese Kluft zwischen den auseinanderweisenden geschichtlichen Wegen, die Ost und West eingeschlagen haben, sich überwinden läßt. Das ist das wirkliche Problem, vor der man sich nicht zu irgendwelchen Utopien der »befreienden« Drogen flüchten kann.
Ich wünschte, ich könnte die Begeisterung des Genossen auf der rechten Seite des Saales teilen, weil ich den großen revolutionären Idealismus und die internationale Bedeutung bestimmter revolutionärer Neuerungen, die die Chinesen vorgenommen haben, sehe. Unglücklicherweise wird uns solche souveräne, idealistische Verachtung der Realität der materiellen Lage Chinas nichts nützen, die Mißachtung der industriellen und kulturellen Rückständigkeit einer Gesellschaft, die den Heroismus aufbrachte, inmitten von Armut und Rückständigkeit eine sozialistische Revolution zu machen. Diese Bedingungen üben unglücklicherweise ihren Einfluß auf die Politik der chinesischen Regierung aus und bringen die Roten Garden dazu, nicht nur Rußlands sogenannten »Revisionismus« sondern auch Beethoven und Shakespeare als nutzlosen Unsinn einer degenerierten Bourgeois-Kultur zu verwerfen. Das kann ich nicht als Sozialismus anerkennen. Ich kann es nicht als eine befreiende Erfahrung akzeptieren. Ich kann auch den Mao-Kult um nichts besser als den Stalin-Kult finden, obwohl er in manchem entschuldbarer ist.

All diese Entwicklungen vertiefen die tragische Kluft zwischen den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften des Westens und ihrer Arbeiterklassen auf der einen und den nachkapitalistischen revolutionären Gesellschaften des Ostens auf der andern Seite. Es fällt einem dabei das historische Beispiel des Abgrunds ein, der sich während der Religionskriege zwischen katholischen und protestantischen Ländern auftat. Auch der Protestantismus begann als eine Befreiungsbewegung, als Protest gegen die Unterdrückung durch die katholische Kirche. Dann aber entwickelte auch der Protestantismus im Laufe der Auseinandersetzung seine unterdrückenden Züge. Nach Jahrzehnten und Jahrhunderten des Kampfes stabilisierte sich die Situation, und die Trennungslinie zwischen katholischen und protestantischen Ländern war nicht mehr auszulöschen. Die historische Koexistenz zweier rivalisierender religiöser Bekenntnisse, hinter denen mächtige soziale Bewegungen standen, war eine Tatsache geworden. Etwas ähnliches hat sich zu unseren Lebzeiten ereignet: wir sind Zeugen der aktuellen Koexistenz — einer antagonistischen, feindlichen Koexistenz — zweier relativ stabiler Systeme geworden: des westlichen kapitalistisch-imperialistischen Systems und des nachkapitalistisch halbsozialistischen des Ostens. Ich denke aber, daß diese historische Analogie wenigstens in einem Punkt irreführend ist. Protestantismus und Katholizismus konnten auf lange Sicht koexistieren. Die Welt der Zeit nach den Religionskriegen, des 17. und 18. Jahrhunderts, war noch nicht eine Welt, noch nicht durch Technologie und Industrie geeint. Es war eine in viele Einheiten junger Nationalstaaten feudaler und halbfeudaler Fürstentümer fragmentierte Welt.
Die Welt von heute ist nach Möglichkeit und Wirklichkeit eine Welt; die Entwicklung der Produktivkräfte läßt die Menschheit zu einer unlösbaren Einheit werden, die nach Integration verlangt. Entweder wird die Menschheit sozialistisch integriert oder sie wird unterge-hen. Daher ist eine Stabilisierung der Trennungslinien, wie sie nach den Religionskriegen bestand, heute unmöglich geworden. Die Welt wird und muß eine werden. Und nur der Sozialismus kann sie einigen. Der Kapitalismus kann sie nur auseinanderreißen und ins Verderben führen. Aber die Frage ist: welcher Weg führt zu dieser Vereinigung der Welt?

Marx sprach von der Geschichte der Menschheit als einer Geschichte von Klassenkämpfen. Aber es war natürlich nicht so, daß der Klassenkampf in der gesamten Geschichte, in allen Jahrhunderten und in der ganzen Welt mit gleicher Intensität ausgetragen wurde. Wie wir wissen, ist der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus eine Sache vieler Generationen. Ich fühle mich dadurch, daß sich der Klassenkampf in unserer westlichen Gesellschaft auf so niedriger Ebene abgespielt hat, nicht so entmutigt, daß ich die marxistische Analyse und Prognose aufgebe. Es ist natürlich wahr, daß unsere arbeitenden Klassen, vor allem die älteren Jahrgänge, sich von den verführerischen Vorteilen unseres sogenannten Wohlfahrtsstaates haben verwirren, demoralisieren und korrumpieren lassen. Aber ich denke, daß das Problem, das der späte C. W. Mills stellte, wer Triebkraft des Sozialismus ist, die Arbeiterklasse oder intellektuelle Eliten, besonders in Amerika eine gründliche Diskussion und gründliche Analyse verlangt, da es sich nirgendwo mit gleicher Schärfe stellt.
Vor 60 Jahren sagte ein großer russischer Marxist, Leo Trotzki, Westeuropa habe seine beiden Hauptprodukte in verschiedener Richtung exportiert: seine fortgeschrittenste Theorie, den Marxismus, nach Rußland, seine fortgeschrittenste Technologie in die Vereinigten Staaten. Aber das Rußland, das den Marxismus als Import aus Westeuropa erhielt, war technisch und industriell zurückgeblieben, die rückständigste unter den großen europäischen Nationen. Die technisch so weit entwickelten Vereinigten Staaten sind leider im politischen Denken zurückgeblieben; sie sind bis heute — ich bedaure, das sagen zu müssen — ein im politischen Denken höchst unterentwickeltes Land geblieben. Ich glaube, daß die großen TeachIn-Bewegungen dieser beiden letzten Jahre und Versammlungen wie diese hier beweisen, daß die Vereinigten Staaten ansetzen zum Versuch, ihre Rückständigkeit in Fragen des gesellschaftstheoretischen und politischen Denkens abzuschütteln. Aber wie viel bleibt da noch abzuschütteln.

Ich halte es für eine große Schwäche dieser Bewegung, daß hier eine solche Konferenz abgehalten wird, ohne daß die Arbeiterklasse irgendein Interesse daran nimmt. Und Ihr solltet Euch nicht darüber beklagen — Ihr habt kein Recht dazu —,weil so viele von Euch amerikamischen Sozialisten (ich möchte nicht verallgemeinern) kein Interesse für Eure arbeitenden Klassen zeigen. Ich neige nicht dazu, Protestbewegungen, die in der Intelligentsia entstehen, abzuwerten. Ich denke immer daran, daß im 19. Jahrhundert die russische Intelligenz die entsetzliche Last des Kampfes gegen die russische Autokratie auf ihren schwachen Schultern trug, die ganze furchtbare Bürde der russischen Revolution. Im 19. Jahrhundert zerschmetterten sich Generationen von russischen Intellektuellen in heroischer Selbstaufopferung den Kopf an den Eisenwällen der russischen Autokratie und gingen unter. Aber sie opferten sich nicht umsonst. Sie arbeiteten für die Zukunft. Auch Ihr arbeitet für die Zukunft und für den sozialistischen Menschen. Die russische Intelligentsia des 19. Jahrhunderts war außerordentlich isoliert — die Bauernschaft reagierte nicht auf sie und die industrielle Arbeiterklasse war noch nicht entstanden. Da sie allein kämpften, entwickelten sie eine gewisse Selbstüberschätzung; das große Epos des revolutionären Kampfes im Rußland des 19. Jahrhunderts ist voll pathetischer, exzentrischer
Episoden, denn Intellektuelle, die keinen lebendigen Kontakt zu den arbeitenden Massen ihres Landes finden, neigen dazu, sich in exzentrischer Weise auf sich selbst zu konzentrieren und die fantastischsten Wundermittel für die Gesellschaft auszudenken.
Unsere Diskussion hat ähnliche Schwächen der Intellektuellen im heutigen Amerika enthüllt. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich von meinem Thema, dem sozialistischen Menschen, abgehe, aber wir müssen über den Menschen diskutieren, der dem sozialistischen Menschen den Weg bereiten muß, und das seid Ihr. Ich bin davon überzeugt — und das ist nicht dogmatische Glaubensangelegenheit, sondern Produkt der marxistischen Gesellschaftsanalyse —, daß Eure Arbeiterklasse die entscheidende Triebkraft des Sozialismus bleibt, so wie sich die russische Arbeiterklasse als entscheidende Triebfeder des Sozialismus erwiesen hat, nachdem Generationen von Intellektuellen allein gekämpft hatten.
Auch Ihr mögt allein kämpfen. Es hängt von Euch ab, wie lange. Vielleicht nur für ein paar Jahre, wenn Ihr einen Weg zu Eurer Arbeiterklasse findet. Oder jahrzehntelang, wenn Ihr versucht, die Arbeiterklasse zu ignorieren. Ihr werdet Euch die Köpfe an — der Himmel weiß wie vielen — eisernen Wällen einrennen, falls Ihr Eure Arbeiterklasse ignoriert. Denn jede Protest- und Oppositionsbewegung gegen die mächtigen kapitalistischen Oligarchien wird sich auf lange Sicht als ohnmächtig erweisen, sofern sie nicht den nationalen Produktionsapparat fest in die Hand bekommt.
Es ist richtig, daß Eure Wissenschaftler heute den Produktionsapparat des Landes viel fester im Griff haben als in irgendeiner früheren Generation. Aber — was immer über Kybernetik und die große Vision einer super-kybernetischen Zukunft gesagt wird — die große Masse der Produzenten in dieser Gesellschaft stellen noch immer die Arbeiter. Und ich glaube nicht, daß sie viel mehr Grund haben, mit dieser Gesellschaft, mit ihrer entfremdeten Lebenssituation zufrieden zu sein, als die Intelligentsia, als Ihr jungen amerikanischen Sozialisten. Habt Ihr wirklich eine so geringe Meinung von Eurer Arbeiterklasse, daß Ihr meint, nur Ihr wäret sensibel und vornehm genug, mit dieser entwürdigenden Gesellschaft unzufrieden zu sein? Glaubt Ihr nicht, daß auch sie von sich aus Unzufriedenheit entwickeln können? Glaubt Ihr wirklich, sie sei von Natur her so viel leichter korrumpierbar durch die lockenden Vorteile dieses Kriegskapitalismus als Ihr?

Ich weiß, daß die älteren Altersgruppen der amerikanischen Arbeiterklasse fast völlig korrumpiert sind. Sie vergleichen ihre jetzige Lage mit dem, was sie in den dreißiger Jahren erlebt haben. Aber der Kopf des jungen amerikanischen Arbeiters ist sicher nicht durch die Tatsache verdreht, daß im elterlichen Hause ein Fernsehgerät steht und daß er sich ein Auto leisten kann. Er hält diese Dinge für selbstverständlich. Sie sind Teil des Lebensstandards, den er beim Erwachsenwerden vorfindet. Dadurch wird er sicherlich nicht korrumpiert, und er hat genug Verstand, um unzufrieden zu sein. Ich bin sicher, daß hinter seiner äußerlichen politischen Apathie viele Schichten von Zweifel und Unzufriedenheit liegen und ein Gefühl dafür, daß er seinen Lebensunterhalt durch Arbeit für Krieg und Tod verdienen muß. Könnt Ihr nicht mit diesem jungen Arbeiter sprechen und ihm sagen, daß man nur leben kann, wenn man für das Leben und nicht für den Tod arbeitet? Ist es unter der Würde amerikanischer Studenten, so etwas zu versuchen? Professor Marcuse sagt uns, daß wir auf die Arbeiterklasse nicht mehr rechnen können, aber er sagt uns nicht, auf wen wir zählen sollen. Er meint, wir sollten auf die jungen Leute zählen, die ihr Unbehagen an den sexuellen Konventionen dieser Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Natürlich sollten wir auch auf sie zählen. Schließlich hat Engels über die Ursprünge der Familie geschrieben und dargelegt, daß die Familie als Institution nur zu einer Fase oder zu bestimmten Fasen der gesellschaftlichen Entwicklung gehört; und er beschrieb die Konventionen der bürgerlichen Moral, die um die Familie herum aufgebaut worden sind. Wir sollten diese Unzufriedenheit mit der Familie und den sexuellen Konventionen bei der jungen Generation nicht ignorieren, aber manchmal habe ich den Eindruck, daß solche alten, verehrungswürdigen Lehrer wie Professor Marcuse sich einen Spaß mit uns erlauben, sich einfach auf unsere Kosten amüsieren. Zuerst sagt er, der Marxismus sei nicht utopisch genug gewesen; dann fährt er fort und sagt, die gegenwärtige Entwicklung zeige, daß die Vorstellung einer sozialistischen Revolution in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften unrealistisch und
veraltet sei, ebenso wie die Idee einer schrittweisen Umformung des Kapitalismus zum Sozialismus. Ziehen wir Bilanz: Revolution und Reformismus sind veraltete Ideen. Also gibt es keinen Weg vom Kapitalismus zum Sozialismus, weder den revolutionären noch den reformistischen. Warum soll man dann überhaupt über Sozialismus reden? Professor Marcuse sagt uns, daß der Sozialismus utopisch war und daß er nicht genug utopisch war. Wie kann ein alter und geachteter Lehrer soviel Unlogisches von sich geben und mit so unverantwortlich vagen Allgemeinheiten herumspielen. Diese Diskussion war für mich in vieler Hinsicht eine traurige Erfahrung. Aber ich bleibe ein unverbesserlicher Optimist. Ich halte das für die Gestehungskosten eines schöpferischen intellektuellen Ferments. Ich wünsche Euch Klarheit und Ehrlichkeit im Denken und wünschte, Ihr würdet Euch auf das Wesentliche konzentrieren, statt Euch durch zirkusartige Unternehmungen abzulenken, die mit ernsthaftem politischen Denken nichts zu tun haben.
Ihr könnt der Politik nicht entfliehen. Menschen leben nicht von der Politik allein, das ist wahr. Aber wenn Ihr nicht die großen Probleme löst, die der Marxismus, die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, die Beziehungen zwischen Intellektuellen und Arbeitern in dieser Gesellschaft stellen, wenn Ihr nicht einen Weg zur jungen Generation der amerikanischen Arbeiterklasse findet und den schlafenden Riesen der amerikanischen Arbeiterklasse aufweckt, ihn seinem Schlaf und seinem Opium entreißt, seid Ihr verloren. Eure einzige Rettung ist es, die Idee des Sozialismus wieder in die Arbeiterklasse hineinzutragen, und dann gemeinsam mit der Arbeiterklasse die kapitalistischen Bastionen zu stürmen. —

bluete

literatur-baudelaire

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Charles-Pierre Baudelaire
 

Charles-Pierre Baudelaire (1821-1867): »Eine der Nachteile des Haschisch besteht darin, daß es eine antisoziale Wirkung hat, wohingegen der Wein tief menschlich ist, ich wage fast zu sagen, er ist wie ein Mann der Tat. … Wein steigert die Willenskraft, Haschisch zerstört sie. Wein ist eine Hilfe für den Körper; Haschisch ist eine Waffe zum Selbstmord. Wein ist gut und gesellig; Haschisch isoliert.« (März 1851)
Näheres über Baudelaire in »Baudelaire 1848 – Gedichte der Revolution«; herausgegeben und kommentiert von Oskar Sahlberg, Wagenbach Verlag, 1977) —

bluete

journalismus heute

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Journalismus heute eine Säule des Staates:
Der Erfolg der Nation ist unser Anliegen und unser Maßstab!

 

Die deutschen Massenmedien zeichnen sich durch eine perfekte Mischung von Fakten mit den Grundlagen der deutschen Staatsinteressen und der daran geknüpften Staatsräson aus. Und zwar so: Einerseits besteht ja ihre Hauptfunktion darin, die Staatsräson mit Fakten anzureichern. Das erklärt die entsprechende Auswahl dieser.
Andererseits werden, so man an unpäßlichen Fakten nicht vorbeikommt, diese entsprechend klassifiziert: Entweder werden sie als nicht »unabhängig« überprüfbar eingeordnet, oder sie werden dis- und abqualifiziert, als Feindpropaganda, als Verschwörungstheorie, als Absurdität; kurz, sie werden keiner weiteren Befassung oder gar Prüfung für wert erachtet.

Verschwörungstheorien, faschistische Tendenzen kein brisantes Thema, das nicht angesprochen wird: Doch wie? Der Grund interessiert überhaupt nicht! Wenn Klage darüber geführt wird, dann allein über etwaige Folgen und ansonsten hat es sein Bewenden. Es entsteht ein Schein völliger Grundlosigkeit, welcher aufgrund der Voreingenommenheit zwangsläufig zutage treten muß. Folgen sollen und dürfen solcherlei unerwünschte Tendenzen natürlich nicht zeitigen. Wobei ein Vorteil der Demokratie zum Tragen kommt: Solche sind in der Opposition und sind dazu verdammt, dort und unter Kontrolle zu bleiben. Und als eben solche beweisen sie die Toleranz der machthabenden Elite: Sie droht Widersachern einerseits Maßnahmen an, so jene es mit ihren Praktiken für den Geschmack der politischen Elite zu weit treiben, andrerseits lobt sie sich selber für die Lebendigkeit und unvergleichlichen Offenheit ihrer Demokratie, die solches erlaubt. Eine Wahlbeteiligung von Faschisten ist zugelassen, vorausgesetzt, daß sie dann brav die ihnen zugewiesenen Oppositionsbänke einnehmen und auf diese Weise Staatsform und herrschende Staatsräson bestätigen.

Das Wunderbare am etablierten Journalismus ist, daß er sich als »objektiv« geben kann, indem er die herrschende Staatsräson und die von ihr geschaffenen Verhältnisse als unumstößlich zu propagieren beliebt und gerade auf dieser Grundlage gleichzeitig total kritisch mit der Staatsräson und Unternehmungen anderer Staaten sowie mit anders gearteten Vorstellungen im eigenen Land umzugehen pflegt. Es liegt somit eine gezielte Verwechselung von Parteinahme mit Objektivität vor.

Innerstaatliche Kritik beschränkt sich seitens des Journalismus hauptsächlich auf die Personen, denen die Staatsräson und damit die Staatsgeschäfte obliegen: Erfüllen jene diese anspruchs- und verantwortungsvolle Aufgabe, den Staat in der Hierarchie der Staaten aufsteigen zu lassen oder versagen sie darin. In dieser Hinsicht werden regelmäßig Wahlen und Wahlkämpfe zu einem Tages- und Titelthema, dem sich niemand verschließen können soll, so wenig einer auch ansonsten mit Politik befaßt ist.

Wie man sieht, ist Journalismus nur in einer Hinsicht schwer, nämlich das immer gleiche Thema erneut breit auszuwälzen und mit »Hintergrundberichten« aus dem alltäglichen Leben sowie mit Bonmots aus der Westentasche zu würzen. Unabdingbare Voraussetzung ist allerdings, die Staatsräson wie Muttermilch eingesogen zu haben, so daß es unmöglich ist, auch nur einen Augenblick an ihr irre zu werden. Der Blödsinn kann zum Himmel stinken, wenn er nur ins Weltbild so verantwortungsvoller Journalisten paßt.

Mittlerweile sind Zeiten angebrochen, in denen dem »freien Wort« das »agenda setting« etwas abhanden gekommen ist: Die feinen Propagandaagenturen sehen sich gezwungen, auf Fakten zu re-agieren, die vor allem andere Staaten setzen. Eine etwas ungewohnte Position sicherlich, aber kein Grund zum Zweifel oder gar zum Verzweifeln. Im Gegenteil: Jetzt ist Härte gefragt, standhalten, die politischen Instanzen zu eben dieser Unnachgiebigkeit aufzufordern, deren Inkarnation sie selber als 4. Macht im Staate sind. Die Affronts insbesondere gegenüber Rußland, China und dem Iran zeugen davon. Im Falle Rußland ließ nach jahrelanger Vorarbeit endlich ein Stellvertreterkrieg als unumgänglich lancieren, so als hätten Politik und Journaille aus dem 3. Reich gelernt, daß man nicht alles selber machen muß, was andere für einen erledigen können. Was ja auch den Vorteil hat, daß das eigene Land als quasi unbeteiligt nicht bombardiert wird. Natürlich verlangt eine solche Aktion jede Menge Propagandaarbeit. Hat der damalige Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, in seiner geschichtsträchtigen Rede vom 18.02.1943, in der er die Zustimmung des Volkes zum totalen Krieg einforderte, hat eben dieser damals vom »Angriffskrieg der Bolschewisten« gesprochen — und damit (soweit bekannt) erstmals den Begriff Angriffskrieg in die Welt gesetzt —, so spricht man auch heute wieder von einem Angriffskrieg, dem der Russen selbstredend. Diese Sprachregelung wurde landesweit ganz freiwillig zur Rechtfertigung eines Krieges durchgesetzt. Wie hätten Hitler, Heß, Himmler und ihre Horden sich gefreut, könnten sie sehen, wie ihr antirussisches Feindbild nach wie vor so tief in den deutschen Eliten verankert ist – noch dazu ganz ohne sozialistische Verschleierung des »slawischen Untermenschentums«!

Der Dreh der Propganda dabei hat System: Man abstrahiert ein Ereignis eines Zeitpunkts von all seiner Vorgeschichte und seinen zugrundeliegenden Interessen. Anders sind moralische, rechtfertigende Urteile, Verurteilungen ja schwerlich zu haben. Das gilt für den 7. Oktober 2023 wie für den 24. Februar 2022 wie viele frühere.

Der demokratische Journalismus kann also ganz unbekümmert den staatlichen Ansprüchen Genüge tun. Die Einteilung der Welt in Gut & Böse ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wobei »Wir« natürlich immer die Guten sind und das Gute wollen, während die anderen »uns« aufgrund ihrer Natur oft nichts als Schwierigkeiten machen, wenn sie nicht kapieren wollen, was »wir« von ihnen wollen und welchen Platz in »unserer« Welt »wir« ihnen zugewiesen haben. So werden die anderen Staaten eingeteilt: Einerseits in mehr oder weniger nützliche Vasallenstaaten, bei denen es erwiesenermaßen unerheblich ist, ob sie eine demokratische Staatsform aufweisen oder nicht. Auf der anderen Seite Staaten, die sich mit eigenen Interessen uns widersetzen, wobei sie noch so demokratisch sein können, wie sie wollen, es nützt ihnen gar nichts, sie gelten von vorneherein als Diktatur. In jenen Staaten wird dann nach »unseren« Leuten gesucht, Führerpersönlichkeiten, denen man zutraut, eine »Revolution« zu vollbringen. Eine wahrlich anspruchsvolle Aufgabe, wie man an den wenigen Typen sieht, die dann »investigativ« gefunden werden: ein Nawalny, ein Guaidó und ähnliche, die man, kennt man deren Äußerungen, bestenfalls als Wirrköpfe bezeichnen kann. Bisweilen gelingt es den USA und ihrem Anhang, einen solchen als Staatschef auch zu etablieren wie zum Beispiel den Fernsehkomiker in Kiew.

Nunmehr stellt sich die Frage, für wen diese Sorte »Aufklärung« gedacht ist. Unterschiedslos für alle Klassen der Bevölkerung, wenngleich dosiert nach Verträglichkeit, da gibt es eben kurz gehaltene Nachrichten für die einfachen Massen und ausführlichere, mit »Hintergründen« beleuchtete für die besseren Schichten; mittlerweile werden Zeitungen gar in die Schulen getragen, damit die gewünschte Art Bildung vorankommt.
Unterschiedliche Formate von Zeitungen, Magazinen und Sendungen ergeben dann das, was nach allgemeiner Ansicht als »Meinungspluralismus« in hohen Ehren steht. Schwarz-rot-golden sind sie, so bunt sie sich geben, hierzulande alle. In dieser Hinsicht radikal trachten sie danach, sich gegenseitig in ihren Vorurteilen, Verurteilungen wie hoffnungsvollen Vorhersagen zu überbieten.

Der sich allenthalben ergebende interessierte Ausblick auf die zukünftige Entwicklung des umsorgten Staates inklusive seiner Wirtschaft ist so erfolgsorientiert wie daher auch radikal: Was für den Erfolg von Staat und seiner Wirtschaft getan werden muß, duldet weder Aufschub noch Widerrede, erfordert vielmehr eine total konstruktive Diskussion: Deshalb die schier endlosen Interviews und Talkshows mit Politikern und anderen Größen der Gesellschaft: Das ist sich die Meinungsbildner einfach schuldig.

Völlig klar dabei ist, wer die Kosten des anspruchsvollen Staatsprogramms zu tragen hat. Die arbeitende Klasse kommt daher nur sehr am Rande zu Wort und auch nur dann werden Leserbriefe abgedruckt, wenn sie einen konstruktiven Beitrag für die Debatte der maßgebenden Elite vorstellig machen, was selbstredend im Ermessen der Redaktionen liegt.

Die ständigen Anspruchssteller sind nicht die »kleinen Leute«, sondern stets die Vertreter des Kapitals. Die müssen keine Leserbriefe schreiben, um zu Wort zu kommen. Die werden in großen Artikeln und Interviews regelmäßig präsentiert als die, auf die es ankommt. Wenn es freilich um die nationalen Belange schlechthin geht, wenn die in ein Desaster zu geraten drohen (wie etwa im Falle des Vietnam-Krieges), dann muß auf das viel umworbene Investorengeschmeiß auch mal geschissen sein, wie es der Film von Steven Spielberg »Die Verlegerin« (2017) so schön vorführte. Allerdings ist die Washington Post seit 2013 in Besitz des Börsenlieblings Bezos, womit sie sicherlich nicht in ein solches Dilemma geraten wird. [Jener jeden national begeisterrten Demokraten schier zu Tränen rührende Film wurde übrigens völlig kritiklos von der staatsaffinen deutschen Presse — Springer, Spiegel, FAZ, WAZ, taz, Süddeutsche etc. — einhellig beklatscht.] Julian Assange und Edward Snowden hingegen wird eine staatsdienliche Rolle abgesprochen.

Die »kleinen Leute«, die Arbeiterklasse ist daran gewöhnt worden, alles zu schlucken, was ihr an Belastungen aufgebürdet wird. Die Medien werden in dieser Hinsicht ihrer Vermittlungsaufgabe gerecht. Bei allen für dringend notwendig erachteten Belastungen, sollen sie an die Nöte des Staates denken und die eigenen hintanstellen. Darüber hinaus sorgen die Meinungsmacher für die gute Stimmung und den Optimismus, der die Leute, die notgedrungen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen — und sei es auch als »Selbständige« ausgelagert an sich selber —, in der Tretmühle der Arbeit hält.

Noch was: Was hat den Staat getrieben, als er die »Pressefreiheit« in seiner Verfassung verankert hat? Vom heutigen Standpunkt aus, hätte er das sicher nicht tun müssen, wirft man einen Blick auf die Säule der Republik, die sich selber tagaus tagein gerade deshalb als »Qualitätspresse« lobt. Der Staat hätte noch nicht einmal zusätzlich staatliche Verlautbarungskanäle, sogenannte öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten einrichten müssen. Damals freilich, wenige Jahre nach Ende der faschistischen Herrschaft war eine solch positive Entwicklung nicht abzusehen. Im Gegenteil wurde nicht ohne Grund befürchtet, daß es einen Rückfall in ein erfolgloses Staatsprogramm geben könnte, denn zweifellos spukte Diesbezügliches noch in allzu vielen deutschen Köpfen herum. Heute entsprechen sich Pressefreiheit und Journalismus so, daß sie sich wechselseitig aufeinander berufen können. 

27.01.2024
Fragen, Kritik, Verbesserungsvorschläge an: info@koka-augsburg.com

bluete

literatur-jókai

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Mór Jókai
 

Der Ungar Mór Jókai (1825-1904) [in alten deutschsprachigen Ausgaben: Maurus oder auch Moritz Jökai] war ein unglaublicher Verfasser und das beileibige nicht nur quantitativ (über 300 Werke). Noch weit mehr muß die Recherchearbeit erstaunen, die er sich für den realtätsgetreuen Inhalt beziehungsweise Inhaltsteil seiner Geschichten gemacht haben muß. Wirklichkeitsnähe schließt Gesellschaftskritik ein, ja fordert sie geradezu heraus. Ein glänzendes Beispiel ist der Roman »Die Narren der Liebe« (1868). »…Ich will mich lediglich über gesellschaftliche Gruppen äußern, deren gleiches Empfinden über gemeinsame Ideen sie dazu drängt, sich vereint um denselben Tisch zu setzen, deren Glieder sich einander aufsuchen, ohne speziell gute Freunde, und miteinander in Streit geraten, ohne eigentliche Feinde zu sein; und so wird der gemeinsame Gegenstand des Anreizes wie des Kampfes zur Grundlage ihres täglichen Lebens, während die außerhalb Stehenden diese Art von Tätigkeit als nichtig belächeln« (S.9) Es handelt sich dabei um eine ganze Anzahl ungarischer Klubs. Der Klub »Die Narren der Liebe« ist ein solcher. Er lobt fünfjährlich einen Preis für eben einen außerordentlichen Narren der Liebe aus. Nach der gleichsam einleitenden Vorstellung zweier solcher Esel beginnt der eigentlich Roman, der anhand der Triebkraft der Liebe ein ebenso vielschichtiges wie detailliertes Bild der damaligen Verhältnisse in Ungarn aufzeichnet.
Doch keineswegs allein Ungarn selber ist für Jókai von Interesse. »Die letzten Tage der Janitscharen« beispielsweise beleuchtet die Herrschaft Ali Paschas über weite Teile Griechenlands unter der osmanischen Herrschaft. Den Aufstieg von Ali Pascha bis zu seinem schmählichen Ende in Ioannina hat Jókai glänzend recherchiert, unter anderem mithilfe der Augsburger Allgemeinen, was er mehrmals in Fußnoten belegt. Ja, damals, in den 1820er Jahren hatte diese Zeitung offenkundig noch etwas auf sich gehalten und war nicht wie heute ein purer deutscher Propagandafetzen. 
An der Revolution von 1848/49 hatte er sich begeistert beteiligt, wurde darob verhaftet und eingesperrt. Seine Frau Rosa Laborfalvi bestach die Wächter und konnte ihn so befreien. Danach verlegte es sich auf seinen literarischen Tätigkeiten, wiewohl er lange Zeit aufgrund seiner publizistischen Popularität Abgeordneter (auf der antikonservativen Seite versteht sich) war. Seine Literatur war ja nicht weniger politisch und  bahnte fruchtbaren Boden für die ungarische Räterepublik 1919 sicherlich mit.
Mit den historisch-politischen Romanen Jókais kann, so fesselnd sie geschrieben sind, das Interesse an den gesellschaftlichen Verhältnissen und damit, bezogen auf heute, an ihrer Kritik erwachsen.
Wie so gut wie jeder gesellschaftskritische Schriftsteller ist Jókai hierzulande nahezu unbekannt (beim deutschen Bildungsangebot nicht weiter verwunderlich). So hat der Corvina Verlag in Budapest (noch unter der realsozialistischen Regierung) selbst einige Übersetzungen ins Deutsche vorgenommen. Noch eine bemerkenswerte Sentenz: »Ich mißachte allen Luxus, mit Ausnahme der Muße für Kopfarbeit. Die Meisten lieben Luxus, weil sie ihres Hirns entbehren können.«

bluete

Antisemitismus Faschismus Zionismus

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Antisemitismus, Faschismus, Zionismus
Die Logik der Ausrottung
 

Zweifellos ist es so, daß nicht alle Juden Zionisten, Parteigänger des Staates Israel sind. Nur ist es so, daß all die Juden, die das nicht sind, von den Zionisten für sich vereinnahmt werden und nicht allein von diesen. Und das auch noch mit Berufung auf den Massenmord an Juden durch die deutschen Faschisten, der offiziell als Holocaust bezeichnet wird.
Auch die Chefideologen der neuen nationalen Bewegung, Adolf Hitler und Alfred Rosenberg, sahen in ihrer Anfang der 1920er Jahre entwickelten Verschwörungsideologie die Juden als zionistische Gesamtmasse. Allerdings hatte die NSDAP nach der Machtübernahme 1933 durchaus ihre Schwierigkeiten, ihre Judenfeindschaft umzusetzen. Das lag an der Exportabhängigkeit Deutschlands und den Boykottbewegungen gegen es insbesondere in den USA und Großbritannien. Zunächst hatte die NSDAP einen zionistischen Staat in Palästina in ihr Verschwörungsgebäude eingepaßt, indem sie dem Zionismus unterstellte, für sein Streben nach Weltherrschaft eine sichere Ausgangsbasis schaffen zu wollen. Sodann, ab 1933, sah man die Auswanderung der Juden ins britische Mandatsgebiet Palästina als gar nicht so übel an, was das Haavara-Abkommen bezeugt, welches zwischen dem Wirtschaftsministerium und der »Zionistischen Vereinigung für Deutschland« geschlossen wurde: Man hoffte, die Wirtschaftslage dadurch gewissermaßen entspannen zu können. Nun wurde der Staat zu seinem Verdruß auf diese Weise keineswegs genügend Juden los, viel zu sehr waren die Juden als deutsche Staatsbürger in Deutschland eingehaust. Und die Boykottbewegungen im Ausland wurde man auch nicht wirklich los. Das führte zu einer offensiven Radikalisierung in der NSDAP gegen die Juden, speziell ab 1937 (also nach den Olympischen Spielen in Berlin 1936): Die Parteibasis pochte auf die Ideologie des Parteiprogramms, für deren Umsetzung es nun Zeit geworden sei!
Das war sozusagen der Anfang der Massenabschlachtung von Juden in den Konzentrationslagern, wobei unter ihnen — aufgrund der antisemitischen Ideologie verständlicherweise — kein Unterschied gemacht wurde, ob jemand religiös, ungläubig (lediglich pro forma jüdisch) oder gar kommunistisch war. Allein nach Palästina auswanderungswillige Zionisten konnten Glück haben, dorthin zu gelangen und so dem sicheren Tod zu entrinnen.

Dazu ein Schritt zurück zur Erklärung des Antisemitismus, speziell in Deutschland. Vor dem Ersten Weltkrieg war dieser vergleichsweise nur latent vorhanden, meist vertreten durch christliche Kreise, die den Juden zur Last legten, ihren eigenen Messias, Jesus Christus, der römischen Herrschaft ausgeliefert und gekreuzigt haben zu lassen. Dieser religiöse Antisemitismus, bereichert durch den Neid auf die »Geldjuden« — zurückzuführen auf die Wuchergeschäfte, mit denen einige von ihnen sich unbeliebt machten —, wurde praktisch abgelöst durch einen ganz und gar politischen Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg. Deutsche Nationalisten suchten eine Erklärung für die Niederlage, die sie nicht fassen wollten. Ihre zwar reichlich absurde, aber schlagende Erklärung fanden sie in der Existenz der Juden: Diese hätten sich als Parasiten im deutschen Volkskörper bewegt und würden dies weiterhin tun. Selber unfähig, einen eigenen Staat zu bilden, wären sie voller Mißgunst auf andere Staaten und so würden sie ihnen zu schaden trachten. Auf der einen Seite seien sie die Führer des international agierenden Finanzkapitals, auf der anderen Seite die des ebenso international agierenden Bolschewismus — und genau so seien sie in einer Zangenbewegung zur Schädigung der nationalen Wirtschaft und somit zur jüdischen Weltherrschaft unterwegs.

Diese Kritik wurde von den meisten Juden und gerade den Intellektuellen unter ihnen entschieden zurückgewiesen. Schließlich wußten sich diese genau so gut als Deutsche wie alle Andersgläubigen, hatten sich sowohl an der militärischen wie der heimatlichen Front bewährt und waren gewollt, weiterhin Deutschland nützlich zu sein: Sie gaben ein bisweilen gar lautstarkes Bekenntnis dazu ab, weiterhin gute Deutsche sein zu wollen. Sie wollten sich nicht von der neu aufkommenden Hitlerbewegung ausgrenzen lassen.

Einige unter den Juden jedoch nahmen sich die Kritik der deutschen Faschisten zu Herzen und wollten jetzt erst recht den Beweis antreten, fähig zu sein, einen eigenen Staat zu gründen. Dies waren (und sind bis heute) die eigentlichen Zionisten. Und der Standpunkt dieser damaligen Minderheit unter den Juden wurde von den Faschisten honoriert. Solche Juden, die keine Parasiten im Volkskörper (mehr) sein wollten, waren der NSDAP, dann als sie die Macht hatte, allenthalben lieber als alle anderen. Freilich sollte die Auswanderung keinesfalls zur Gründung eines Judenstaats führen, welcher der NS-Ideologie zufolge als Ausgangsbasis für einen jüdische Weltherrschaft dienen würde. Möglicherweise ist diese Vorstellung auch bei heutigen Antisemiten präsent. Jedenfalls kamen aufgrund dieser NS-Doktrin andere Abschiebeoptionen in Betracht, unter anderem die abgelegene Insel Madagaskar, eine französische Kolonie. Geändert haben sich dann die Überlegungen im Zuge des Krieges. Mit den eroberten Gebieten insbesondere östlich Deutschlands hatten die Faschisten Zugriff auf dermaßen viele Juden, für die die Deportationsmöglichkeiten angesichts der Kriegsdringlichkeiten schlichtweg nicht vorhanden waren. Die Faschisten sahen sich veranlaßt, mit den verbliebenen Juden kurzen Prozeß zu machen und sie schnurstracks zu ermorden.

Es stellt sich die Frage, ob der Fortgang der Geschichte damals, in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts absehbar war. Ja, dafür gibt es einen schlagenden Beweis: »Das neue Ghetto« ist ein 1922 erschienener Roman von Arthur Zapp, dessen Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt wurden. In diesem Roman zeichnet er ein differenziertes Bild der Juden anhand einer jüdischen Familie. Der Alte hält noch an den jüdisch-religiösen Gebräuchen fest, während die Jungen der Religion sich entfremden, so wie man das auch von christlichen Familien kennt. Ein Sproß der Familie schloß sich der neuen zionistischen Bewegung an, die ernsthaft einen eigenen Staat gründen wollte, also ernst machen wollte mit Überlegungen, die unter Juden schon vor dem Krieg existierten. Jetzt aber sahen sich diese Zionisten durch die Hitlerbewegung berechtigt, ja genötigt, es zu tun. Ein anderer Sproß, ein Universitätsprofessor argumentiert beredt dagegen: Er kämpft gegen die immer stärker aufkommende Judenfeindschaft. Er malt aber auch das Desaster an die Wand, das mit dem Versuch der Gründung eines Staates Israel, welcher ohne Hilfe von — aus eigenen Gründen interessierten — anderen Staaten nicht möglich wäre, eintreten würde. Und er beschwört die Notwendigkeit aller Deutschen sowohl dem Faschismus wie dem sich auf ihm gründenden politischen Zionismus entschieden entgegenzutreten: »Ich habe schon gesagt: Der Zionist arbeitet unseren größten Feinden, den Antisemiten, in die Hände, denn er unterstreicht die Behauptung, daß kein Jude ein Deutscher sein kann. Ja, ich erachte den Zionismus für die Juden in Deutschland, überhaupt in Europa, für gefährlicher als den Antisemitismus. Die Antisemiten behaupten, die Juden können nicht Deutsche sein, die Zionisten aber wollen nicht Deutsche sein. ..« (S. 246)

Die Negation drohenden Unheils, das ja mit der Machtübernahme der NSDAP seinen Lauf nahm, vom Standpunkt eines besseren deutschen Nationalismus aus blieb nutzlos: Sowohl das Massaker an den Juden durch die Faschisten wie das Massaker der Zionisten an den ihrer Heimat beraubten Palästinensern, das mit der Gründung des Staates Israel seinen Lauf nahm, ist traurige Wirklichkeit geworden. Das liegt in dem (zivilen) Glauben an die jeweils eigene Nation begründet: Der Nationalismus kennt doch einen ziemlich fundamentalen Unterschied zwischen dem eigenen guten und einem anderen schlechten und er tendiert daher zur Bekämpfung des Schlechten, zur Radikalisierung, zur Gewalt. Daß dafür ein Gewaltmonopol von Nutzen ist, ja notwendig ist, steht außer Frage, das haben die Faschisten ebenso begriffen wie ihr Ableger, die Zionisten. Und ganz selbstverständlich verlangen die Palästinenser ihrerseits seit langem einen Staat, der ihnen gewaltsam vorenthalten wird und weswegen sie auch des Terrorismus bezichtigt werden.

Die öffentliche Meinung, die so sehr gegen den Antisemitismus auftritt, selber gar nicht begründen kann, wie sich Antisemitismus erklärt: Wie sonst wäre die Gleichsetzung aller Juden mit dem Zionismus möglich? Wie sonst wäre es möglich, sich der zionistischen Propaganda, die alle Juden für sich vereinnahmt — mit Verweis auf die deutsche NS-Ära — ein ums andere Mal anzuschließen und diese zu verstärken trachten?
Wer möchte bezweifeln, daß mit der Rechtfertigung der Massaker des Staates Israel an den Menschen im Völkergefängnis Gaza-Streifen [immer wieder, auch 2014 hat die Hamas übrigens vergeblich offene Grenzen gefordert], im von blutheischenden zionistischen »Siedlern« zerstückelten Westjordanland sowie in Ost-Jerusalem der deutsche Staat heute in der Tradition des Dritten Reiches steht? Beweist er das nicht dadurch, daß er es immer erneut für nötig erachtet, »Werte« zu heucheln. Müßte er nicht ansonsten ausrufen, »Gaza — das Auschwitz der Zionisten!«?

02.12.2023
Fragen und Kritik an info@koka-augsburg.com

Verwendete Literatur:
— Francis R. Nicosa: Hitler und der Zionismus – Das Dritte Reich und die Palästinafrage 1933-1939, Literatur-Report 2001

— Arthur Zapp: Das neue Ghetto, Alfred Streißler GmbH, Berlin-Nowawes, 1922
— GegenStandpunkt – Politische Vierteljahreszeitschrift, 3-2014, »Gaza-Krieg 2014«, S. 115ff
— GegenStandpunkt – Politische Vierteljahreszeitschrift, 1-2009, »Gaza-Krieg 2008«, S. 87ff
— Konrad Hecker: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, GegenStandpunkt-Verlag, 1996, S. 127ff

bluete

herbert marcuse interview

koka
 

Interview mit Herbert Marcuse 1968

aus: Pardon, 12/1968
 

PARDON: Herr Marcuse, Sie sind durch Ihre Bücher und Stellungnahmen einer der geistigen Väter der »Neuen Linken« geworden, für viele sogar der profilierteste, um nicht zu sagen der Profet. Fühlen Sie sich in Ihren Prognosen und Analysen durch die Mai-Unruhen dieses Jahres in Frankreich bestätigt?

MARCUSE: Ich habe seit 1964 auf die Bedeutung der Studentenbewegung hingewiesen und gesagt, daß nach meiner Meinung da viel mehr und ganz anderes vorliegt als ein Generationskonflikt, wie er aus der Tradition ja nur zu gut bekannt ist; daß hier wirklich politische Momente aktiviert werden, die gerade deswegen, weil sie in keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse aktiviert sind, gerade deswegen, weil eine wirklich organisierte Opposition auf der Linken fehlt, in der Studentenbewegung konzentriert sind. Ich habe außerdem darauf verwiesen, daß die Integration der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten am meisten fortgeschritten ist, während sie in Frankreich und Italien immer noch zu einem großen Teil aussteht. In dieser Beziehung also war ich nicht überrascht, daß gerade in Frankreich diese Studentenbewegung nun wirklich zu einer großen politischen Bewegung geführt hat. Vorausgesehen habe ich sie natürlich nicht, und ich glaube, es hat sie niemand vorausgesehen. Nicht einmal die Führer der Studentenbewegung konnten oder haben vorausgesehen, daß nach einer Woche 10 Millionen Arbeiter sich im Streik befinden würden.

PARDON: Welche Folgerung ziehen Sie aus der schließlichen Niederlage oder sagen wir Abwürgung dieser Bewegung, wie sie spätestens mit den Wahlen eintrat?

MARCUSE: Ich würde es nicht als Niederlage bezeichnen, und zwar deswegen nicht, weil der Stellenwert dieser Bewegung ungeheuer groß ist. Und ich möchte sogar behaupten, daß die Mai- und Juni-Tage einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der Opposition im Kapitalismus darstellen. Weil sie gezeigt haben, daß eine potentiell revolutionäre Bewegung auch außerhalb der Arbeiterschaft anfangen kann und die Arbeiterschaft, oder sagen wir mal sehr vorsichtig, einen Teil der Arbeiterschaft, dann mit sich zu ziehen vermag. Sie haben außerdem gezeigt, daß ganz neue Formen der Demonstration einen solchen weitgehenden Erfolg haben können.

Es war eine Niederlage in dem Sinne, daß sich diese Studentenbewegung nicht geradlinig fortgesetzt hat in eine Opposition der Arbeiterklasse: aber wir wissen ja, warum das nicht geschehen ist.

PARDON: Ja, wissen wir es wirklich? Hier in Korčula gab es ja gerade darüber einen Streit.

MARCUSE: Die Antwort, die natürlich immer gegeben wird, ist: die Kommunistische Partei und die kommunistischen Gewerkschaften hätten die Bewegung eben abgefangen, sobald sie sahen, daß sie sie nicht mehr kontrollieren konnten und sie wirklich zu großen politischen Veränderungen führen könnte; d. h. in dem Augenblick, wo wirklich nicht die ökonomischen, sondern die politischen Forderungen der Arbeiter im Vordergrund standen, nicht nur Fabrikbesetzung, sondern auch Selbstverwaltung, ökonomisch wie politisch. Das ist zweifellos richtig. Aber wir müssen uns doch fragen, ob die Kommunistische Partei nicht als Entschuldigung oder Rechtfertigung anführen kann, daß die Arbeiterschaft eben nicht reif und nicht willens war, die Bewegung weiterzutreiben bis zum Umsturz der Regierung. Weiter wäre sie sowieso nicht gegangen, wenn wir uns die Politik der kommunistischen Partei und der Gewerkschaft ansehen.

PARDON: Also der Vorwurf gegen die KPF (Kommunistische Partei Frankreichs) bleibt durchaus bestehen. Aber Sie würden nicht soweit gehen wie gewisse französische Teilnehmer, daß die objektive revolutionäre Situation verfälscht worden wäre durch die Partei, die sich statt als Avantgarde als Notbremse der Reaktion bestätigte …?

MARCUSE: Das würde zu weit führen. Andererseits müssen wir uns den Begriff der objektiven revolutionären Situation sehr genau ansehen. Was ist das eigentlich? Ich glaube, es macht guten Sinn zu behaupten, daß in der heutigen Periode überall und jederzeit eine objektive (d. h. den gesellschaftlichen Gegensätzen nach) revolutionäre Situation vorliegt, das Problem ist gerade, daß sie subjektiv (d. h. bewußtheitsmäßig) nicht vorliegt.

PARDON: Würden Sie sagen, daß man gewisse Verallgemeinerungen aus diesem »Auffangen« der revolutionären Aktion ziehen könnte? Gibt es so etwas wie ein Wiedereinsetzen eines Machtmechanismus? Läßt sich ein Gesetz behaupten, daß bei nachlassendem Erfolg der revolutionären Bewegung die Unentschlossenen unabänderlich wieder auf die Seite einer noch so schwachen Legalität gezogen werden, aus Angst vor der Anarchie?

MARCUSE: Sie meinen, man sollte solche »Niederlagen« vermeiden, weil sie zum Defätismus führen. Ich glaube, man kann Niederlagen solcher Art nicht vermeiden. Die Idee, daß ein zu einer entscheidenden Veränderung führender Prozeß eine Kette von Erfolgen ist, ist ganz unsinnig. Gerade in einer Situation, in der die Gesellschaft gegen eine radikale Veränderung so bewaffnet ist wie nie zuvor, sind Niederlagen natürlich unvermeidlich. Wichtig ist nur einzuschätzen, wann man solche Niederlagen riskieren kann und wann nicht.

PARDON: Hätte eine stärkere Beachtung der Leninschen Idee der Doppelherrschaft — ich würde nach heutigen Begebenheiten lieber Zweitgewalt sagen —, also etwa der Versuch, sich außerhalb der bestehenden Organe wie CGT-Gewerkschaft und kommunistischer Partei zu organisieren, Ihrer Meinung nach eine wesentliche Veränderung des Ausgangs bedeuten können?

MARCUSE: Sie meinen z. B. die Einsetzung irgendeines Komitees, Rats, bestehend aus Studenten und Arbeitern …?

PARDON: Ja, nur eben ohne die vorgesetztenten Kader der KP, die nicht mitspielten. Also im Grunde eine ad hoc-Organisation schaffen aus der Situation, die dann evtl. ein Verhandlungspartner oder Motor zum Weitertreiben des Generalstreiks hätte sein können …

MARCUSE: Ja, ohne eine solche, wie Sie sagen, Zweitgewalt geht es nicht. Aber auch hier die Frage, warum ist es nicht dazu gekommen? Wir können nicht einfach sagen, man hätte sie einsetzen sollen. Jedenfalls aber sollte die Arbeit dahin gehen, daß, wenn sich eine solche Situation wiederholt, auf anderer Stufenleiter, für eine solche Zweitgewalt wenigstens Vorsorge, Aufklärungsarbeit getroffen wird.

PARDON: Die Arbeitswoche hier in Korčula, Herr Marcuse, zum Thema »Marx und die Revolution« war die vorläufig letzte Veranstaltung einer ganzen Reihe von Konferenzen und Tagungen aus Anlaß von Karl Marx‘ 150. Geburtstag. Man darf die Analysen sowohl der liberalen wie der marxistischen Theoretiker wohl dahin zusammenfassen, daß Revolution wünschenswert, ja notwendig erscheint, ihre Durchführbarkeit jedoch mehr und mehr fragwürdig. Alle Einwände bedenkend, die Sie hier und vorher zu dieser Frage gehört und gelesen haben, würden Sie trotzdem darauf beharren, daß es künftig Revolutionen geben wird?

MARCUSE: Ich glaube, ich müßte ein geradezu miserabler Marxist und nicht nur ein miserabler Marxist, auch ein miserabler Intellektueller sein, wenn ich annehmen würde, daß in Zukunft Revolutionen nicht mehr möglich sind. Im Gegenteil, ich habe gesagt und geschrieben, daß in der gegenwärtigen Periode die Widersprüche des Kapitalismus vielleicht größer sind als je zuvor, daß sie zwar suspendiert und verwaltet werden, daß dieser Suspendierung und Verwaltung aber wesentliche Grenzen gezogen sind. So glaube ich, daß unsere Periode in der Tat eine objektiv revolutionäre Periode ist. Und ich wiederhole: gerade deswegen sind die bestehenden Systeme bis an die Zähne gegen eine solche Möglichkeit bewaffnet.

PARDON: Nun kamen hier auf dieser Tagung verschiedene Einwände, andere sind vorher schon formuliert worden: Ist z. B. in der hochzivilisierten kapitalistischen Gesellschaft, die einerseits arbeitsteilig zergliedert, andererseits durch Kommunikationsmittel systematisch entpolitisiert wird, der Unterschied zwischen Reform und Revolution nicht überhaupt hinfällig geworden? Setzt der von Ihnen dargestellte Mangel an revolutionärem Bewußtsein gerade bei den notwendigen Trägern dieser Revolution, den Arbeitern, nicht in jedem Falle Reformarbeit voraus? Vor allem Arbeit an Bildung und Erziehung?

MARCUSE: Aufklärung allein vermag jenes Bewußtsein zu schaffen, das den Umsturz betreiben könnte. Der Unterschied zwischen Reform und Revolution ist keineswegs veraltet. Es gibt Reformen, von denen kein Mensch behaupten würde, daß sie Revolutionen einleiten. Nehmen wir‘ wieder Frankreich: die Reformen, die das gaullistische Regime jetzt einführen wird als Reaktion auf die Mai-Juni-Ereignisse, sind weiß Gott keine revolutionären Reformen. Selbst angenommen, daß sie durchführbar wären, sind sie wahrscheinlich technokratische Reformen. Es gibt Reformen — der politische Prozeß kann ohne solche nicht auskommen — die in der Tat zu einer zunehmenden Radikalisierung führen können, selbst innerhalb des ökonomischen Bereichs.

PARDON: Wie aber können die Machthaber, die diesen Trend der Integration natürlich weiterhin manipulieren, vermutlich sogar voll bewußt herbeigeführt haben — wie können sie bewegt werden, anti-autoritär zu erziehen, d. h. ihren eigenen Untergang einzuleiten?

MARCUSE: Sie können die Machthaber niemals dazu überreden, Selbstmord zu verüben oder vorzubereiten.

PARDON: Überreden haben S i e jetzt eingeschoben!

MARCUSE: Was hatten Sie gesagt?

PARDON: Dazu bewegen…

MARCUSE: Dazu bewegen, d. h. auch mit Gewalt?

PARDON: Gegebenenfalls ja.

MARCUSE: Ich würde sagen, daß solche Erziehung zur radikalen Veränderung heute im Wesentlichen eben die Aufgabe der Studenten ist. Und die Aufgabe aller Intellektuellen, die sich mit der Bewegung solidarisieren. Es geht um Erziehung in einem ganz anderen, neuen Sinn. Eine Erziehung, die nicht im Klassenraum bleibt, nicht in den Mauern der Universität, sondern die spontan übergreift auf die Straße, in Aktionen, in Praxis und sich gleichzeitig ausdehnt auf die Gemeinschaft sozialer Gruppen außerhalb der Universität.

PARDON: Vorerst also ganz allgemein außerhalb bestehender Organisationen.

MARCUSE: Ja, aber keineswegs nur außerhalb. In den Universitäten z. B. kann eine strukturelle Reform weitgehend durchgeführt werden, so daß diesem technokratischen Erziehungssystem, das einfach zur Ausbildung und nicht zur Bildung führt, weitgehend entgegengearbeitet wird. Das kann im Rahmen der bereits bestehenden Universitäten geschehen, bei zunehmendem Druck der Studentenopposition. Ich sehe keinen anderen Weg, die Herrschaft eines falschen Bewußtseins zu brechen.

Sofort kommt natürlich die Anklage, man sei undemokratisch, wolle eine intellektuelle Elite aufbauen, eine Art platonischer Erziehungsdiktatur oder dergleichen. Nun, da muß ich Ihnen ganz offen gestehen, daß ich nichts Falsches in intellektueller Führerschaft sehe. Ich glaube sogar, daß die weit verbreiteten Ressentiments gegen Intellektuelle in breiten Teilen der Arbeiterbewegung einer der Gründe sind, warum wir uns in den traurigen Bedingungen befinden, in denen wir jetzt eben stehen.

PARDON: Hat für Ihre Prognosen die Marxsche Krisentheorie noch eine Bedeutung? Offenbar hat sich ja der Pionierkapitalismus heutzutage in einen salonfähigen aufgeklärten Neokapitalismus verwandelt und dabei selbst eine Fülle von Regulativinstrumenten entwickelt, welche die Mechanik des Marxschen Modells eingrenzen, zumindestens zu überspielen trachten.

MARCUSE: Solche Regulierungen und Mechanismen sind da, aber wenn damit gemeint sein soll, daß der gegenwärtige Kapitalismus krisenfest ist — das würde ich natürlich verneinen. Ein krisenfester Kapitalismus ist kein Kapitalismus mehr. Die Gegensätze sind heute da. Anzeichen für eine Krise haben Sie bereits in dem letzten Jahr gesehen. Ich erinnere nur an die internationale monetary crisis (Währungskrise), die keineswegs behoben ist. Devaluation, wie heißt das?, Abwertung, wird wahrscheinlich in absehbarer Zukunft erfolgen. Das ist ein Krisenfaktor. Der andere ist: falls in Vietnam wirklich Frieden geschlossen werden sollte, falls die amerikanische Kolonie sich wirklich auf Frieden umstellen sollte, würde das in der Tat zu schweren Unterbrechungen, vielleicht sogar nicht nur zu Rezession und Depression, sondern zu einer Krise in der amerikanischen Ökonomie führen. Der dritte Faktor sind die Entwicklungen in der Dritten Welt, die auch eine schwere Belastung des Systems darstellen. Gerade die jetzigen Ereignisse in der Tschechoslowakei, die äußerst gefährliche Koexistenz der beiden Supermächte und die Einwirkung Chinas, alle diese Dinge deuten meiner Meinung darauf hin, daß der Kapitalismus durchaus nicht krisenfest geworden ist.

Ein Wort zu Kollege Habermas, der davon sprach, daß der Kapitalismus nicht länger an den traditionellen Schwierigkeiten der Kapitalverwertung leidet. Ich kann ihm nicht zustimmen. Ich meine, daß wir gerade in den letzten Jahren Zeuge der wachsenden Schwierigkeit der Kapitalverwertung und der Profiterhöhung wurden, besonders in den USA. Es gibt schließlich gute Gründe, warum die Vereinigten Staaten die Hälfte der französischen Wirtschaft aufkaufen, warum sie sich schnell in alle Aras und Gebiete der Welt ausdehnen: weil nämlich Gewinne, die aus auswärtigen Unternehmungen einkommen, beträchtlich höher liegen als in den USA selbst.

Dieser Imperialismus ist nach meiner Ansicht der mächtigste, den die Welt je erlebt hat. Er kann nicht allein durch die Entwicklung der Dritten Welt gebrochen werden. Aber diese ist ein entscheidender Faktor im Zusammenhang mit der inneren Schwächung der imperialistischen Mächte, die meiner Überzeugung nach die Vorbedingung für eine globale Revolution bleibt.

PARDON: Kann eigentlich für erwiesen gelten, daß »ein kausaler Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Stabilität der entwickelten kapitalistischen Länder und der katastrofalen wirtschaftlichen Situation in den Ländern der Dritten Welt besteht«? In Deutschland hat u. a. Jürgen Habermas gerade diese Setzung, auf der die studentische Strategie ja überhaupt fußt, in Zweifel gezogen.

MARCUSE: Daß ein geradezu fürchterlicher Kausalzusammenhang besteht zwischen dem, was heute im Kongo vorgeht und dem, was in Nigerien vorgeht und in Bolivien und in vielen anderen südamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern vorgeht, daran kann ja wohl kaum ein Zweifel sein. Das ist eins der größten Verbrechen der Ersten Welt, des alten und des neuen Imperialismus, und ich sehe nicht ein, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, daß dieser Zusammenhang nicht besteht.

PARDON: Die Kernfrage dabei lautet wohl: hat der Imperialismus es rein wirtschaftlich gesehen, nötig, Verschleißpraktiken durch Kriege einzuführen? Könnte er sich nicht auch friedlich so organisieren, daß ihm ähnliche Vernichtungsmöglichkeiten geboten wären, die er ja braucht, um seine Dynamik aufrecht zu erhalten?

MARCUSE: Den Ausdruck »rein wirtschaftlich« halte ich heute für untragbar: wenn meine Tante Räder hätte, wäre sie ein Autobus. Ich meine: wenn der Imperialismus nicht Imperialismus wäre, wäre eben alles anders. Es ist natürlich eine Friedensökonomie heute möglich und besser als je zuvor. Aber das verlangt eben eine radikale Veränderung und — vielleicht — sogar eine Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Rein wirtschaftlich hat der Imperialismus heute in der Tat in Vietnam nichts zu suchen. Nur, rein wirtschaftlich gibt es nicht mehr. Es gibt so etwas wie eine vorbeugende Sicherung von Wirtschaftsräumen, Rohstoffquellen, auch politische Sicherung. Einfach das vitale Interesse des Kapitalismus, daß potentiell reiche Rohstoffländer — und nicht nur Rohstoffländer — dem Kommunismus nicht in die Hände fallen. Das will man unter allen Umständen verhindern. Hier gehen also militärische, politische und wirtschaftliche Momente so eng zusammen, daß der Ausdruck ,rein wirtschaftlich‘ nicht mehr anwendbar ist.

PARDON: Jürgen Habermas hatte in seinem Referat hier in Korčula die Aufhebung der Leistungsideologie in der zukünftigen Gesellschaft gefordert. Deckt sich das mit Ihren Zielvorstellungen? Ist das nur ein Wunschtraum, der sich jedoch mit der gegenwärtigen Lage in den Entwicklungsländern, aber auch den hochzivilisierten Ländern nicht übereinbringen läßt? Selbst Che Guevara hält ja Disziplin und (Arbeits-)Moral für die unerläßlichen Grundzüge revolutionären Bewußtseins.

MARCUSE: Die Forderung nach Aufhebung des Leistungsprinzips ist allerdings ein Desiderat, soweit sie mit dem Leistungsprinzip meint, die Aufrechterhaltung des Konkurrenzkampfes als Existenzkampf unter Bedingungen, unter denen das Leistungsprinzip nicht mehr nötig ist und nur der Aufrechterhaltung eines repressiven Systems dient. Das ist allerdings einer der wesentlichen Unterschiede einer wirklich sozialistischen Gesellschaft von allen Klassengesellschaften. Daß diese Forderung heute nicht durchgeführt ist, erklärt sich größtenteils wiederum aus der Tatsache der Ko-Existenz der beiden Supermächte, die eben eine dauernde Aufrüstung in beiden Lagern erfordert und jede Transformation der sozialistischen Gesellschaft in freie Gesellschaften unmöglich zu machen scheint. Ich betone: unmöglich zu machen scheint. Daß es auch anders geht, jedenfalls der Versuch, es anders zu machen, durchführbar ist, hat meiner Meinung nach die kubanische Revolution gezeigt und wahrscheinlich sogar die Kultur-Revolution in China. Sogar sollte man nicht sagen; ich sage wahrscheinlich sogar, weil wir in Amerika eben sehr wenig unterrichtet sind über das, was in China eigentlich vorgeht.

PARDON: Der autoritäre, repressive Charakter der Wirtschaft führt selbst also zur Militarisierung des Budget? Den berühmten dreißig bis vierzig Prozent …?

MARCUSE: Nicht nur zur Militarisierung des Budget, zur Disziplinierung der Bevölkerung, die dieser internationale Konkurrenzkampf mit sich bringt, ja.

PARDON: Herr Marcuse, läßt sich beim derzeitigen zur ‚Unterhaltung` der Gesellschaft notwendigen Stand der Technik verhindern, daß der Abbau autoritärer Strukturen auch einen Verlust an Rationalität und Effektivität zur Folge hat?

MARCUSE: Rationalität und Effektivität, das wissen wir heute, sind keine absoluten Begriffe, sondern bedeuten zunächst einmal Rationalität und Effektivität im Rahmen des bestehenden Systems. Jede radikale Veränderung würde natürlich diese Rationalität und Effektivität verletzen. Es fragt sich nur, und für mich ist das keine Frage, ob solche Verletzung dieser repressiven Rationalität und Effektivität nicht wirklicher Fortschritt ist.

PARDON: Gerade in den sozialistischen Ländern, einschließlich Kuba, hat allerdings die Sozialisierung nach einer kurzen Zeit des revolutionären Impulses bisher immer einen wirtschaftlichen Rückschlag bedeutet. In der DDR etwa hat das zu dem großen Neuansatz mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) geführt, dem Versuch, das Element »individueller Interessiertheit« wieder ins Spiel zu bringen. Halten Sie das noch für Übergangserscheinungen?

MARCUSE: Das Moment »individueller Interessiertheit« ist mir wiederum zu abstrakt. Individuelle Interessiertheit kann hervorgerufen werden durch das Prämiensystem, durch die sog. »incentifs«, wie sie in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern eingeführt worden sind; sie kann aber auch die Folge einer wirklichen Solidarität sein, die Zusammenarbeit freier Menschen, von denen jeder ein Interesse hat, das zum Interesse des andern eben nicht antagonistisch steht. Eine solche Solidarität, glaube ich, ist immer noch in der Entwicklung in Kuba heute zu sehen.
PARDON: Herr Marcuse, die Studentenbewegung hatte sich weitgehend an den Problemen der Dritten Welt entzündet, der Kettenreaktion von Gewalt und Gegengewalt in China, Indochina, Algerien, Kuba, Vietnam, Angola, Biafra und Lateinamerika. Unterstützt Ihrer Meinung nach die Dritte Welt die heutige internationale Protestbewegung in optimaler Weise?

MARCUSE: Ich finde, daß die Dritte Welt so unmittelbar mit dem brutalen Problem, einfach das Leben, wenn nicht die Unabhängigkeit zu behalten, beschäftigt ist, daß wir nicht fragen sollten, ob sie genug tut, um die Protestbewegung in der Ersten Welt zu unterstützen. Wir sollten vielmehr alles tun, was wir können, um die Opposition in der Dritten Welt zu unterstützen.

PARDON: Aber es ist natürlich bitter, teilweise ansehen zu müssen, wie die Dritte Welt Investitionskapital verschleißt, wo wir darum kämpfen, daß sie überhaupt erst einmal das Lebensminimum im Zuge der Entwicklungspolitik zugestanden bekommt.

MARCUSE: Gewiß, aber alle diese Dinge sind eine Folge der konkurrierenden Ko-Existenz der beiden Supermächte. Daher: bevor nicht etwas in diesen Mächten geschieht, wird es auch in der Dritten Welt nicht anders aussehen. In diesem Sinn hat der Marx auch wieder recht, auf einem ganz anderen Wege: daß die entscheidende Veränderung nämlich in den entwickelten Ländern zum Ausbruch und Ausdruck kommen muß. Nur dann ist eine wirkliche dauernde und erfolgreiche Unabhängigkeit der Dritten Welt vorstellbar. Ich meine: so lange die großen Mächte Waffen und finanzielle und technische Mittel scheinbar ohne Grenze in die Dritte Welt zu Ausrüstungszwecken hineinpumpen können, so lange sind allerdings die Chancen der Dritten Welt außerordentlich gering.

PARDON: Damit schränken Sie die Auswirkung und den Schock des Rückschlages, den die Revolutionsbewegung als Guerilla in Lateinamerika, anscheinend selbst im Krieg in Vietnam gegenwärtig erleidet, ein und setzen den Akzent hier nach Europa und USA. Sie sind also nicht bedrückt, daß es nach Guevaras Ermordung fast keine Guerilla in Lateinamerika mehr gibt?

MARCUSE: Nein, das ist wiederum eine der Niederlagen, die, ich möchte beinahe sagen, selbstverständlich sind, und die eben zu einer Neubesinnung und zu einer besseren Vorbereitung führen werden. Es handelt sich nicht so sehr um Akzentverschiebung, als darum, einzusehen, daß nur aus einem Zusammenwirken der in der Dritten Welt bestehenden Oppositionskräfte mit denen der Ersten Welt etwas herauskommen kann.

PARDON: Herr Marcuse, nach dieser »tour d‘horizont« eine ganz persönliche, uns sehr betreffende Frage: In der Außerparlamentarischen Opposition hält sich das Gerücht, Sie hätten Ihre Einladung an Rudi Dutschke, bei Ihnen in Kalifornien seine Dissertation jetzt in Ruhe fertigzustellen, aufgrund von Presseattacken und Drohbriefen zurückgezogen?

MARCUSE: Das ist nicht richtig. Das Gerücht, daß ich mich in irgendeiner Weise nicht mehr mit Rudi Dutschke solidarisch erkläre, ist meiner Meinung nach ein gemeiner journalistischer Trick. Die Tatsachen sind, daß sobald in Kalifornien die Nachricht auftauchte, daß Rudi Dutschke vielleicht nach San Diego kommen könnte, um dort eine Dissertation fertigzumachen, eine systematische Hetze eingesetzt hat, Drohbriefe, Todesdrohungen, Abschneiden des Telefons usw., mit anderen Worten eine Stimmung geschaffen worden ist, in der dem Rudi das Leben in Kalifornien zur Hölle gemacht werden konnte. Ich habe damals — ich war nicht in Kalifornien, sondern in Boston —, der Zeitung erklärt, daß ich nach wie vor sehr glücklich wäre, wenn Rudi Dutschke mit mir studieren und seine Dissertation fertigmachen würde, daß ich es aber nicht verantworten könne, sein Leben noch einmal zu riskieren und ihm zuzureden, nach Kalifornien zu kommen. Er hätte in Kalifornien keine ruhige Minute. Ich möchte diese Gelegenheit benutzen, um nochmal ausdrücklich zu erklären, daß alle Versuche, zwischen Rudi Dutschke und mir irgendwelche Differenzen oder Entfremdungen oder was es auch sein möge von meiner Seite zu konstruieren, reine Unwahrheiten sind.

PARDON: Daran anschließend: Wie beurteilen Sie nach den Vorkommnissen bei der Belagerung der für Springer arbeitenden Druckhäuser und der Pariser Barrikadenschlachten die Notwendigkeit und den Erfolg von Gegengewalt?

MARCUSE: Ich glaube, ich kann mich hier auf den alten Satz zurückziehen — ich weiß nicht genau, ob er von Marx oder Engels stammt: daß Revolutionen immer genauso gewalttätig sind, wie die Gewalt, der sie begegnen.

Die Gewalt ist heute zu einer ganz gefährlichen semantischen Ideologie geworden. Man nennt nicht Gewalt, was in Vietnam geschieht; man nennt nicht Gewalt, was von der Polizei ausgeübt wird, man nennt nicht Gewalt die Verheerungen, die Folterungen, die Erniedrigungen, die Vergiftungen, die täglich im bereich des Kapitalismus vorkommen; man nennt Gewalt, beschränkt den Ausdruck Gewalt auf die Opposition. Für mich ist es jedenfalls eines der heuchlerischsten, hypokritischsten Sprachwendungen, zu beklagen, daß in Paris ein paar Automobile verbrannten, während z. B. auf den Straßen der entwickelten Industrieländer Tausende von Automobilen im Verkehr vernichtet werden; daß man die Gewalt der Verteidigung mit der Gewalt der Aggression in einem Atem nennt. Die beiden sind völlig verschieden.

PARDON: Es bleibt also bei der Beurteilung, die Sie in Ihrer Schrift oder Ihrem Beitrag zur »Kritik der reinen Toleranz« gegeben haben? Daran hat sich nichts geändert?

MARCUSE: Ich stehe dazu, was ich in diesem Essay geschrieben habe, ja.

PARDON: Eine abschließende Frage noch, Herr Marcuse: Wie kann die revolutionäre Bewegung dem wirtschaftlichen Trend vom Arbeiter zum Angestellten Rechnung tragen? Sind die Angestellten, trotz ihrer immer wieder analysierten stärkeren Integrierung, ein denkbares revolutionäres Potential oder stirbt die Revolution mit dem letzten Arbeiter?

MARCUSE: Ich glaube nicht, daß die Revolution stirbt, solange es noch eine Klassengesellschaft gibt. Und ich glaube bestimmt nicht, daß sie mit dem letzten Arbeiter stirbt. Ich glaube noch nicht einmal, daß der letzte Arbeiter stirbt. Ich habe schon im Lauf dieser Unterhaltung gesagt, eigentlich ist a 11 e s heute potentiell ein revolutionärer Faktor. Die Angestellten — vielleicht — am wenigsten. Die Techniker, Wissenschaftler, Ingenieure, hochqualifizierte Arbeiter, die im Produktionsprozeß gebraucht werden, ja — doch muß ich gerade mit Bezug auf den gefährlichen Begriff der »neuen Arbeiterklasse« betonen, daß in der heutigen Situation diese technische Intelligenzia aktiv sicher keine revolutionäre Gruppe darstellt. In den Vereinigten Staaten jedenfalls gehört sie zu den sehr gut bezahlten gesellschaftlichen Gruppen, die ihre Dienste sehr gerne dem bestehenden System zur Verfügung stellen.

PARDON: Welches Leitwort würden Sie der außerparlamentarischen Bewegung für die nächste Fase des Auf- und Widerstandes mitgeben?
MARCUSE: Ich würde überhaupt kein Leitwort geben. Es ist eines der schönsten und der versprechendsten Anzeichen dieser neuen Bewegung, daß sie nicht auf andere angewiesen ist, nicht auf Autoritäten, die ihr »mots d‘ordre« geben, sondern daß sie ihre »mots d‘ordre« selbst und im Kampf allein herausfindet. Ich finde, diese ausgezeichnete Konstellation sollte man bewahren. Diese »organisierte Spontanität« erscheint mir der beste Ausweg.

PARDON: Herr Marcuse, wir danken Ihnen für dieses Gespräch — in dem der Vorläufer sich sogar überflüssig zu machen versuchte.PARDON: Herr Marcuse, Sie sind durch Ihre Bücher und Stellungnahmen einer der geistigen Väter der »Neuen Linken« geworden, für viele sogar der profilierteste, um nicht zu sagen der Profet. Fühlen Sie sich in Ihren Prognosen und Analysen durch die Mai-Unruhen dieses Jahres in Frankreich bestätigt?

MARCUSE: Ich habe seit 1964 auf die Bedeutung der Studentenbewegung hingewiesen und gesagt, daß nach meiner Meinung da viel mehr und ganz anderes vorliegt als ein Generationskonflikt, wie er aus der Tradition ja nur zu gut bekannt ist; daß hier wirklich politische Momente aktiviert werden, die gerade deswegen, weil sie in keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse aktiviert sind, gerade deswegen, weil eine wirklich organisierte Opposition auf der Linken fehlt, in der Studentenbewegung konzentriert sind. Ich habe außerdem darauf verwiesen, daß die Integration der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten am meisten fortgeschritten ist, während sie in Frankreich und Italien immer noch zu einem großen Teil aussteht. In dieser Beziehung also war ich nicht überrascht, daß gerade in Frankreich diese Studentenbewegung nun wirklich zu einer großen politischen Bewegung geführt hat. Vorausgesehen habe ich sie natürlich nicht, und ich glaube, es hat sie niemand vorausgesehen. Nicht einmal die Führer der Studentenbewegung konnten oder haben vorausgesehen, daß nach einer Woche 10 Millionen Arbeiter sich im Streik befinden würden.

PARDON: Welche Folgerung ziehen Sie aus der schließlichen Niederlage oder sagen wir Abwürgung dieser Bewegung, wie sie spätestens mit den Wahlen eintrat?

MARCUSE: Ich würde es nicht als Niederlage bezeichnen, und zwar deswegen nicht, weil der Stellenwert dieser Bewegung ungeheuer groß ist. Und ich möchte sogar behaupten, daß die Mai- und Juni-Tage einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der Opposition im Kapitalismus darstellen. Weil sie gezeigt haben, daß eine potentiell revolutionäre Bewegung auch außerhalb der Arbeiterschaft anfangen kann und die Arbeiterschaft, oder sagen wir mal sehr vorsichtig, einen Teil der Arbeiterschaft, dann mit sich zu ziehen vermag. Sie haben außerdem gezeigt, daß ganz neue Formen der Demonstration einen solchen weitgehenden Erfolg haben können.

Es war eine Niederlage in dem Sinne, daß sich diese Studentenbewegung nicht geradlinig fortgesetzt hat in eine Opposition der Arbeiterklasse: aber wir wissen ja, warum das nicht geschehen ist.

PARDON: Ja, wissen wir es wirklich? Hier in Korčula gab es ja gerade darüber einen Streit.

MARCUSE: Die Antwort, die natürlich immer gegeben wird, ist: die Kommunistische Partei und die kommunistischen Gewerkschaften hätten die Bewegung eben abgefangen, sobald sie sahen, daß sie sie nicht mehr kontrollieren konnten und sie wirklich zu großen politischen Veränderungen führen könnte; d. h. in dem Augenblick, wo wirklich nicht die ökonomischen, sondern die politischen Forderungen der Arbeiter im Vordergrund standen, nicht nur Fabrikbesetzung, sondern auch Selbstverwaltung, ökonomisch wie politisch. Das ist zweifellos richtig. Aber wir müssen uns doch fragen, ob die Kommunistische Partei nicht als Entschuldigung oder Rechtfertigung anführen kann, daß die Arbeiterschaft eben nicht reif und nicht willens war, die Bewegung weiterzutreiben bis zum Umsturz der Regierung. Weiter wäre sie sowieso nicht gegangen, wenn wir uns die Politik der kommunistischen Partei und der Gewerkschaft ansehen.

PARDON: Also der Vorwurf gegen die KPF (Kommunistische Partei Frankreichs) bleibt durchaus bestehen. Aber Sie würden nicht soweit gehen wie gewisse französische Teilnehmer, daß die objektive revolutionäre Situation verfälscht worden wäre durch die Partei, die sich statt als Avantgarde als Notbremse der Reaktion bestätigte …?

MARCUSE: Das würde zu weit führen. Andererseits müssen wir uns den Begriff der objektiven revolutionären Situation sehr genau ansehen. Was ist das eigentlich? Ich glaube, es macht guten Sinn zu behaupten, daß in der heutigen Periode überall und jederzeit eine objektive (d. h. den gesellschaftlichen Gegensätzen nach) revolutionäre Situation vorliegt, das Problem ist gerade, daß sie subjektiv (d. h. bewußtheitsmäßig) nicht vorliegt.

PARDON: Würden Sie sagen, daß man gewisse Verallgemeinerungen aus diesem »Auffangen« der revolutionären Aktion ziehen könnte? Gibt es so etwas wie ein Wiedereinsetzen eines Machtmechanismus? Läßt sich ein Gesetz behaupten, daß bei nachlassendem Erfolg der revolutionären Bewegung die Unentschlossenen unabänderlich wieder auf die Seite einer noch so schwachen Legalität gezogen werden, aus Angst vor der Anarchie?

MARCUSE: Sie meinen, man sollte solche »Niederlagen« vermeiden, weil sie zum Defätismus führen. Ich glaube, man kann Niederlagen solcher Art nicht vermeiden. Die Idee, daß ein zu einer entscheidenden Veränderung führender Prozeß eine Kette von Erfolgen ist, ist ganz unsinnig. Gerade in einer Situation, in der die Gesellschaft gegen eine radikale Veränderung so bewaffnet ist wie nie zuvor, sind Niederlagen natürlich unvermeidlich. Wichtig ist nur einzuschätzen, wann man solche Niederlagen riskieren kann und wann nicht.

PARDON: Hätte eine stärkere Beachtung der Leninschen Idee der Doppelherrschaft — ich würde nach heutigen Begebenheiten lieber Zweitgewalt sagen —, also etwa der Versuch, sich außerhalb der bestehenden Organe wie CGT-Gewerkschaft und kommunistischer Partei zu organisieren, Ihrer Meinung nach eine wesentliche Veränderung des Ausgangs bedeuten können?

MARCUSE: Sie meinen z. B. die Einsetzung irgendeines Komitees, Rats, bestehend aus Studenten und Arbeitern …?

PARDON: Ja, nur eben ohne die vorgesetztenten Kader der KP, die nicht mitspielten. Also im Grunde eine ad hoc-Organisation schaffen aus der Situation, die dann evtl. ein Verhandlungspartner oder Motor zum Weitertreiben des Generalstreiks hätte sein können …

MARCUSE: Ja, ohne eine solche, wie Sie sagen, Zweitgewalt geht es nicht. Aber auch hier die Frage, warum ist es nicht dazu gekommen? Wir können nicht einfach sagen, man hätte sie einsetzen sollen. Jedenfalls aber sollte die Arbeit dahin gehen, daß, wenn sich eine solche Situation wiederholt, auf anderer Stufenleiter, für eine solche Zweitgewalt wenigstens Vorsorge, Aufklärungsarbeit getroffen wird.

PARDON: Die Arbeitswoche hier in Korčula, Herr Marcuse, zum Thema »Marx und die Revolution« war die vorläufig letzte Veranstaltung einer ganzen Reihe von Konferenzen und Tagungen aus Anlaß von Karl Marx‘ 150. Geburtstag. Man darf die Analysen sowohl der liberalen wie der marxistischen Theoretiker wohl dahin zusammenfassen, daß Revolution wünschenswert, ja notwendig erscheint, ihre Durchführbarkeit jedoch mehr und mehr fragwürdig. Alle Einwände bedenkend, die Sie hier und vorher zu dieser Frage gehört und gelesen haben, würden Sie trotzdem darauf beharren, daß es künftig Revolutionen geben wird?

MARCUSE: Ich glaube, ich müßte ein geradezu miserabler Marxist und nicht nur ein miserabler Marxist, auch ein miserabler Intellektueller sein, wenn ich annehmen würde, daß in Zukunft Revolutionen nicht mehr möglich sind. Im Gegenteil, ich habe gesagt und geschrieben, daß in der gegenwärtigen Periode die Widersprüche des Kapitalismus vielleicht größer sind als je zuvor, daß sie zwar suspendiert und verwaltet werden, daß dieser Suspendierung und Verwaltung aber wesentliche Grenzen gezogen sind. So glaube ich, daß unsere Periode in der Tat eine objektiv revolutionäre Periode ist. Und ich wiederhole: gerade deswegen sind die bestehenden Systeme bis an die Zähne gegen eine solche Möglichkeit bewaffnet.

PARDON: Nun kamen hier auf dieser Tagung verschiedene Einwände, andere sind vorher schon formuliert worden: Ist z. B. in der hochzivilisierten kapitalistischen Gesellschaft, die einerseits arbeitsteilig zergliedert, andererseits durch Kommunikationsmittel systematisch entpolitisiert wird, der Unterschied zwischen Reform und Revolution nicht überhaupt hinfällig geworden? Setzt der von Ihnen dargestellte Mangel an revolutionärem Bewußtsein gerade bei den notwendigen Trägern dieser Revolution, den Arbeitern, nicht in jedem Falle Reformarbeit voraus? Vor allem Arbeit an Bildung und Erziehung?

MARCUSE: Aufklärung allein vermag jenes Bewußtsein zu schaffen, das den Umsturz betreiben könnte. Der Unterschied zwischen Reform und Revolution ist keineswegs veraltet. Es gibt Reformen, von denen kein Mensch behaupten würde, daß sie Revolutionen einleiten. Nehmen wir‘ wieder Frankreich: die Reformen, die das gaullistische Regime jetzt einführen wird als Reaktion auf die Mai-Juni-Ereignisse, sind weiß Gott keine revolutionären Reformen. Selbst angenommen, daß sie durchführbar wären, sind sie wahrscheinlich technokratische Reformen. Es gibt Reformen — der politische Prozeß kann ohne solche nicht auskommen — die in der Tat zu einer zunehmenden Radikalisierung führen können, selbst innerhalb des ökonomischen Bereichs.

PARDON: Wie aber können die Machthaber, die diesen Trend der Integration natürlich weiterhin manipulieren, vermutlich sogar voll bewußt herbeigeführt haben — wie können sie bewegt werden, anti-autoritär zu erziehen, d. h. ihren eigenen Untergang einzuleiten?

MARCUSE: Sie können die Machthaber niemals dazu überreden, Selbstmord zu verüben oder vorzubereiten.

PARDON: Überreden haben S i e jetzt eingeschoben!

MARCUSE: Was hatten Sie gesagt?

PARDON: Dazu bewegen…

MARCUSE: Dazu bewegen, d. h. auch mit Gewalt?

PARDON: Gegebenenfalls ja.

MARCUSE: Ich würde sagen, daß solche Erziehung zur radikalen Veränderung heute im Wesentlichen eben die Aufgabe der Studenten ist. Und die Aufgabe aller Intellektuellen, die sich mit der Bewegung solidarisieren. Es geht um Erziehung in einem ganz anderen, neuen Sinn. Eine Erziehung, die nicht im Klassenraum bleibt, nicht in den Mauern der Universität, sondern die spontan übergreift auf die Straße, in Aktionen, in Praxis und sich gleichzeitig ausdehnt auf die Gemeinschaft sozialer Gruppen außerhalb der Universität.

PARDON: Vorerst also ganz allgemein außerhalb bestehender Organisationen.

MARCUSE: Ja, aber keineswegs nur außerhalb. In den Universitäten z. B. kann eine strukturelle Reform weitgehend durchgeführt werden, so daß diesem technokratischen Erziehungssystem, das einfach zur Ausbildung und nicht zur Bildung führt, weitgehend entgegengearbeitet wird. Das kann im Rahmen der bereits bestehenden Universitäten geschehen, bei zunehmendem Druck der Studentenopposition. Ich sehe keinen anderen Weg, die Herrschaft eines falschen Bewußtseins zu brechen.

Sofort kommt natürlich die Anklage, man sei undemokratisch, wolle eine intellektuelle Elite aufbauen, eine Art platonischer Erziehungsdiktatur oder dergleichen. Nun, da muß ich Ihnen ganz offen gestehen, daß ich nichts Falsches in intellektueller Führerschaft sehe. Ich glaube sogar, daß die weit verbreiteten Ressentiments gegen Intellektuelle in breiten Teilen der Arbeiterbewegung einer der Gründe sind, warum wir uns in den traurigen Bedingungen befinden, in denen wir jetzt eben stehen.

PARDON: Hat für Ihre Prognosen die Marxsche Krisentheorie noch eine Bedeutung? Offenbar hat sich ja der Pionierkapitalismus heutzutage in einen salonfähigen aufgeklärten Neokapitalismus verwandelt und dabei selbst eine Fülle von Regulativinstrumenten entwickelt, welche die Mechanik des Marxschen Modells eingrenzen, zumindestens zu überspielen trachten.

MARCUSE: Solche Regulierungen und Mechanismen sind da, aber wenn damit gemeint sein soll, daß der gegenwärtige Kapitalismus krisenfest ist — das würde ich natürlich verneinen. Ein krisenfester Kapitalismus ist kein Kapitalismus mehr. Die Gegensätze sind heute da. Anzeichen für eine Krise haben Sie bereits in dem letzten Jahr gesehen. Ich erinnere nur an die internationale monetary crisis (Währungskrise), die keineswegs behoben ist. Devaluation, wie heißt das?, Abwertung, wird wahrscheinlich in absehbarer Zukunft erfolgen. Das ist ein Krisenfaktor. Der andere ist: falls in Vietnam wirklich Frieden geschlossen werden sollte, falls die amerikanische Kolonie sich wirklich auf Frieden umstellen sollte, würde das in der Tat zu schweren Unterbrechungen, vielleicht sogar nicht nur zu Rezession und Depression, sondern zu einer Krise in der amerikanischen Ökonomie führen. Der dritte Faktor sind die Entwicklungen in der Dritten Welt, die auch eine schwere Belastung des Systems darstellen. Gerade die jetzigen Ereignisse in der Tschechoslowakei, die äußerst gefährliche Koexistenz der beiden Supermächte und die Einwirkung Chinas, alle diese Dinge deuten meiner Meinung darauf hin, daß der Kapitalismus durchaus nicht krisenfest geworden ist.

Ein Wort zu Kollege Habermas, der davon sprach, daß der Kapitalismus nicht länger an den traditionellen Schwierigkeiten der Kapitalverwertung leidet. Ich kann ihm nicht zustimmen. Ich meine, daß wir gerade in den letzten Jahren Zeuge der wachsenden Schwierigkeit der Kapitalverwertung und der Profiterhöhung wurden, besonders in den USA. Es gibt schließlich gute Gründe, warum die Vereinigten Staaten die Hälfte der französischen Wirtschaft aufkaufen, warum sie sich schnell in alle Aras und Gebiete der Welt ausdehnen: weil nämlich Gewinne, die aus auswärtigen Unternehmungen einkommen, beträchtlich höher liegen als in den USA selbst.

Dieser Imperialismus ist nach meiner Ansicht der mächtigste, den die Welt je erlebt hat. Er kann nicht allein durch die Entwicklung der Dritten Welt gebrochen werden. Aber diese ist ein entscheidender Faktor im Zusammenhang mit der inneren Schwächung der imperialistischen Mächte, die meiner Überzeugung nach die Vorbedingung für eine globale Revolution bleibt.

PARDON: Kann eigentlich für erwiesen gelten, daß »ein kausaler Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Stabilität der entwickelten kapitalistischen Länder und der katastrofalen wirtschaftlichen Situation in den Ländern der Dritten Welt besteht«? In Deutschland hat u. a. Jürgen Habermas gerade diese Setzung, auf der die studentische Strategie ja überhaupt fußt, in Zweifel gezogen.

MARCUSE: Daß ein geradezu fürchterlicher Kausalzusammenhang besteht zwischen dem, was heute im Kongo vorgeht und dem, was in Nigerien vorgeht und in Bolivien und in vielen anderen südamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern vorgeht, daran kann ja wohl kaum ein Zweifel sein. Das ist eins der größten Verbrechen der Ersten Welt, des alten und des neuen Imperialismus, und ich sehe nicht ein, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, daß dieser Zusammenhang nicht besteht.

PARDON: Die Kernfrage dabei lautet wohl: hat der Imperialismus es rein wirtschaftlich gesehen, nötig, Verschleißpraktiken durch Kriege einzuführen? Könnte er sich nicht auch friedlich so organisieren, daß ihm ähnliche Vernichtungsmöglichkeiten geboten wären, die er ja braucht, um seine Dynamik aufrecht zu erhalten?

MARCUSE: Den Ausdruck »rein wirtschaftlich« halte ich heute für untragbar: wenn meine Tante Räder hätte, wäre sie ein Autobus. Ich meine: wenn der Imperialismus nicht Imperialismus wäre, wäre eben alles anders. Es ist natürlich eine Friedensökonomie heute möglich und besser als je zuvor. Aber das verlangt eben eine radikale Veränderung und — vielleicht — sogar eine Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Rein wirtschaftlich hat der Imperialismus heute in der Tat in Vietnam nichts zu suchen. Nur, rein wirtschaftlich gibt es nicht mehr. Es gibt so etwas wie eine vorbeugende Sicherung von Wirtschaftsräumen, Rohstoffquellen, auch politische Sicherung. Einfach das vitale Interesse des Kapitalismus, daß potentiell reiche Rohstoffländer — und nicht nur Rohstoffländer — dem Kommunismus nicht in die Hände fallen. Das will man unter allen Umständen verhindern. Hier gehen also militärische, politische und wirtschaftliche Momente so eng zusammen, daß der Ausdruck ,rein wirtschaftlich‘ nicht mehr anwendbar ist.

PARDON: Jürgen Habermas hatte in seinem Referat hier in Korčula die Aufhebung der Leistungsideologie in der zukünftigen Gesellschaft gefordert. Deckt sich das mit Ihren Zielvorstellungen? Ist das nur ein Wunschtraum, der sich jedoch mit der gegenwärtigen Lage in den Entwicklungsländern, aber auch den hochzivilisierten Ländern nicht übereinbringen läßt? Selbst Che Guevara hält ja Disziplin und (Arbeits-)Moral für die unerläßlichen Grundzüge revolutionären Bewußtseins.

MARCUSE: Die Forderung nach Aufhebung des Leistungsprinzips ist allerdings ein Desiderat, soweit sie mit dem Leistungsprinzip meint, die Aufrechterhaltung des Konkurrenzkampfes als Existenzkampf unter Bedingungen, unter denen das Leistungsprinzip nicht mehr nötig ist und nur der Aufrechterhaltung eines repressiven Systems dient. Das ist allerdings einer der wesentlichen Unterschiede einer wirklich sozialistischen Gesellschaft von allen Klassengesellschaften. Daß diese Forderung heute nicht durchgeführt ist, erklärt sich größtenteils wiederum aus der Tatsache der Ko-Existenz der beiden Supermächte, die eben eine dauernde Aufrüstung in beiden Lagern erfordert und jede Transformation der sozialistischen Gesellschaft in freie Gesellschaften unmöglich zu machen scheint. Ich betone: unmöglich zu machen scheint. Daß es auch anders geht, jedenfalls der Versuch, es anders zu machen, durchführbar ist, hat meiner Meinung nach die kubanische Revolution gezeigt und wahrscheinlich sogar die Kultur-Revolution in China. Sogar sollte man nicht sagen; ich sage wahrscheinlich sogar, weil wir in Amerika eben sehr wenig unterrichtet sind über das, was in China eigentlich vorgeht.

PARDON: Der autoritäre, repressive Charakter der Wirtschaft führt selbst also zur Militarisierung des Budget? Den berühmten dreißig bis vierzig Prozent …?

MARCUSE: Nicht nur zur Militarisierung des Budget, zur Disziplinierung der Bevölkerung, die dieser internationale Konkurrenzkampf mit sich bringt, ja.

PARDON: Herr Marcuse, läßt sich beim derzeitigen zur ‚Unterhaltung` der Gesellschaft notwendigen Stand der Technik verhindern, daß der Abbau autoritärer Strukturen auch einen Verlust an Rationalität und Effektivität zur Folge hat?

MARCUSE: Rationalität und Effektivität, das wissen wir heute, sind keine absoluten Begriffe, sondern bedeuten zunächst einmal Rationalität und Effektivität im Rahmen des bestehenden Systems. Jede radikale Veränderung würde natürlich diese Rationalität und Effektivität verletzen. Es fragt sich nur, und für mich ist das keine Frage, ob solche Verletzung dieser repressiven Rationalität und Effektivität nicht wirklicher Fortschritt ist.

PARDON: Gerade in den sozialistischen Ländern, einschließlich Kuba, hat allerdings die Sozialisierung nach einer kurzen Zeit des revolutionären Impulses bisher immer einen wirtschaftlichen Rückschlag bedeutet. In der DDR etwa hat das zu dem großen Neuansatz mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) geführt, dem Versuch, das Element »individueller Interessiertheit« wieder ins Spiel zu bringen. Halten Sie das noch für Übergangserscheinungen?

MARCUSE: Das Moment »individueller Interessiertheit« ist mir wiederum zu abstrakt. Individuelle Interessiertheit kann hervorgerufen werden durch das Prämiensystem, durch die sog. »incentifs«, wie sie in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern eingeführt worden sind; sie kann aber auch die Folge einer wirklichen Solidarität sein, die Zusammenarbeit freier Menschen, von denen jeder ein Interesse hat, das zum Interesse des andern eben nicht antagonistisch steht. Eine solche Solidarität, glaube ich, ist immer noch in der Entwicklung in Kuba heute zu sehen.
PARDON: Herr Marcuse, die Studentenbewegung hatte sich weitgehend an den Problemen der Dritten Welt entzündet, der Kettenreaktion von Gewalt und Gegengewalt in China, Indochina, Algerien, Kuba, Vietnam, Angola, Biafra und Lateinamerika. Unterstützt Ihrer Meinung nach die Dritte Welt die heutige internationale Protestbewegung in optimaler Weise?

MARCUSE: Ich finde, daß die Dritte Welt so unmittelbar mit dem brutalen Problem, einfach das Leben, wenn nicht die Unabhängigkeit zu behalten, beschäftigt ist, daß wir nicht fragen sollten, ob sie genug tut, um die Protestbewegung in der Ersten Welt zu unterstützen. Wir sollten vielmehr alles tun, was wir können, um die Opposition in der Dritten Welt zu unterstützen.

PARDON: Aber es ist natürlich bitter, teilweise ansehen zu müssen, wie die Dritte Welt Investitionskapital verschleißt, wo wir darum kämpfen, daß sie überhaupt erst einmal das Lebensminimum im Zuge der Entwicklungspolitik zugestanden bekommt.

MARCUSE: Gewiß, aber alle diese Dinge sind eine Folge der konkurrierenden Ko-Existenz der beiden Supermächte. Daher: bevor nicht etwas in diesen Mächten geschieht, wird es auch in der Dritten Welt nicht anders aussehen. In diesem Sinn hat der Marx auch wieder recht, auf einem ganz anderen Wege: daß die entscheidende Veränderung nämlich in den entwickelten Ländern zum Ausbruch und Ausdruck kommen muß. Nur dann ist eine wirkliche dauernde und erfolgreiche Unabhängigkeit der Dritten Welt vorstellbar. Ich meine: so lange die großen Mächte Waffen und finanzielle und technische Mittel scheinbar ohne Grenze in die Dritte Welt zu Ausrüstungszwecken hineinpumpen können, so lange sind allerdings die Chancen der Dritten Welt außerordentlich gering.

PARDON: Damit schränken Sie die Auswirkung und den Schock des Rückschlages, den die Revolutionsbewegung als Guerilla in Lateinamerika, anscheinend selbst im Krieg in Vietnam gegenwärtig erleidet, ein und setzen den Akzent hier nach Europa und USA. Sie sind also nicht bedrückt, daß es nach Guevaras Ermordung fast keine Guerilla in Lateinamerika mehr gibt?

MARCUSE: Nein, das ist wiederum eine der Niederlagen, die, ich möchte beinahe sagen, selbstverständlich sind, und die eben zu einer Neubesinnung und zu einer besseren Vorbereitung führen werden. Es handelt sich nicht so sehr um Akzentverschiebung, als darum, einzusehen, daß nur aus einem Zusammenwirken der in der Dritten Welt bestehenden Oppositionskräfte mit denen der Ersten Welt etwas herauskommen kann.

PARDON: Herr Marcuse, nach dieser »tour d‘horizont« eine ganz persönliche, uns sehr betreffende Frage: In der Außerparlamentarischen Opposition hält sich das Gerücht, Sie hätten Ihre Einladung an Rudi Dutschke, bei Ihnen in Kalifornien seine Dissertation jetzt in Ruhe fertigzustellen, aufgrund von Presseattacken und Drohbriefen zurückgezogen?

MARCUSE: Das ist nicht richtig. Das Gerücht, daß ich mich in irgendeiner Weise nicht mehr mit Rudi Dutschke solidarisch erkläre, ist meiner Meinung nach ein gemeiner journalistischer Trick. Die Tatsachen sind, daß sobald in Kalifornien die Nachricht auftauchte, daß Rudi Dutschke vielleicht nach San Diego kommen könnte, um dort eine Dissertation fertigzumachen, eine systematische Hetze eingesetzt hat, Drohbriefe, Todesdrohungen, Abschneiden des Telefons usw., mit anderen Worten eine Stimmung geschaffen worden ist, in der dem Rudi das Leben in Kalifornien zur Hölle gemacht werden konnte. Ich habe damals — ich war nicht in Kalifornien, sondern in Boston —, der Zeitung erklärt, daß ich nach wie vor sehr glücklich wäre, wenn Rudi Dutschke mit mir studieren und seine Dissertation fertigmachen würde, daß ich es aber nicht verantworten könne, sein Leben noch einmal zu riskieren und ihm zuzureden, nach Kalifornien zu kommen. Er hätte in Kalifornien keine ruhige Minute. Ich möchte diese Gelegenheit benutzen, um nochmal ausdrücklich zu erklären, daß alle Versuche, zwischen Rudi Dutschke und mir irgendwelche Differenzen oder Entfremdungen oder was es auch sein möge von meiner Seite zu konstruieren, reine Unwahrheiten sind.

PARDON: Daran anschließend: Wie beurteilen Sie nach den Vorkommnissen bei der Belagerung der für Springer arbeitenden Druckhäuser und der Pariser Barrikadenschlachten die Notwendigkeit und den Erfolg von Gegengewalt?

MARCUSE: Ich glaube, ich kann mich hier auf den alten Satz zurückziehen — ich weiß nicht genau, ob er von Marx oder Engels stammt: daß Revolutionen immer genauso gewalttätig sind, wie die Gewalt, der sie begegnen.

Die Gewalt ist heute zu einer ganz gefährlichen semantischen Ideologie geworden. Man nennt nicht Gewalt, was in Vietnam geschieht; man nennt nicht Gewalt, was von der Polizei ausgeübt wird, man nennt nicht Gewalt die Verheerungen, die Folterungen, die Erniedrigungen, die Vergiftungen, die täglich im bereich des Kapitalismus vorkommen; man nennt Gewalt, beschränkt den Ausdruck Gewalt auf die Opposition. Für mich ist es jedenfalls eines der heuchlerischsten, hypokritischsten Sprachwendungen, zu beklagen, daß in Paris ein paar Automobile verbrannten, während z. B. auf den Straßen der entwickelten Industrieländer Tausende von Automobilen im Verkehr vernichtet werden; daß man die Gewalt der Verteidigung mit der Gewalt der Aggression in einem Atem nennt. Die beiden sind völlig verschieden.

PARDON: Es bleibt also bei der Beurteilung, die Sie in Ihrer Schrift oder Ihrem Beitrag zur »Kritik der reinen Toleranz« gegeben haben? Daran hat sich nichts geändert?

MARCUSE: Ich stehe dazu, was ich in diesem Essay geschrieben habe, ja.

PARDON: Eine abschließende Frage noch, Herr Marcuse: Wie kann die revolutionäre Bewegung dem wirtschaftlichen Trend vom Arbeiter zum Angestellten Rechnung tragen? Sind die Angestellten, trotz ihrer immer wieder analysierten stärkeren Integrierung, ein denkbares revolutionäres Potential oder stirbt die Revolution mit dem letzten Arbeiter?

MARCUSE: Ich glaube nicht, daß die Revolution stirbt, solange es noch eine Klassengesellschaft gibt. Und ich glaube bestimmt nicht, daß sie mit dem letzten Arbeiter stirbt. Ich glaube noch nicht einmal, daß der letzte Arbeiter stirbt. Ich habe schon im Lauf dieser Unterhaltung gesagt, eigentlich ist a 11 e s heute potentiell ein revolutionärer Faktor. Die Angestellten — vielleicht — am wenigsten. Die Techniker, Wissenschaftler, Ingenieure, hochqualifizierte Arbeiter, die im Produktionsprozeß gebraucht werden, ja — doch muß ich gerade mit Bezug auf den gefährlichen Begriff der »neuen Arbeiterklasse« betonen, daß in der heutigen Situation diese technische Intelligenzia aktiv sicher keine revolutionäre Gruppe darstellt. In den Vereinigten Staaten jedenfalls gehört sie zu den sehr gut bezahlten gesellschaftlichen Gruppen, die ihre Dienste sehr gerne dem bestehenden System zur Verfügung stellen.

PARDON: Welches Leitwort würden Sie der außerparlamentarischen Bewegung für die nächste Fase des Auf- und Widerstandes mitgeben?
MARCUSE: Ich würde überhaupt kein Leitwort geben. Es ist eines der schönsten und der versprechendsten Anzeichen dieser neuen Bewegung, daß sie nicht auf andere angewiesen ist, nicht auf Autoritäten, die ihr »mots d‘ordre« geben, sondern daß sie ihre »mots d‘ordre« selbst und im Kampf allein herausfindet. Ich finde, diese ausgezeichnete Konstellation sollte man bewahren. Diese »organisierte Spontanität« erscheint mir der beste Ausweg.

PARDON: Herr Marcuse, wir danken Ihnen für dieses Gespräch — in dem der Vorläufer sich sogar überflüssig zu machen versuchten.

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nationale Bewegung Sahra Wagenknecht

koka

 

Make Germany great again!
Sahra Wagenknechts Steilvorlagen für alternative Nationalisten

 

Es ist mittlerweile schon über 10 Jahre her, als ein aufrechter Sozialdemokrat, den Nationalismus seiner Partei verraten sah. Lauthals warnte er vor der nationalen Gefahr schlechthin, dem nationalen Abstieg Deutschlands in der Hierarchie der Staaten: Sein oder Nicht-Sein! — das verstand er mit einem Buch auf die Tagesordnung der öffentlichen Meinung zu setzen. Nie sollte es gerade die Sozialdemokratie an nationaler Verantwortung fehlen lassen, seit sie sich entschlossen hat, diese zu übernehmen (was schon etwa 130 Jahre zurückliegt) und zwar unter Zurückstellung, d.h. auf Kosten der sozialen Frage.

In seine Fußstapfen tritt nun Sahra Wagenknecht, einst führendes Mitglied der Kommunistischen Plattform ihrer Partei DIE LINKE. Sie beschwört ein ums andere Mal den Niedergang der deutschen Industrie und damit den Niedergang Deutschlands. Diesen Aufschrei möchte sie nicht den Faschisten überlassen. Wie ihr Vordenker konstatiert sie nationale Fehlentscheidungen, für die sie die amtierende Regierung verantwortlich macht. Darüber zerfleischt sie sich wie eben jener mit der eigenen Partei. (Anders als jener kommt sie mit ihrem Austritt ihrem Rausschmiß zuvor.) Doch was nimmt die Kostümträgerin nicht alles in Kauf, um Deutschland und ihren an sich guten Eindruck von ihm zu retten!

Einen winzigen Unterschied zu ihrem Vordenker gibt es allerdings. Das betrifft die Nuance, mit der sie die national gesonnenen Gemüter bewegen möchte. Nicht daß der andere nicht eben auch diese bewegen wollte, sie hat es speziell auf die Köpfe der Arbeiterklasse abgesehen. Die soll dem Staat, seiner Staatsräson nicht aus dem Ruder laufen, also Opfer von Rattenfängern werden, womit sie die Neofaschisten von der AfD meint. Nationale Agitation, aber bitte seriös, das ist ihr Anliegen! Das wird immer dann anschaulich, wenn sie anläßlich ihrer Buchpräsentationen verständnislos gefragt wird, warum sie mit jenen nicht gemeinsame Sache mache.

Was die Partei DIE LINKE anbelangt, so trifft sie dort gerade aufgrund ihres publizistischen Erfolgs auf Anerkennung und Verständnis einerseits. Und andrerseits, bei denen ihre nationalen Beschwörungen ein ungutes Gefühl erwecken, auf plakative Ablehnung. Es fällt ihren Kritikern offenkundig ungemein schwer, ihre Positionen zu widerlegen.

Als ob es einem Linken nicht scheißegal sein kann, wohin die Nation steuert! Hat die Arbeiterklasse nicht ohnehin immer die Kosten zu tragen? Profitiert sie etwa von einem Wirtschaftsaufschwung oder dem Aufstieg der Nation an die Weltspitze? Gibt es Linke, die Märchen für bare Münze nehmen? Sind alle Linken nun überzeugte Nationalisten, die materiellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse für nichts achten? Bedürfnisse, die gegen Staat und Kapital durchgesetzt werden müssen, wie ein nicht gerade unbekannter Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts einmal nachgewiesen hat?

Wer wie Wagenknecht und die AfD eine alternative — wirklich alternative — Staatsräson proklamiert, der hat anderes im Sinn, als der Arbeiterklasse Wohltaten zu verschaffen. Für den ist sie ebenso Manövriermasse des Staates und dessen jeweiliger Räson inklusive Verwertungsmasse seiner Wirtschaft.

Von ihrer einstigen kommunistischen Attitüde hat sich Sahra Wagenknecht so weit wie nur irgend möglich entfernt. Für sie ist die soziale Frage so nebensächlich geworden wie sie in Anbetracht der nationalen Herkulesaufgabe auch sein muß. Wenn Sahra Wagenknecht gelegentlich diesen Vorwurf dementiert, dann allein deshalb, um ihrem Publikum den für nötig erachteten Politikwechsel schmackhaft zu machen. Verbesserungen sollen sich — siehe das erwähnte Märchen von vorhin — ohnehin allein und automatisch aus dem Aufschwung der Nation ergeben! Jede Notwendigkeit ist damit ausgeschlossen!

Damit entwickelt sie eine Tradition der SED weiter, die jeden Gegensatz zwischen nationaler und sozialer Frage geleugnet hat. Vorzugsweise hat jene Partei ihre Bürger für ihren Staat und dessen Staatsräson erzogen. Soziale Leistungen waren dabei ein Mittel zu diesem Zweck! Nun im Westen angekommen, sind sie noch nicht mal das! Diesen Beweis hat Sahra Wagenknecht ihrem Publikum ganz ungewollt erbracht! Die kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte macht soziale Leistungen so überflüssig wie sie ganz automatisch stattfinden, sofern sie eben stattfinden! Kein Wunder, daß ihre nationale Bewegung in der Ostzone den größten Rückhalt hat — dort glauben eben viele stur, es in der BRD einfach doch besser getroffen haben zu müssen.

27.10.2023
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imperialistischer Gegensatz im Fall Nord-Stream-Pipelines

koka

 

Der Fall Nord-Stream:
Die vielbeschworenen deutschen Gemeinsamkeiten mit den USA

 

Offensichtlich ist — wie so Vieles — der deutschen Öffentlichkeit folgendes nicht erklärungsbedürftig: Bundeskanzler Scholz reiste nach Washington und demonstrierte dort herzlichstes Verschwörungsgrinsen mit US-Präsident Biden. Und zwar postwendend nachdem die USA die Gaspipelines Nord Stream gesprengt hatten. Dabei tut es nichts zur Sache, ob sie dies selbst ausführten oder ausführen ließen. Und es bedarf auch nicht eines vielgelobten Journalisten wie Seymour Hersh, um dies zu enthüllen.
Die USA haben die Abkopplung von der deutschen Energieabhängigkeit von Rußland als Preis dafür berechnet, daß sie das deutsche Weltmachtprogramm mit seinem kolossalen Anspruch, die Ukraine in die EU einzugemeinden, militärisch unterstützen, obgleich eine dadurch erreichte Schwächung ihres Hauptwidersachers durchaus nicht weniger in ihrem ureigenen Interesse liegt. Diesen Preis hatte der US-Strippenzieher und Kopf des Präsidenten, Jake Sullivan, schon am 06.02.2022* (also vor Rußlands »Spezial-Operation«) öffentlich beteuert, nachdem die USA schon seit Bestehen des Energie-Projekts ihre vehementen Vorbehalte geäußert hatten. Die deutsche Strategie, Rußland den Einfluß auf die Ukraine zu entreißen und gleichzeitig ihm Erdgas und Erdöl abzunehmen — und das obendrein bei einer Sanktionierung sonstiger Waren —, zeigt den kolossalen Wahnwitz deutscher Weltmachtansprüche. 
Kurzum, die.USA schwächen mit der Pipeline-Sprengung ihren deutschen Konkurrenten und.der tut so, als wäre nichts gewesen: Und zwar einzig deshalb, weil der diesen und offenbar jeden Preis zu zahlen bereit ist, um seine eigenen Weltmachtansprüche voranzubringen. Es paßt dem deutschen Staat wunderbar ins Kalkül, wenn die USA auch diesmal wieder wie im Falle der Zerschlagung Jugoslawiens den allergrößten Teil der Kosten des Gewalteinsatzes zu tragen bereit sind: Deutschland fehlen ja dazu schlicht die Mittel. Dafür gibt der deutsche Staat die günstige Energieversorgung preis. Die Kosten legt er lässig auf die Arbeiterklasse um: Soll die doch Strom sparen und frieren für das großdeutsche EU-Reich!

Die Heuchelei, die der Umarmung der beiden Staatsfuhrer zugrunde liegt, besteht im Schein eines gemeinsamen Interesses, das den imperialistischen Gegensatz beider Staaten überdeckt.
Dies- und jenseits des Atlantiks wird die Heuchelei nicht als solche genommen. Selbst die nationale Opposition nimmt sie nicht wahr, da sie keineswegs am nationalen Interesse zweifelt. Wohl aber will sie die Staatsräson, die dieses Interesse umsetzt, konsequenter verfolgt sehen: Expräsident Trump wirft Deutschland unverhohlen vor, viel zu wenig für das Projekt Ukraine zu leisten, ein Projekt, das im engeren Sinne, wie er meint, kein us-amerikanisches ist. Die CDU besteht auf der Konsequenz der Heuchelei und ist der Meinung, daß die Gemeinsamkeit im NATO-Bündnis deutscherseits viel mehr unterstrichen gehört. Sie befürchtet allenthalben und das durchaus zurecht, daß im Militärbündnis nicht alle am Ukraine-Strang fest genug ziehen. Dabei hat sie es nur in der Hinsicht schwer, als die SPD/Grüne-Regierung ja nun wirklich alles tut, es weder an eigenem Kriegswillen noch an ihrer Bündnis-Verpflichtung fehlen zu lassen.
Nichtsdestotrotz werden US-Republikaner und BRD-Christdemokraten bei anstehenden Wahlen nicht chancenlos sein. Das liegt daran, daß die Arbeiterklasse die Kosten, die sie zu tragen hat, für zu hoch empfindet. Freilich nicht einfach so, daß sie damit auf staatskritische Gedanken verfiele. Vielmehr übersetzt sie — nicht zuletzt durch die nationalistische Agitation der Gewerschaften (der sie großenteils bedingungslos folgt) — ihre Lage in ein verfehltes oder zumindest schlecht kalkuliertes Staatsprogramm: Die Politik habe versagt, neues Führungspersonal müsse her!

* Sullivan in: https://www.foxnews.com/transcript/fox-news-sunday-on-february-6-2022
»And we have been absolutely clear that if Russia invades Ukraine, one way or the other, Nord Stream 2 will not move forward. That's leverage for us that we have right now, so we intend to use that leverage and Vladimir Putin has a choice to make. If he chooses to move on Ukraine, he will not be getting the benefits of Nord Stream 2.«

15.10.2023
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bluete

corona-virus

koka

 

Die Arbeiterklasse in den Zeiten eines Corona-Virus
Zurechtgespritzt auf eigene Kosten!
 

Die Sachlage wurde und wird von den ihr zugrundeliegenden Interessen bestimmt. Da ist zum einen der Staat mit seiner kapitalistischen Staatsräson, der sich um Gesundheit und Wohlbefinden, d. h. Arbeitsfähigkeit seiner Bevölkerung sorgt, denn sie ist die Masse, mit der er manövriert und kalkuliert. Da ist zum anderen die Wirtschaft, die der Staat als private freigesetzt hat, weil sie so für den Reichtum sorgt, der seine ökonomische Grundlage ist.

Nun tauchte ein Virus auf, das mehr noch dem Staat als seiner Wirtschaft Sorge bereitete. Die Zahlen positiv auf ein neuartiges Coronavirus getesteter Personen sowie der angeblich durch dieses Virus getöteten Personen wurde täglich von der Johns Hopkins Universität in Baltimore veröffentlicht und sie stiegen, nach Staaten sortiert, allüberall von Tag zu Tag rasant in die Höhe. Kurzum, jeder oberflächliche Betrachter, der zudem einer Universität vertraut, konnte nicht nur, sondern mußte in Panik geraten.

So deklarierte die Weltgesundheitsorganisation die durch jenen Virus namens SARS-CoV-2 hervorgerufene Erkrankung Covid-19 alsbald zur Pandemie. Die staatlichen Stellen waren also zur Tat veranlaßt, ja verurteilt. So auch die deutsche Bundesregierung.

Doch die Wirtschaftsordnung wäre keine kapitalistische, wenn sich aus der staatlichen Notlage nicht ein Geschäft machen ließe. Die Farmafirmen trafen eine um Hilfe ringende Politik an und sie machten ihr ein Angebot. Der fiel dieses Angebot wie Manna vom Himmel.

Da die Farmafirmen allerdings um die Gefährlichkeit ihrer gänzlich neuartigen Präparate — RNA- und Vektorimpfstoffe — wußten — sie waren ja weder in Langzeitstudien getestet noch auf diverse unerwünschte Wirkungen untersucht worden (Verantwortliche der Firma Pfizer mußten das unlängst in einer Anhörung vor dem australischen Senat einräumen!) —, verlangten die Firmen, bei staatlicher Zulassung aus der Haftung genommen zu werden. In seiner Notlage kam der Staat diesem Wunsch nach und zwar mit einer Vereinbarung zum beiderseitigen Nutzen. Für die Gesundheit seiner Bevölkerung wollte er jenseits aller Risiken wirklich nichts unversucht lassen.
Ganz obendrein konnte er auch dem Farmakapital einen Dienst erweisen, es nämlich für Innovationen in die vielversprechende Biotechnologie fördern. Und der deutsche Nationalismus wurde mit der Start-Up-Firma BioNTech auch noch bedient, einer Firma übrigens die ohne die Zusammenarbeit mit und die Unterstützung durch den US-Konzern Pfizer das nicht erreicht hätte. Und übrigens jubelte auch die türkische Gemeinde hierzulande, weil die beiden Firmengründer Türken (mit deutschem Paß) sind.

Daß Pfizer jetzt daran geht, aus den selber mit seinen RNA-Impfstoffen verursachten Schäden mit der Entwicklung von Medikamenten dagegen wiederum ein Geschäft zu machen, unterstreicht die ganz normale profitintensive Perversität kapitalistischen Wirtschaftens.

Unabdingbar dazu gehört eine gehörige staatliche Ignoranz, einer solchen Firma einen Blankoscheck auszustellen, wie das (nicht als einziger) der deutsche Staat getan hat: Das kam seinen Insassen, die geimpft wurden, hauptsächlich gesundheitlich teuer zu stehen. Nebensächlich haben sie auch noch die finanziellen Kosten des Staates, der die seinen auf sie umlegt, zu tragen.

Und bis heute hält der deutsche Staat an einmal gefällten Beschlüssen dogmatisch, resistent gegen jeden Einwand fest. Ganz so, als wolle er beweisen, wie totalitär seine viel gelobte Staatsform — Wahlen hin, Wahlen her — einfach sein muß, um als die einzig wahre zu gelten. Die nachpandemischen Impfstoff-Ausstiegsvereinbarungen mit der Farmaindustrie bestätigen im übrigen, daß das Vertrauensverhältnis nicht gestört und von jener weiterhin als lukrativ betrachtet werden kann.

Worüber kann man anhand dieser kurzen Darstellung der Begebenheiten zum Nachdenken veranlaßt werden? Es ist so manches schlicht unterstellt, was, obwohl prüfungsbedürftig, weder überprüft noch aufgearbeitet wurde:

Die Art von Tests, welche die Krankheit Covid-19 diagnostizieren soll. Sie diskreditieren sich schon dadurch, daß jeder, eben auch derjenige, der keinerlei Krankheitssymptome hat, getestet wird — und dann ohne Berücksichtigung klinischer Symptome als krank gilt, so der Test aufgrund eines beabsichtigt großzügig festgelegten Schwellwerts positiv ausfällt.

Die Art von Therapien (Intubation, Remdesivir), die nicht selten zum Tode von positiv getesteten Personen geführt hat oder aber zumindest zu zusätzlichen Schädigungen (Molnupiravir), allesamt Therapien, die zu Anfang noch nicht auf Impfstoffe zurückgeführt werden konnten, weil jene bis dato noch nicht zugelassen waren.

Die Art von Wirkungen der dann zugelassenen Impfstoffe, die profylaktisch anschlagen sollten, also eine Therapie überflüssig machen sollten und allenthalben grundsätzlich positiv eingestuft wurden: Die Herstellerfirmen verwiesen auf — von ihren eigenen Wissenschaftlern vorgelegte — Studienergebnisse. Unerwünschte Wirkungen, sogenannte »Neben«-Wirkungen würden nicht ins Gewicht fallen.

Der Staat vertraute nicht nur diesen Firmen, auch seinen von ihm selber bezahlten Behörden, insbesondere dem Robert-Koch-Institut sowie beauftragten Einrichtungen wie der Ständigen Impfkommission (STIKO), die sich fast gar nicht mit den Impfstoffen, dafür umso mehr mit dem speziellen Corona-Virus als solchen befaßten und diesen für so wahnsinnig gefährlich einstuften, als verfügte ein Mensch nicht über ein über Generationen geschultes hervorragendes Immunsystem — das solange es in Takt bleibt — mit allerhand Viren und Bakterien fertig wird.

Daneben durfte auch noch der »Deutsche Ethikrat« seinen Senf dazugeben: Er plädiert für eine »moralische Impfpflicht«; da er den staatlichen Druck offenbar für weitgehend ausreichend hält, ist er für Zwangsmaßnahmen allein im Gesundheits- und Bildungsbereich.

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Zu den naturwissenschaftlichen Punkten einige Ausführungen von dem Mikrobiologen Dr. rer. nat. Gerhard Mittenhuber (er war an diversen in- und ausländischen Universitäten tätig):

 

1. Das Immunsystem(0)

Immunität nach einer überstandenen Infektionskrankheit schützt den Körper vor einem erneuten Ausbruch der Krankheit. Aber auch nicht infektiöse, körperfremde Substanzen können eine Immunreaktion auslösen (siehe Allergien). Das Wort »immunis« bedeutet hier »frei von Infektionen«, Immunität steht für »Unverletzlichkeit« oder »Unantastbarkeit«.

Das Immunsystem dient der Abwehr potenziell schädlicher Moleküle und Zellen und stellt ein komplexes Netzwerk interagierender Organe, Zelltypen und Botensubstanzen dar. Es entfernt Krankheitserreger aus dem Organismus und zerstört befallene oder krankhaft entartete Körperzellen.

Dieses System besteht aus zwei Hauptbestandteilen, dem unspezifischen Immunsystem und dem spezifischen Immunsystem. Das unspezifische Immunsystem wird auch angeborenes Immunsystem genannt, das spezifische auch adaptives oder erworbenes Immunsystem.

Nicht zum Immunsystem gehören Körperoberflächen, die jedoch eine erste mechanische und biochemische Barriere gegenüber eindringenden Mikroorganismen bilden. Dazu gehören die Haut, sowie die Schleimhäute des Atmungs- und Verdauungstrakts. Talg, Schweiß und Schleim sowie die Normalflora von Haut und Darm dienen als Wachstumsbremse für pathogene Bakterien, das Lysozym in der Tränenflüssigkeit und im Speichel löst die Zellwände von Bakterien auf. Schleim und Körpersekrete spülen Bakterien und Viren von Körperoberflächen ab.

Das unspezifische Immunsystem besteht aus einer Reihe unterschiedlicher Leukozytentypen (weiße Blutkörperchen, z. B. Makrophagen [Freßzellen], Mastzellen, dendritische Zellen etc.), dem Komplementsystem (etwa 30 Proteine im Blutplasma, die kaskadenartig aktiviert werden, als Resultat dieser Aktivierung Poren in Zellmembranen bilden und die angegriffenen Zellen dadurch zerstören) und Zytokinen (Botenstoffen), die der Kommunikation zwischen den Leukozyten dienen.

Das spezifische Immunsystem beruht auf der Erkennung körperfremder Strukturen und deren Bekämpfung. Diese Strukturen werden Antigene genannt. Das spezifische Immunsystem besteht aus zwei Leukozytentypen, den T-Zellen (T steht für Thymus, ein Organ in der Nähe des Herzens, in dem die T-Zellen reifen) und den B-Zellen (B steht für Bursa fabricii, ein Organ, in dem bei Hühnern die B-Zellen entstehen, bei Säugern und beim Menschen findet die Bildung von B-Zellen im Knochenmark statt).

Antigene, die von B-Zellrezeptoren erkannt werden, sind meistens Proteine, oder Proteinfragmente (Peptide), können aber auch Polysaccharide, Lipide, Nukleinsäuren oder andere Substanzen sein. T-Zellrezeptoren binden meistens Peptide.

Ausgereifte T-Zellen vermitteln zellbasierte spezifische Immunität, während ausgereifte B-Zellen für die Synthese von Antikörpern zuständig sind. Bei dem Reifungsprozeß ist es extrem wichtig, daß die T- und B-Zellen, die körpereigene Strukturen erkennen, abgetötet werden. Im Thymus findet diese negative klonale Selektion der T-Zellen statt, während die B-Zellen eine Reihe von Kontrollstationen im Zuge ihrer Entwicklung durchlaufen. Nur diejenigen T- und B-Zellen, die körperfremde Antigene erkennen, überstehen diesen strengen Selektionsprozeß.

Bei einer Erstkontaktinfektion durch einen Krankheitserreger steht das unspezifischeImmunsystem sofort zur Verfügung, während das spezifische Immunsystem bis zu 14 Tagen zur vollständigen Ausprägung der Immunantwort benötigt. Der Kontakt mit einem Antigen bewirkt eine positive klonale Selektion von T- und B-Zellen, das heißt, diese Zellen beginnen sich zu teilen, die klonalen T-Zellen erfüllen ihre spezifischen Funktionen: Sie differenzieren sich in zytotoxische T-Zellen, welche die infizierten oder entarteten (Krebs-)Zellen abtöten, T-Helferzellen, die B-Zellen aktivieren, T-Gedächtniszellen und regulatorische T-Zellen. Die B-Zellen beginnen nach Stimulation durch T-Helferzellen, Antikörper zu bilden. B-Zellen bilden auch Gedächtniszellen aus. Dank T- und B-Gedächtniszellen verringert sich die Zeitspanne bis zur vollständigen Ausprägung der spezischen Immunantwort bei einer wiederholten Infektion mit demselben Erreger erheblich.

Die von den B-Zellen produzierten Antikörper werden auch Immunglobuline (Ig) genannt, unterscheiden sich in ihrer molekularen Struktur und lassen sich in verschiedene Klassen einteilen. Zu Beginn einer Infektion werden sogenannte IgM-Antikörper gebildet, die nach ein paar Tagen oder Wochen verschwinden. Danach findet ein Klassenwechsel statt und der B-Zellklon produziert langlebigere — d. h. Monate — IgG-Antikörper. Bei Atemwegsinfektionen werden auch IgA-Antikörper produziert, die auf die Schleimhaut der Atemwege transportiert werden und durch ihre Anwesenheit die mechanische Barriere um eine immunologische ergänzen. IgA-Antikörper sind charakteristisch für externe Körperflüssigkeiten.

2. SARS-CoV-2

SARS-CoV-2 wird zusammen mit dem MERS-Virus, SARS-CoV, dem Erreger der SARS-Epidemie von 2003 und den beiden humanpathogenen, Erkältungen auslösenden Viren OC43 und HKU1 zu den Betacoronaviren gerechnet. Zwei weitere humanpathogene Erkältungsviren, NL63 und 229E gehören zu den Alphacoronaviren(1).
Das Genom von SARS-CoV-2 besteht aus einzelsträngiger RNA, die etwa 30000 Nukleotide lang ist(1). Es codiert insgesamt elf Proteine(1), ein 7096 Aminosäuren (AS) langes Polyprotein, das prozessiert (in kleinere Proteine gespalten wird und den RNA-Polymerase-Komplex bildet), das 1273 AS lange Spikeprotein, ein 75 AS langes Hüllprotein (E für Envelope), ein 222 AS langes Membran-Glycoprotein (M), ein 419 AS langes Nukleokapsid-Protein (N) sowie weiter sechs Proteine, die verschiedene enzymatische Funktionen bei der Herstellung und Reifung der Viruspartikel erfüllen (sogenannte nSPs: nicht Struktur-Proteine).

Einzigartig für SARS-CoV-2 ist das Vorkommen einer sogenannte Furin-Spaltstelle (ein vier AS langes Insert mit der Sequenz PRRA [Prolin-Arginin-Arginin-Alanin]) im Spikeprotein. Diese Sequenz kommt nicht in den Genomen der anderen humanpathogenen Coronaviren vor. Eine Protease der Wirtszelle, das Furin, spaltet das Spikeprotein an dieser Stelle, wodurch das Eindringen des Virus in Lungenzellen ermöglicht wird(2).

3. SARS-CoV-2-Infektion

Was nun passiert bei der Infektion einer Zelle mit SARS-CoV-2, einem Atemwegsvirus: Das Virus benötigt eine Andockstelle. Bei SARS-CoV-2 ist dieser Rezeptor ein Protein auf der Zelloberfläche namens ACE2. Das Spike Protein des Virus erkennt mit seiner Rezeptorbindestelle (RBD: receptor binding domain) das ACE2-Protein, das in der Zellmembran vieler menschlicher Gewebe lokalisiert ist(3). Nach der Bindung der Spike-RBD an ACE2 verschmilzt die Membran von SARS-CoV-2 mit der Zellmembran, wobei das Virus einen Zugang zum Zytoplasma der Wirtszelle erhält. Die Erbinformation des Virus (bei SARS-CoV-2 ist dies einzelsträngige RNA) wird in das Zytoplasma der Wirtszelle geschleust.Nun nutzt das Virus den Syntheseapparat und die Ressourcen der Wirtszelle, um Kopien seiner selbst anzufertigen. Dazu wird die einzelsträngige RNA kopiert, die dazu notwendige RNA Polymerase wird vom Virusgenom codiert. Ebenso wird die Erbinformation des Virus abgelesen und die entsprechenden Virusproteine hergestellt. Aus den neu kopierten RNA-Molekülen und den neu produzierten Proteinen werden neue Viruspartikel hergestellt. Bei starkem Befall kann die Wirtszelle zugrunde gehen.

Bei der Replikation der SARS-CoV-2 RNA entsteht als Intermediat doppelsträngige RNA (dsRNA); dsRNA kommt in der normalen Zellphysiologie nicht vor. Das Auftreten von dsRNA ist ein Warnsignal. Die Körperzellen haben Rezeptoren für dsRNA, wodurch sowohl das unspezifische als auch das spezifische Immunsystem alarmiert und in Gang gesetzt wird. Auch werden Fragmente der neu synthetisierten Virusproteine an einen Proteinkomplex an der Zelloberfläche der infizierten Zelle gebracht. Dieser Komplex heißt MHC (major histocompatibility complex, Haupthistokompatibilitätskomplex). Der MHC sitzt auf der Oberfläche jeder Körperzelle und bildet eine Art Bilderrahmen, in dem von der Zelle produzierten Peptide zur Inspektion durch das Immunsystem präsentiert werden. Wenn im MHC unbekannte Peptide präsentiert werden — sei es durch Mutationen in der DNA der Körperzelle oder durch Pathogenbefall wird das spezifische Immunsystem aktiv. Die passenden T- und B-Zellen erkennen das Peptid als körperfremd, beginnen sich zu teilen und verwirklichen die spezifische Immunantwort.

T- und B-Zellen werden zusammen mit den NK(natural killer)-Zellen, einer Untergruppe der Leukozyten des angeborenen Immunsystems zu den Lymphozyten gerechnet. Lymphozyten patrouillieren über Lymphbahnen und das Blutgefäßsystem permanent durch den Körper und können auch durch Organe und Gewebe wandern, wobei die B- und T-Zellen die im MHC präsentierten Peptide kontrollieren.

Zusammengefaßt versucht das Immunsystem also, infizierte Zellen mitsamt der Viruspartikel schnell und vollständig zu eliminieren, bevor die neu synthetisierten Viren die Wirtszelle zerstören und sich so weiter ausbreiten können — ein Wettlauf mit der Zeit. Dennoch freigesetzte Viren werden durch Antikörper bekämpft. Für die Aufklärung des Mechanismus der T-zellbasierten Erkennung virusinfizierter Zellen erhielten Peter Doherty und Rolf Zinkernagel 1996 den Nobelpreis für Medizin. Vor ihrer Entdeckung war der MHC hauptsächlich Transplantationsforschern ein Begriff, die in ihm einen ärgerlichen Faktor sahen, der erfolgreiche Organtransplantationen durch Abstoßung der transplantierten Organe verhinderte. Letztendlich induziert die mRNA-Impfung eine Abstoßungsreaktion des spikeproteinproduzierenden Gewebes. 

Weitere Untersuchungen zeigten, daß drei verschiedene Untergruppen des MHC existieren, MHC-I aktiviert zytotoxische T-Zellen, MHC-II aktiviert T-Helferzellen und in der Folge B-Zellen, MHC-III umfaßt Teile des Komplementsystems. Dank MHC-I und MHC-II kann das spezifische Immunsystem intrazelluläre (MHC-I: Bekämpfung durch zytotoxische T-Zellen) von extrazellulären Pathogenen (MHC-II: Bekämpfung durch Antikörper) unterscheiden. Im Gegensatz zu MHC-I, der praktisch auf jeder Körperzel le vorhanden ist, ist MHC-II auf wenige spezialisierte Zellen des Immunsystems, den »professionellen antigenpräsentierenden Zellen« (APC) beschränkt MHC-II erkennt extrazelluläre Proteine. Diese werden von den APC aufgenommen, fragmentiert und im MHC-II »Bilderrahmen« präsentiert.

4. Kreuzimmunität

Seit den Tagen von Edward Jenner, der 1796 die Kuhpockenimpfung gegen Pocken erfand, ist das Fänomen bekannt: Ein Kontakt mit einem harmlosen Krankheitserre-ger schützt vor einer Infektion mit einem nah verwandten, tödlichen Pathogen. Bei Covid-19 existiert eine ähnliche Situation. Vier humanpathogene Coronavirenstämme (229E, NL63, HKU1, OC43), die harmlose Erkältungserkrankungen verursachen, sind bekannt. Das menschliche Immunsystem hat gelernt, mit diesen Viren umzugehen.
Zwei Studien zeigten, daß insbesondere eine vorherige Infektion mit OC43 vor einem schweren Covid-19-Verlauf schützt(4). Bis Oktober 2021 erschienen über 160 Veröffentlichungen, die sich mit natürlich erworbener SARS-CoV-2-Immunität beschäftigen(5). Diese ist in der Bevölkerung weit verbreitet. In einer Studie aus Tübingen wurde bei vorher nicht mit SARS-CoV-2 in Berührung gekommenen Personen zu 81% Kreuzreaktionen aufgrund vorheriger Infektionen mit Erkältungscoronaviren festgestellt(6).

5. Konventionelle Impfung

Der Impfzweck besteht darin, gegen einen Krankheitserreger eine sterile Immunität hervorzurufen. Sterile Immunität resultiert im Schutz vor Infektion und verhindert die Weitergabe (Transmission) des Erregers an Dritte durch die geimpfte Person. Sie ist damit neben der Impfquote und der Basisreproduktionszahl einer der Faktoren, die über das Erreichen einer Herdenimmunität entscheidend sind. Auch spielt das Verhalten der Bevölkerung eine Rolle (etwa Mobilität, Art und Dichte der Kontakte).

Generell unterscheidet man aktive und passive Impfung. Bei der passiven Impfung werden lediglich Antikörper verabreicht. So werden etwa bei einer frischen, verunreinigten Wunde bei unzureichendem Schutz gegen Wundstarrkrampf Tetanus-Antikörper zusätzlich zum eigentlichen Antigen verabreicht, um die Reaktionszeit des Immunsystems zu überbrücken.

Die aktive Immunisierung soll das spezifische Immunsystem zur Bildung von B-Gedächtniszellen anregen, sodaß bei einer Infektion keine oder nur eine schwache Erkrankung entsteht. Dabei kommen Lebend- und Totimpfstoffe zum Einsatz. Lebendimpfstoffe bestehen aus attenuierten (abgeschwächten) Erregern, die auch eine T-Zellantwort auslösen, Totimpfstoffe bestehen aus abgetöteten Erregern oder deren Bestandteilen (meist Proteine oder Polysaccharide), die eine gute Antigenizität aufweisen. Bei Totimpfstoffen wird keine T-Zellantwort induziert.

Impfstoffe werden meistens in einen Oberarmmuskel injiziert. Beim Impfstoffdesign und bei der Verabreichung der Impfstoffe wird manchmal der natürliche Infektionsweg nachgeahmt. So wurde bei Lebendimpfstoffen gegen Polio (Polioviren gehören zu den Enteroviren, die sich im Darm vermehren) eine Schluckimpfung entwickelt, damit sich auf der Darmschleimhaut eine T-Zell- und IgA-vermittelte Immunität einstellen kann. Da sich manchmal nach der Impfung eine impfstoffinduzierte Poliomyelitis entwickelte, wurde ein aus abgetöteten Viren bestehender Totimpfstoff zur intramuskulären Injektion entwickelt. Nur der orale Impfstoff resultierte in steriler Immunität.

Bei Impfungen gegen Atemwegsviren durch intramuskuläre Impfstoffinjektion kann weder Schutz vor Infektion und Virusweitergabe noch Herdenimmunität erzeugt werden, da keine Immunität an der Eintrittspforte, der Schleimhaut von Nase und Rachen induziert wird. Diese Ziele können höchstens durch einen Lebendimpfstoff, der in einem Nasenspray appliziert wird, erreicht werden.

6. mRNA-Impfung

Die Idee hinter einer mRNA-Impfung ist bestechend; die Wunschvorstellung der Hersteller lautet: Durch Verabreichung einer mRNA soll der Körper angeregt werden,selbst ein Protein-Antigen zu produzieren, gegen das dann eine Immunantwort ausgelöst wird. Dazu wird in vitro (im Reagenzglas) synthetisierte mRNA, die für ein Antigen codiert, in eine Lipidhülle verpackt und die resultierenden Nanopartikel in den Oberarm injiziert. Die Nanopartikel verbleiben an der Einstichstelle und werden von Muskelzellen in der Nähe der Einstichstelle aufgenommen. Diese synthetisieren das Antigen, das freigesetzt wird und von den APC via MHC-II erkannt wird. Die B-Zellantwort wird angeworfen und die Antikörperproduktion kommt in Gang. Ferner werden die Nanopartikel auch zu den nächstgelegenen Lymphknoten transportiert und von dort über das Lymph- und Blutgefäßsystem im ganzen Körper verteilt, wodurch spezifische Immunität im ganzen Körper entsteht(7).

7. mRNA-Impfung gegen SARS-CoV-2

Erstmals kam eine mRNA-Impfung flächendeckend zum Einsatz. Die Realität sieht so aus:
Die Nanopartikel, die für das Spikeprotein codierende mRNA als Antigen enthalten, werden über den Blutkreislauf im ganzen Körper verteilt und können auch die Blut-Hirn Schranke sowie die Plazentaschranke passieren. Beliebige Zellen nehmen die Nanopartikel auf, das Spikeprotein wird von den Ribosomen der Empfängerzelle synthetisiert. Wie vorher skizziert, kommt die Antikörperproduktion in Gang.

Aber auch die zytotoxische T-Zellantwort via MHC-I, die letztendlich die Empfängerzelle zerstört, wird aktiviert(8)(9): Die Nanopartikel werden bevorzugt in kleinen Kapillaren, in denen das Blut langsam fließt, von den Endothelzellen der Gefäßwände aufgenommen. Wenn diese Zellen infolge der T-Zellantwort geschädigt werden, kommt es zu kleinen Blutungen, die Blutgerinnung setzt ein, was in Blutgerinnselbildung und Thrombosen (Schlaganfall!) resultieren kann. Bei größeren Schäden an den Endothelzellen können die Nanopartikel auch in das umliegende Gewebe gelangen und von den dortigen Zellen aufgenommen werden. Je nachdem, in welchem Organ sich die geschädigten Kapillaren befinden, kommt es nach der jeweiligen Abwehrreaktion zu den unterschiedlichsten Symptomen. Aber auch größere Gefäße und auch das Herz (Myokarditis, Perikarditis) können durch derartige Autoimmunreaktionen beschädigt werden.

Außerdem werden Nanopartikel zu den Lymphknoten transportiert und durch die Lymphozyten aufgenommen. Diese werden ebenfalls von den zytotoxischen T-Zellen angegriffen und vernichtet. Durch die Reduktion der Lymphozyten erhöht sich die Infek-tanfälligkeit und das Risiko für Krebserkrankungen. Auch können aufgrund des somit geschwächten Immunsystems latente Viren aktiviert werden(10) und schon stabilisierte Krebserkrankungen wiederaufflammen(11).

Diese Schäden treten nach jeder Gabe von mRNA-Impfstoffen auf. Da manche Körperzellen nicht ersetzt werden können, akkumulieren sich diese Verletzungen.

Neben den Autoimmunreaktionen gibt es noch sechs weitere Kritikpunkte:

(1) Die Verpackung der Impfstoffe enthält kationische (positiv geladene) Lipide. Sie dienen dazu, die Ladung der negativ geladenen mRNA zu neutralisieren. Diese Lipide kommen nicht natürlich vor, sind potenzielle Karzinogene und können nicht vom Körper abgebaut werden. Bekannt ist, daß sie sich in der Leber anreichern(12, dort Abb. 1).

(2) Die eingeschleuste mRNA wird von Rezeptoren des angeborenen Immunsystems (toll-like receptors, TLR) als fremd erkannt und durch RNasen abgebaut. Die TLRsprechen weniger stark an, wenn eine der vier Basen der mRNA, das Uridin, durch eine modifizierte Base, das 1-Methylpseudouridin ersetzt wird(13). Durch die geringere Aktivierung der TLR wird das angeborene Immunsystem heruntergefahren, was sich in erhöhter Infektanfälligkeit und Anfälligkeit für Krebserkrankungen äußert(14)Die modifizierte mRNA wird modRNA genannt und kommt in den Impfstoffen zum Einsatz.

(3) Das verwendete Antigen, das Spikeprotein von SARS-CoV-2, ist beileibe kein harmloses Protein, sondern ein hoch toxisches. Eine Arbeit aus dem Paul-Ehrlich-Institut zeigt, daß geringste Mengen des Spikeproteins zu Zellfusionen und damit zum Zelltod führen(15). Es ist gleichzeitig ein Neurotoxin. Es kann Endothelzellen in Hirnkapillaren schädigen und dadurch die Blut-Hirnschranke zerstören(16). Ferner ist das Spikeprotein toxisch für die Leber(17). Es kann auch in Zellkerne eindringen, dort dieDNA-Reparatur stören und in B-Zellen die Bildung von Antikörpern verhindern(18).

(4) Es gibt keinen »Aus«-Schalter für die Spikeproteinproduktion. Es ist unbekannt, wie lange die modRNA im Körper verbleibt und abgelesen werden kann. Eine erste Studie zeigt, daß die modRNA in Lymphknoten bis zu 60 Tage stabil ist — längere Zeiträume wurden nicht untersucht —(19), während die Hersteller und Behörden behaupten, modRNA würde wie mRNA rasch abgebaut. Mittlerweile zeigt eine aktuelle Publikation sogar, daß das Spikeprotein bis zu 187 Tagen nach modRNA-Injektion nachweisbar ist(20). Das hier verwendete Detektionsverfahren (Massenspektrometrie) erlaubt es, Impfstoff-Spikeproteine von SARS-CoV-2 Spikeproteinen zu unterschieden; das nachgewiesene Spikeprotein kann also nicht durch eine SARS-CoV-2 Infektion hervorgerufen worden sein.

(5) Bei der Herstellung der modRNA wird eine DNA-Matrize als Vorlage benötigt. Diese liegt als ringförmiges DNA-Molekül (in der Fachsprache »Plasmid« genannt) vor, das sich in Bakterienzellen replizieren kann. Um genügend DNA-Vorlage für die anschließende modRNA-Synthese werden plasmidhaltige Bakterienzellen in großen Mengen kultiviert und die Plasmid-DNA isoliert. Nach der modRNA-Synthese muß die Plasmid DNA vollständig von der modRNA getrennt und zerstört werden. In einzelnen Impfstoffchargen wurden jedoch intakte Plasmid-DNA in Mengen gefunden, die das Limit der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) um den Faktor 1000 übersteigen(21). Die Auswirkungen des Vorhandenseins dieser DNA ist unbekannt.

(6) Sofern die modRNA abgebaut wird und die entsprechende Zelle Attacken durch zytotoxische T-Zellen überlebt hat, verfügt sie über unphysiologisch hohe Mengen an 1-Methylpseudouridin. Da Zellen gerne ihre Bestandteile recyceln und 1-Methylpseudouridin ein Uridinanalogon darstellt, kann es sein, daß das Analogon anstelle von Uridin in RNAs eingebaut wird – mit unbekannten Konsequenzen. 1-Methylpseudouridin ist ein natürlicher Bestandteil von ribosomaler 18S-RNA(22). Es könnte zu bisher unbekannten Ribosomopathien(23), seltenen Krankheiten, die auf Fehlfunktionen der Ribosomen beruhen, kommen.

Diese sechs Eigenschaften der modRNA-Impfstoffe können zu mehr oder weniger starken unerwünschten Wirkungen (»Nebenwirkungen«) führen, die oft auch in permanenten Verletzungen oder sogar im Tod der Geimpften resultieren. Den Herstellern ist dies bekannt: Der Anhang einer Pfizer-Postmarketing-Studie, listet die Nebenwirkungen [die in den drei Monaten nach der Notfallzulassung in den USA (01.12.2020 bis 28.02.2021) aufgetreten sind] in neun eng bedruckten Seiten — alphabetisch geordnet nach Diagnose — auf(24). Eine kuratierte Liste von wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Gefahren der modRNA-Impfstoffe, die im Jahr 2021 und in denersten drei Monaten des Jahres 2022 erschienen ist, umfaßt mehr als 750 Studien(25).
 

Die folgenden drei Punkte befassen sich mit mehr oder weniger starken Auswirkungen der modRNA-Impfungen auf das Immunsystem und deren Folgen in Bezug auf SARS-CoV-2 Reinfektionen. Fazit: Die modRNA-Impfungen bewirken keine sterile Immunität, sie sind allenfalls formschön, aber zweckfrei.

(1) Eine Studie zeigt, daß die dritte Gabe (»Boosterung«) der modRNA die Produktion von IgG4-Antikörpern bewirkt(26). IgG4, eine Unterklasse der IgG-Antikörper, ist eine Art Etikett für Fremdproteine, die Allergien auslösen können. Dieses Etikett signalisiert dem Körper: Das ist ein lästiges Protein, es lohnt sich nicht, es weiter zu beachten. Diese Immuntoleranz kann verhindern, daß bei einer echten Covid-19-Erkrankung geeignete Immunantworten stattfinden. Tatsächlich zeigte eine Studie, daß das Risiko einer Corona-Infektion mit jeder weiteren Impfung steigt(27).

(2) Beim ADE-Fänomen (antibody dependent enhancement: infektionsverstärkende Antikörper) werden mehr bindende als neutralisierende Antikörper produziert: Im Idealfall sind Antikörper neutralisierend, das heißt die Antikörper binden fest an die Antigene der Virusoberfläche und die Freßzellen des Immunsystems können gefahrlos die Antikörper-Viren-Komplexe vertilgen. Binden die Antikörper jedoch bei einem minimal verändertem Antigen — wie es bei Virenvarianten durchaus der Fall sein kann — dieses weniger fest, können die Viren nach der Aufnahme in die Freßzelle freigesetzt werden und diese Zelle unter Freisetzung von Viren zerstören. Die Infektion verstärkt sich also.
Monoklonale Antikörper, die Covid-Patienten zur passiven Immunisierung verabreicht werden, sowie polyklonale Antikörper, die nach modRNA-Impfung aus Probandenseren gewonnen wurden, wiesen das ADE-Fänomen in Zellkulturen auf(28). Nach Impfung gegen den Wuhan-Hu-1 (= Urvariante des SARS-CoV-2) Stamm zeigten die untersuchten Seren keine neutralisierende Wirkung gegen eine Omikron-Infektion, sondern eine Verstärkung der Virusproduktion. Die Autoren spekulieren sogar, daß die infektionsverstärkenden Antikörper zur raschen Verbreitung der Omikron-Variante beigetragen haben.

(3) Das OAS-Fänomen (original antigenic sin: Antigenerbsünde oder Immunprägung) beschreibt einen Einfluß des Erstkontakts mit einem Virus auf die Immunantwort bei einer Reinfektion: Selbst wenn beim Zweitkontakt ein besser geeignetes Antigen vorhanden ist, konzentriert und beschränkt sich die B-Zell-Immunantwort auf das beim Erstkontakt erkannte Antigen. B-Zellen, die für diese neuen Antigene spezifisch sind, werden unterdrückt. Diese Limitation führt zu einer Beschleunigung der B-Zell-Immunantwort zu Lasten ihrer Breite und Flexibilität.
Röltgen et al(19) stellten auch Immunprägung fest: »Die Infektion mit einer Virusvariante ruft variantenspezifische Antikörper hervor, aber eine vorherige mRNA-Impfung ruft serologische Reaktionen auf Wuhan-Hu-1 und nicht auf die Antigene der Variantehervor.« Auch aus diesem Grund werden die doppelt und dreifach Geimpften immer wieder infiziert.

8. Unterschiede zwischen Impfung mit abgeschwächten Viren und modRNA-Impfung

Befürworter der modRNA-Impfung könnten einwerfen, die Immunreaktionen (zytotoxische T-Tellen und das Komplementsystem greifen fremdproteinsynthetisierende Körperzellen an), die bei der modRNA-Impfung auftreten, treten auch bei der Impfung mit attenuierten Viren auf. Dies trifft sicherlich zu, aber die attenuierten Impfviren können nicht in demselben Maß Gewebeschäden hervorrufen wie die modRNA-Impfung(29). Dafür gibt es zwei Hauptgründe:
(1) Impfviren benötigen einen bestimmten Rezeptor auf der Zelloberfläche, um in die Zelle einzudringen, sie können nur in diejenigen Zellen eindringen, die diesen Rezeptor besitzen. Die LNP hingegen benötigen keinen Rezeptor, sie können über Membranfusion in jede Körperzelle eindringen. Mit wenigen Ausnahmen (Gelbfieber- und Dengueimpfstoffe) sind die Impfviren so beschaffen, daß sie eben nicht in die Endothelzellen des Blutgefäßsystems eindringen können, so wie es die LNP tun(29).
(2) Die Dauer der Antigenexposition variiert beträchtlich. Das Immunsystem ist in der Lage, Impfviren innerhalb weniger Tage zu eliminieren. Beispielsweise wurden attenuierte West-Nil-Viren nach sieben Tagen aus dem Blut und nach vierzehn Tagen aus den Geweben entfernt(30). Das von der modRNA codierte Spikeprotein ist jedoch bis zu sechs Monaten nach der Injektion nachweisbar(20). Der Körper wird folglich monatelang den toxischen Spikeproteinen ausgesetzt.

Der nächste Unterschied macht sich vor allem bei Zweit- und weiteren Impfungen mit demselben Impfstoff bemerkbar(29):

(3) Die Impfviren besitzen Proteinantigene auf ihrer Oberfläche, die LNP nicht. Gegen die Proteinantigene der Impfviren hat das Immunsystem beim Erstkontakt bereits Immunantworten ausgeprägt; das Immunsystem ist in der Lage, die Impfviren effektiv zu bekämpfen. Da die LNP keine Proteinantigene besitzen, verbreiten sie sich unter dem Radar des Immunsystems und dieses wird erst aktiv, wenn die Körperzellen die modRNA aufgenommen haben und das Antigen synthetisieren. Diese Immunreaktionen laufen sehr viel heftiger ab.

9. Epilog

Viele der angesprochenen Tatsachen werden in der offiziellen Reaktion auf das Auftreten von SARS-CoV-2 nicht berücksichtigt. Wie konnten Berater, medizinische Fachgesellschaften [Gesellschaft für Virologie (GfV), Deutsche Gesellschaft für Immunologie (DGfI). Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM)] und Wissenschaftsjournalisten den Nobelpreis für Doherty & Zinkernagel vergessen und übersehen, daß eine Zelle, die ein Fremdprotein herstellt, vom Immunsystem sicher und effektiv zerstört wird? Die Prinzipien der Kreuzimmunität und der natürlichen Immunität, die nach einer überstandenen SARS-CoV-2 Infektion entstanden ist(31), werden weithin totgeschwiegen, obwohl keineswegs unbekannt.

Diese und viele andere »Ungereimtheiten« aufzuarbeiten, liegt offenbar nicht im Interesse des Staates, von seiner kapitalistischen Wirtschaft gar nicht zu reden. Das zeigt auch die herrschende Ideologie, nach der der Mensch, wenn er stirbt, dann so gut wie nie wegen der Impfung und ihren Folgen, vielmehr trotz der Impfung stirbt: Um diese Sichtweise macht sich insbesondere das Paul-Ehrlich-Institut verdient, welches damit befaßt, Impfschäden zu erfassen, diese zugleich relativiert, weil es dadurch seine Existenzberechtigung hat.

Und im übrigen ist die Bevölkerung der »Dritten Welt«, der eine coronabedingte Bevölkerungsreduzierung prognostiziert wurde, bezüglich SARS-CoV-2 heil davongekommen, »obwohl« ihr aufgrund des Patentschutzes die imperialistische Wunderwaffe ein RNA-Impfstoff — versagt bleiben mußte.
 

Referenzen

(0) Die Ausführungen zum Immunsystem sind stark vereinfacht. Ausführlichere Informationen können in jedem einführenden Lehrbuch der Immunologie nachgelesen werden, etwa: Rink L et al. 2018 Immunologie für Einsteiger. 2. Auflage. Springer Spektrum
oder Bröker B et al. 2019 Grundwissen Immunologie, 4. Auflage, Springer Spektrum

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(3) Anonym ACE2 protein expression summary.
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ps://www.proteinatlas.org/ENSG00000130234-ACE2

(4) Podbregar N 2021 Infektion mit Erkältungs-Coronavirus OC43 schützt oft vor schwerem Covid-Verlauf Focus Online
https://www.focus.de/gesundheit/news/corona-antiko-erper-verraet-risiko-fuer-schweren-verlauf_id_13235149.html

(5) Alexander PE. 2021 160 Plus Research Studies Affirm Naturally Acquired Immunity to Covid-19: Documented, Linked, and Quoted Brownstone Institute. 
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Diese Infowebsite von BioNTech enthält auch allgemeine Informationen zum Immunsystem. Sie erwähnt auch die Rolle von cytotoxischen T-Zellen bei der Abwehr von Viren,
https://web.archive.org/web/20230528140133/https://mrnaverstehen.biontech.de/de/startseite/die-antwort-des-immunsystems-auf-sars-cov-2.html

blendet aber deren Aktivierung durch die Synthese des Spikeproteins in Körperzellen vollkommen aus!
https://web.archive.org/web/20230325075857/https://mrnaverstehen.biontech.de/de/startseite/mrna-impfung-fuehrt-zu-einer-immunantwort.html

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Alfred de Musset
 

Alfred de Musset (1810-1857) ist eine der markantesten Figuren unter den Literaten des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den Dramen des Dichters, die zu den meistgespielten des französischen Theaters zählen, erscheint jedoch das Erzählwerk Mussets interessanter. »Meine Hauptaufgabe wird es sein, gegen den [gesellschaftlich etablierten] Verstand zu arbeiten«, bekennt Musset in einem seiner Gedichte. Sein erzählerisches Werk ist derselben antirationalen Haltung verpflichtet. Allerdings äußert er sich in seinen Werken im Gegensatz zu Balzac weniger in Gesellschaftskritik, vielmehr in einem Rückzug in die Innerlichkeit, was sich manifestiert sich bereits in der Themenwahl manifestiert, die sich auf die enge Basis der Liebeserfahrung beschränkt. Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Schmerz, Erinnerung — das sind die Themen, die Musset aufgreift und ganz im Sinne seiner Zeit verarbeitet. Über Chateaubriands Formel des »vogue des passions« hinaus, die für das Lebensgefühl einer Epoche stand, analysiert Musset, der »klassischste unter den Romantikern« (der  Literaturhistoriker Désiré Nisard), jedoch gleichzeitig die Weltschmerzstimmung seiner Generation, die er auf die gesellschaftliche und politische Umbruchsituation zurückführt.
Der Roman »Bekenntnisse eines Kindes seiner Zeit«, einer der größten zeitgenössischen Bucherfolge, ist ebenso poetische Schilderung des »mal du siècle« wie gesellschaftskritische Bestandsaufnahme. Der autobiografische Hintergrund, Mussets berühmte und 1834 in einem Zerwürfnis endende Liebesbeziehung zu George Sand, weitet sich zu einer umfassenden Analyse der seelischen Realität einer Jugend unter der nachnapoleonischen Ära. Auch in den Erzählungen greift Musset — immer im Rahmen der zentralen Liebesthematik — mit Vorliebe aktuelle Fragestellungen auf. Künstlerisch setzt er sich dabei zugleich mit den Produktionszwängen einer aufkommenden Massenliteratur — die erzählende Prosa war Mussets Broterwerb — und dem literarischen Genre des Feuilleton-Romans auseinander. Nach den bekannten Grisetten-Novellen (»Mimi Pinson«) beschließt eine neu entdeckte Erzählung aus dem Spätwerk den Band, der das ganze Spektrum der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten Mussets sichtbar macht. »Emmeline«, »Der Sohn des Tizian«, »Frédéric und Bernedette«, »Der Mann mit den zwei Geliebten«,und »Piere und Camilla« gehören zweifellos zu den Glanzlichtern französischer Literatur des 19. Jahrhunderts. 
Iwan Bloch hat sich ausführlich der Frage gewidmet, ob »Gamiani« oder »Zwei Nächte der Ausschweifung« zum Werk Mussets gehören, gewidmet. In einer ausführlichen Abhandlung konnte er dies nachweisen. Zuhilfe kam ihn da unter anderen (K. M. Kertbeny, Charles Baudelaire und Alfreds Bruder Paul de Musset) Mussets Zeitgenosse Heinrich Heine, der schrieb: "Wenn ich Ihnen [Alfred Meißner] sage, daß seine einzige größere Produktion aus neuerer Zeit dem bedenklichen Genre angehört, wissen Sie genug. Das Ding heißt »Deux nuits d'excès« Sie können es sich bei geheimen Verschleißern schmutziger Ware im Palais Royal verschaffen. Es ist ein Büchlein, das Kaiser Tiber auf Capri jedenfalls in seine Handbibliothek aufgenommen hätte." (Alfred Meißner, Geschichte meines Lebens, Band 1, Hofbuchhandlung Prochaska, Wien/Teschen, 1884) Nachzulesen ist Blochs Recherche in der Gamiani-Ausgabe des Parkland Verlags, Stuttgart, 1992.
Der Verfasser der zeitnahen, ausführlichen Musset-Biografie ist Paul Lindau (Hofmann & Comp., Berlin, 1877).

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