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Antisemitismus Faschismus Zionismus

koka

 

Antisemitismus, Faschismus, Zionismus
Die Logik der Ausrottung
 

Zweifellos ist es so, daß nicht alle Juden Zionisten, Parteigänger des Staates Israel sind. Nur ist es so, daß all die Juden, die das nicht sind, von den Zionisten für sich vereinnahmt werden und nicht allein von diesen. Und das auch noch mit Berufung auf den Massenmord an Juden durch die deutschen Faschisten, der offiziell als Holocaust bezeichnet wird.
Auch die Chefideologen der neuen nationalen Bewegung, Adolf Hitler und Alfred Rosenberg, sahen in ihrer Anfang der 1920er Jahre entwickelten Verschwörungsideologie die Juden als zionistische Gesamtmasse. Allerdings hatte die NSDAP nach der Machtübernahme 1933 durchaus ihre Schwierigkeiten, ihre Judenfeindschaft umzusetzen. Das lag an der Exportabhängigkeit Deutschlands und den Boykottbewegungen gegen es insbesondere in den USA und Großbritannien. Zunächst hatte die NSDAP einen zionistischen Staat in Palästina in ihr Verschwörungsgebäude eingepaßt, indem sie dem Zionismus unterstellte, für sein Streben nach Weltherrschaft eine sichere Ausgangsbasis schaffen zu wollen. Sodann, ab 1933, sah man die Auswanderung der Juden ins britische Mandatsgebiet Palästina als gar nicht so übel an, was das Haavara-Abkommen bezeugt, welches zwischen dem Wirtschaftsministerium und der »Zionistischen Vereinigung für Deutschland« geschlossen wurde: Man hoffte, die Wirtschaftslage dadurch gewissermaßen entspannen zu können. Nun wurde der Staat zu seinem Verdruß auf diese Weise keineswegs genügend Juden los, viel zu sehr waren die Juden als deutsche Staatsbürger in Deutschland eingehaust. Und die Boykottbewegungen im Ausland wurde man auch nicht wirklich los. Das führte zu einer offensiven Radikalisierung in der NSDAP gegen die Juden, speziell ab 1937 (also nach den Olympischen Spielen in Berlin 1936): Die Parteibasis pochte auf die Ideologie des Parteiprogramms, für deren Umsetzung es nun Zeit geworden sei!
Das war sozusagen der Anfang der Massenabschlachtung von Juden in den Konzentrationslagern, wobei unter ihnen — aufgrund der antisemitischen Ideologie verständlicherweise — kein Unterschied gemacht wurde, ob jemand religiös, ungläubig (lediglich pro forma jüdisch) oder gar kommunistisch war. Allein nach Palästina auswanderungswillige Zionisten konnten Glück haben, dorthin zu gelangen und so dem sicheren Tod zu entrinnen.

Dazu ein Schritt zurück zur Erklärung des Antisemitismus, speziell in Deutschland. Vor dem Ersten Weltkrieg war dieser vergleichsweise nur latent vorhanden, meist vertreten durch christliche Kreise, die den Juden zur Last legten, ihren eigenen Messias, Jesus Christus, der römischen Herrschaft ausgeliefert und gekreuzigt haben zu lassen. Dieser religiöse Antisemitismus, bereichert durch den Neid auf die »Geldjuden« — zurückzuführen auf die Wuchergeschäfte, mit denen einige von ihnen sich unbeliebt machten —, wurde praktisch abgelöst durch einen ganz und gar politischen Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg. Deutsche Nationalisten suchten eine Erklärung für die Niederlage, die sie nicht fassen wollten. Ihre zwar reichlich absurde, aber schlagende Erklärung fanden sie in der Existenz der Juden: Diese hätten sich als Parasiten im deutschen Volkskörper bewegt und würden dies weiterhin tun. Selber unfähig, einen eigenen Staat zu bilden, wären sie voller Mißgunst auf andere Staaten und so würden sie ihnen zu schaden trachten. Auf der einen Seite seien sie die Führer des international agierenden Finanzkapitals, auf der anderen Seite die des ebenso international agierenden Bolschewismus — und genau so seien sie in einer Zangenbewegung zur Schädigung der nationalen Wirtschaft und somit zur jüdischen Weltherrschaft unterwegs.

Diese Kritik wurde von den meisten Juden und gerade den Intellektuellen unter ihnen entschieden zurückgewiesen. Schließlich wußten sich diese genau so gut als Deutsche wie alle Andersgläubigen, hatten sich sowohl an der militärischen wie der heimatlichen Front bewährt und waren gewollt, weiterhin Deutschland nützlich zu sein: Sie gaben ein bisweilen gar lautstarkes Bekenntnis dazu ab, weiterhin gute Deutsche sein zu wollen. Sie wollten sich nicht von der neu aufkommenden Hitlerbewegung ausgrenzen lassen.

Einige unter den Juden jedoch nahmen sich die Kritik der deutschen Faschisten zu Herzen und wollten jetzt erst recht den Beweis antreten, fähig zu sein, einen eigenen Staat zu gründen. Dies waren (und sind bis heute) die eigentlichen Zionisten. Und der Standpunkt dieser damaligen Minderheit unter den Juden wurde von den Faschisten honoriert. Solche Juden, die keine Parasiten im Volkskörper (mehr) sein wollten, waren der NSDAP, dann als sie die Macht hatte, allenthalben lieber als alle anderen. Freilich sollte die Auswanderung keinesfalls zur Gründung eines Judenstaats führen, welcher der NS-Ideologie zufolge als Ausgangsbasis für einen jüdische Weltherrschaft dienen würde. Möglicherweise ist diese Vorstellung auch bei heutigen Antisemiten präsent. Jedenfalls kamen aufgrund dieser NS-Doktrin andere Abschiebeoptionen in Betracht, unter anderem die abgelegene Insel Madagaskar, eine französische Kolonie. Geändert haben sich dann die Überlegungen im Zuge des Krieges. Mit den eroberten Gebieten insbesondere östlich Deutschlands hatten die Faschisten Zugriff auf dermaßen viele Juden, für die die Deportationsmöglichkeiten angesichts der Kriegsdringlichkeiten schlichtweg nicht vorhanden waren. Die Faschisten sahen sich veranlaßt, mit den verbliebenen Juden kurzen Prozeß zu machen und sie schnurstracks zu ermorden.

Es stellt sich die Frage, ob der Fortgang der Geschichte damals, in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts absehbar war. Ja, dafür gibt es einen schlagenden Beweis: »Das neue Ghetto« ist ein 1922 erschienener Roman von Arthur Zapp, dessen Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt wurden. In diesem Roman zeichnet er ein differenziertes Bild der Juden anhand einer jüdischen Familie. Der Alte hält noch an den jüdisch-religiösen Gebräuchen fest, während die Jungen der Religion sich entfremden, so wie man das auch von christlichen Familien kennt. Ein Sproß der Familie schloß sich der neuen zionistischen Bewegung an, die ernsthaft einen eigenen Staat gründen wollte, also ernst machen wollte mit Überlegungen, die unter Juden schon vor dem Krieg existierten. Jetzt aber sahen sich diese Zionisten durch die Hitlerbewegung berechtigt, ja genötigt, es zu tun. Ein anderer Sproß, ein Universitätsprofessor argumentiert beredt dagegen: Er kämpft gegen die immer stärker aufkommende Judenfeindschaft. Er malt aber auch das Desaster an die Wand, das mit dem Versuch der Gründung eines Staates Israel, welcher ohne Hilfe von — aus eigenen Gründen interessierten — anderen Staaten nicht möglich wäre, eintreten würde. Und er beschwört die Notwendigkeit aller Deutschen sowohl dem Faschismus wie dem sich auf ihm gründenden politischen Zionismus entschieden entgegenzutreten: »Ich habe schon gesagt: Der Zionist arbeitet unseren größten Feinden, den Antisemiten, in die Hände, denn er unterstreicht die Behauptung, daß kein Jude ein Deutscher sein kann. Ja, ich erachte den Zionismus für die Juden in Deutschland, überhaupt in Europa, für gefährlicher als den Antisemitismus. Die Antisemiten behaupten, die Juden können nicht Deutsche sein, die Zionisten aber wollen nicht Deutsche sein. ..« (S. 246)

Die Negation drohenden Unheils, das ja mit der Machtübernahme der NSDAP seinen Lauf nahm, vom Standpunkt eines besseren deutschen Nationalismus aus blieb nutzlos: Sowohl das Massaker an den Juden durch die Faschisten wie das Massaker der Zionisten an den ihrer Heimat beraubten Palästinensern, das mit der Gründung des Staates Israel seinen Lauf nahm, ist traurige Wirklichkeit geworden. Das liegt in dem (zivilen) Glauben an die jeweils eigene Nation begründet: Der Nationalismus kennt doch einen ziemlich fundamentalen Unterschied zwischen dem eigenen guten und einem anderen schlechten und er tendiert daher zur Bekämpfung des Schlechten, zur Radikalisierung, zur Gewalt. Daß dafür ein Gewaltmonopol von Nutzen ist, ja notwendig ist, steht außer Frage, das haben die Faschisten ebenso begriffen wie ihr Ableger, die Zionisten. Und ganz selbstverständlich verlangen die Palästinenser ihrerseits seit langem einen Staat, der ihnen gewaltsam vorenthalten wird und weswegen sie auch des Terrorismus bezichtigt werden.

Die öffentliche Meinung, die so sehr gegen den Antisemitismus auftritt, selber gar nicht begründen kann, wie sich Antisemitismus erklärt: Wie sonst wäre die Gleichsetzung aller Juden mit dem Zionismus möglich? Wie sonst wäre es möglich, sich der zionistischen Propaganda, die alle Juden für sich vereinnahmt — mit Verweis auf die deutsche NS-Ära — ein ums andere Mal anzuschließen und diese zu verstärken trachten?
Wer möchte bezweifeln, daß mit der Rechtfertigung der Massaker des Staates Israel an den Menschen im Völkergefängnis Gaza-Streifen [immer wieder, auch 2014 hat die Hamas übrigens vergeblich offene Grenzen gefordert], im von blutheischenden zionistischen »Siedlern« zerstückelten Westjordanland sowie in Ost-Jerusalem der deutsche Staat heute in der Tradition des Dritten Reiches steht? Beweist er das nicht dadurch, daß er es immer erneut für nötig erachtet, »Werte« zu heucheln. Müßte er nicht ansonsten ausrufen, »Gaza — das Auschwitz der Zionisten!«?

02.12.2023
Fragen und Kritik an info@koka-augsburg.com

Verwendete Literatur:
— Francis R. Nicosa: Hitler und der Zionismus – Das Dritte Reich und die Palästinafrage 1933-1939, Literatur-Report 2001

— Arthur Zapp: Das neue Ghetto, Alfred Streißler GmbH, Berlin-Nowawes, 1922
— GegenStandpunkt – Politische Vierteljahreszeitschrift, 3-2014, »Gaza-Krieg 2014«, S. 115ff
— GegenStandpunkt – Politische Vierteljahreszeitschrift, 1-2009, »Gaza-Krieg 2008«, S. 87ff
— Konrad Hecker: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, GegenStandpunkt-Verlag, 1996, S. 127ff

bluete

Mexiko_2014

kokaAllen Leichen zum Trotz:
Mexiko ein Schurkenstaat? — Niemals!

"…Seit der Nacht vom 26. September, als die Polizei in dem südmexikanischen Bundesstaat sechs Menschen ermordet und 43 Studenten verschleppt hat, reißen die Proteste nicht ab. Wütende Menschen blockieren den Flughafen von Acapulco, besetzen reihenweise Regierungsgebäude und Parteizentralen und stecken sie teilweise in Brand. Auch in anderen Teilen Mexikos kommt es zu Angriffen auf Staats- und Parteieinrichtungen. Das Land erlebt die schwersten politischen Unruhen seit Jahrzehnten.

Der Zorn der Menschen hat das richtige Ziel: die politische Klasse Mexikos. Die enge Verflechtung von Politik, Justiz, Polizei und organisierter Kriminalität führt zu immer mehr Gewaltexzessen. Die verzweifelten Angehörigen der Studenten wissen, daß sie von den staatlichen Vertreter_innen keine wirkliche Aufklärung erwarten können, handelt es sich bei den mutmaßlich ermordeten Studenten doch um ein Staatsverbrechen. Eines von so vielen in Mexiko. Aufgrund des berechtigten vollständigen Mißtrauens gegen die mexikanischen Behörden erhoffen sich die Familien der Verschwundenen und Demonstrant_innen Hilfe aus dem Ausland: Der Fall müsse von internationalen Institutionen untersucht werden, das Ausland müsse Druck auf die mexikanische Regierung ausüben. Dabei ist dieser Fall nur die Spitze des Leichenberges — bei der Suche nach den Studenten fand man bislang 19 Massengräber, 26.000 Menschen gelten in Mexiko als »verschwunden«, Massaker unter Beteiligung von Polizei oder Militär sind Normalität." (Lateinamerika-Nachrichten 12-2014, daraus auch alle folgenden Zitate)

Hilfe vom Ausland? Womöglich aus den USA, mit denen Mexiko in der NAFTA so eng wirtschaftlich verbunden sind, daß es sich schon allein dadurch nicht mehr zu einem Underdog der »Dritten Welt« zählen möchte? Oder gar von der BRD, die doch — so der Anschein: weltweit — die Verletzung von Menschenrechten anprangert?

"In der Tat ist die mexikanische Regierung sensibel für Druck aus dem Ausland, das neoliberale Wirtschaftsmodell ist auf ausländisches Kapital, Technologie und Märkte angewiesen. Ebenso bedarf die fortschreitende Militarisierung des Landes der Kooperation mit dem Ausland. Seit seinem Amtsantritt 2012 macht Präsident Enrique Peña Nieto auf der internationalen Bühne auf bella figura und läßt sich als großer Modernisierer feiern. Seine Bildungs- und Steuerreformen, vor allem aber die Öffnung des mexikanischen Energiesektors sind ganz nach dem Geschmack des internationalen Kapitals. Das Lohnniveau der mexikanischen Arbeiter_innen ist in manchen Bereichen bereits unterhalb der chinesischen gesunken. Die Ratingagentur Moody's belohnte die Reformen bereits, als sie im Februar die Bonität Mexikos in die begehrte A-Kategorie hochstufte. Auch in Deutschland reagierten Außenpolitiker_innen und Wirtschaft wohlwollend, mehrere deutsche Konzerne haben Investitionen in dem Land angekündigt.

Deutschland ist einer der wichtigsten Handels- und Kooperationspartner Mexikos. Umgekehrt ist Mexiko aufgrund seiner zuverlässig neoliberalen Ausrichtung seit langem »strategischer Partner« der deutschen Außenpolitik, zu dem die Beziehungen intensiviert werden sollen. Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mexiko (das eigentlich eine Menschenrechtsklausel enthält) steht vor einer Neuauflage; im Januar soll ein Abkommen zur Kooperation deutscher und mexikanischer Polizeikräfte verabschiedet werden, das die Tür für weitere Waffen- und Sicherheitstechnologieexporte öffnet. Beide Vorhaben stehen auch nach dem Massaker von Iguala nicht zur Disposition, wie Staatssekretär Michael Roth (SPD) am 5. November in einer Fragestunde des Bundestags bekräftigte. Er sieht »keine Notwendigkeit von Konsequenzen für die Beziehungen« — im Gegenteil. Trotz Beweisen für die Verstrickung von Politiker_innen auf allen Ebenen (inklusive Präsident Peña Nieto) in massive Menschenrechtsverletzungen, sieht die deutsche Regierung höchstens regional Probleme, während sie der mexikanischen Regierung ehrlichen Aufklärungswillen nicht nur in dem aktuellen Fall unterstellt."

Na also: Bloß regionale Probleme! Die dürfen die internationalen Beziehungen um Himmels willen nicht beeinträchtigen! Und was die »regionalen Probleme« angeht, da helfen wir mit, damit die Polizei noch effektiver wird und es nicht bei 43 Studentenleichen beläßt. In Mexiko gibt es noch viel aufzuräumen, was die Freiheiten des internationalen Kapitals stört: Vor allem die ewigen Demonstrationen gegen den Machtapparat, dem »wir« ehrliche Absichten unterstellen und deshalb alles Gute wünschen, müssen endlich aufhören!

"Bei einer Straflosigkeit von Verbrechen von fast 100 Prozent könnte so viel Vertrauen verwundern. Doch »strategischer Partner« ist eine Chiffre dafür, daß die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes so groß ist, daß es quasi einen Blankoscheck für den Umgang mit seiner Bevölkerung besitzt. Wie hätte die Reaktion der deutschen Regierung wohl ausgesehen, wenn auf Kuba 43 oppositionelle Studenten vom Staat verschleppt und ermordet worden wären? Auf Unterstützung seitens der deutschen Regierung sollten die Menschen in Mexiko besser nicht hoffen."

Gegenüber deutschen Politikern wie dem genannten SPD-Mann [SPD-Nationalisten müssen sich offenkundig stets besonders zynisch in die Brust werfen!] geben sich die mexikanischen Politiker geradezu ohnmächtig:
Die deutsche Politik geht gnadenlos über Leichen, schließlich beruht der deutsche Welterfolg auf dem Erfolg seiner global players, denen der deutsche Staat deshalb mittels seiner erpresserischen Abkommen freie Bahn im Ausland schafft. 43 Studenten ermordet — wenn's Deutschland nicht tangieren muß, weshalb ein Aufheben darum machen? Wirklich tangieren läßt sich der deutsche Staat eben nur dann, wenn er ganz andere Rechnungen mit einem betreffenden Staat offen hat: Wenn so ein Staat sich herausnimmt, dem deutschen politischen Einfluß und dem deutschen Kapital Grenzen zu setzen. Und diese Herausforderung möchte sich der mexikanische Staat nun ganz offenkundig wirklich ersparen: Daher sind ihm seine Leichen piepegal — sie werden von Jahr zu Jahr immerzu mehr als weniger! —, ob sie nun seiner Schattenwirtschaft, dem Drogenhandel, geschuldet sind oder ganz unmittelbar der Aufrechterhaltung staatlicher Macht. Dafür haben die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie natürlich die USA jede Menge Verständnis; für protestierende Studenten selbstredend nicht das geringste.

(30.11.14)

bluete

syrien-irak-isil_2014

koka
Journalistische Feindbildpflege exekutiert am Ernstfall Naher Osten:
Vom entschiedenen Kampf gegen einen Verbündeten Rußlands zum Kampf gegen ISIL

Man fragt sich ja wirklich, wem ausgerechnet die taz das Wort erteilt: Leuten, die offenkundig viel besser wissen, was die Interessen des »freien Westens« sind als dieser selber! Zu diesen Leuten, die die taz nicht als imperialistisch ver- und mit einem jener unsäglichen republikanischen US-Präsidenten namens Bush in einen Topf werfen möchte, zählt — neben ihren geliebten Schwaflern, dem grünen Ex-Außenminister und seinem halbfranzösischen Compagnon — die im deutsch-nationalen Journalismus geschulte und für einschlägig bekannte staatliche Rundfunkanstalten wie der ARD tätige Kristin Helberg. Eben jene äußerte in einem am 01.12.2012 veröffentlichten Kommentar folgendes, furchtbar Sachkundiges (dafür muß man schon mal sieben Jahre in Damaskus gelebt haben — seltsamerweise ganz offenbar ohne vom berüchtigt bösen Assad behelligt worden zu sein):
Zunächst ruft sie nach Führung, was fällt denn einer Deutschen sonst ein? Um dann überrascht festzustellen:

"Doch das allein reicht nicht.  Denn die Aktivisten…, die die Einheit und Vielfalt des syrischen Volkes beschwören, sich für Versöhnung stark machen und die eigene Moral hochhalten, sind nur die eine Seite des syrischen Widerstands. Daneben sind Extremistengruppen auf dem Vormarsch, die islamisch auftreten und in ihren Videos nicht einmal mehr die Unabhängigkeitsfahne — das Symbol der syrischen Revolution — verwenden.
Ihre radikalislamischen Positionen machen den meisten Syrern Angst. Aber [Hervorhebung KoKa] auf ihre militärischen Fähigkeiten, ihre Ausrüstung und Erfahrung kann die Freie Syrische Armee im Kampf gegen das Assad-Regime nicht verzichten.

Dann malt sie des langen und breiten aus, was die imperialistischen Staaten tun müßten, um ihren Vasallen im Kampf gegen Assad und gegenüber den islamischen Rebellen die besseren Karten zu geben. Denn das wäre schließlich die Voraussetzung dafür, daß sich Rußland von Assad abwenden könne. Sicher, darum geht es, Rußland Syrien als einen Verbündeten zu entziehen: Rußlands strategische Belange als gleichwertige anzuerkennen, kommt nicht in die Tüte. Sie kommt zu folgendem Qualitätsschluß:

"Heraushalten ist in Syrien keine Option mehr. Statt weiter die Radikalisierung und Militarisierung des friedlichen Volksaufstands zu beklagen, gilt es jetzt endlich zu handeln. Mit der Nationalen Koalition ist eine übergangstaugliche Alternative zum Assad-Regime entstanden. Sie verdient schnelle und unbürokratische Unterstützung. Damit am Ende die Syrer über ihre Zukunft entscheiden und nicht al Qaida." 

Man sieht schon, wie ernst sie sich Sorgen macht um eine gleichgeschaltete Weltordnung. Blöd bloß, daß sich dafür weder der oberste Russe Putin noch Assad noch sonstwer begeistern läßt. Von den Bevölkerungen der vom Krieg heimgesuchten Gegenden ganz zu schweigen. Die meisten wissen nur zu gut, daß der »freie Westen« außer zerbombten Landstrichen und  –  für sie höchstpersönlich  – einen Job als Kanonenfutter nichts zu bieten hat.

Länder in die Steinzeit zurückbomben, diese Freiheit nimmt sich der »freie Westen« jedesmal dann heraus, wenn er irgendwo erheblichen Mangel an Folgsamkeit, ja Widersetzlichkeit feststellt und alle doch so überaus gut gemeinten friedlich-ökonomischen Erpressungsmittel partout nicht verfangen wollen. Daß er sich damit noch viel radikalere Opponenten einhandeln könnte, wollte und will  sich der »freie Westen« in seiner allmächtigen Geistesfreiheit nicht vorstellen: Welche Attentate hat man nicht alles dem Syrien unter Assad in die Schuhe geschoben! Und das, obwohl man hätte wissen können, daß Terrorgruppen in Syrien und insbesondere im Libanon ihre ureigensten Ziele schon vor Jahren verfolgt haben. Nicht zuletzt war das Syrien opportuner Grund genug, seine Truppen aus dem Nachbarland abzuziehen: Mit Terroristen wollte Assad nicht verwechselt werden! So recht das dem Westen war, so sehr hatte er sich damals über soviel Freiwilligkeit verwundert die Augen gerieben. Der Befangenheit des »freien Westens« in seiner Ideologie tat selbst das keinen Abbruch. Sie war und ist weiterhin eine hervorragende Bedingung für die Entwicklung der radikalen Islamisten, letzthin des ISIL.

Nein, jetzt auf einmal räumt selbst der mit Milliarden finanzierte US-Geheimdienst CIA »Versäumnisse« ein, fußend auf »Fehleinschätzungen« der Lage. Nun ja, eben auch für solche, erwünschten  Fehleinschätzungen fließt bekanntlich Geld, sie werden ja nicht als solche, als falsche Einschätzungen bestellt. Schließlich regiert allein das bornierte staatliche Interesse an einer im US-Sinne gleichgeschalteten Welt und nichts anderes. Auf dieses Interesse hin wird jede Betrachtung zurechtgezimmert.

Doch um eine Korrektur der Ausrichtung kommen nun weder Politik noch Qualitätsjournalismus herum, wenn sich neue Fronten auftun, die sich bei ihren Zielen einen feuchten Scheißdreck um die Vorstellungen in Washington, London, Paris und Berlin scheren. Da können die Herren dort dann gar nicht laut genug »Terrorismus« schreien! Ganz im Gegensatz zu ihrem eigenen, hochüberlegenem, dn mit den allerneuesten Kampfflugzeugen! In dessen Schatten übrigens ließ der US-Imperialismus seinen nahöstlichen Kettenhund Israel einmal mehr von der Leine, den Gaza-Streifen niederwalzen. Dazu darf man dann um Himmels willen nicht Terrorismus sagen, obschon das den Tatbestand eines Genozids nicht nur erfüllt, sondern auch als solcher gedacht ist. Kurz & gut, die Definitionshoheit, was Gewalt und ihre Anwendung anbelangt, liegt bei denen, die aufgrund ihrer überlegenen Gewaltmittel das Sagen haben.

Wie also windet sich die genannte Sachverständige Kristin Helberg aufgrund der durch ISIL veränderten Lage? Auch dafür bekommt sie in der taz viel Platz eingeräumt (23.10.2014):

"Die USA und ihre Verbündeten verlieren dieser Tage in Syrien eine entscheidende Schlacht. Nicht die um Kobani, nein. Sie verlieren die Unterstützung der Syrer. Denn statt ihnen beizustehen und an ihrer Seite zu kämpfen, werfen die USA Bomben ab, wo es ihnen paßt, und verschließen vor dem Leid die Augen. Statt sich mit Kämpfern und Aktivisten vor Ort zu koordinieren, um militärische Ziele und Stellungen des IS zu identifizieren, zerstören die USA die Infrastruktur. Und statt gemäßigte Rebellen (Freie Syrische Armee und Kurden) mit modernen Waffen auszustatten, um gleichzeitig aus der Luft und am Boden gegen den IS vorzugehen, informiert man diese nicht einmal über Angriffsziele.
Dieser eindimensionale Kampf gegen den IS in Syrien ist nicht nur wirkungslos, sondern kontraproduktiv. Immer mehr Menschen haben den Eindruck, die Luftangriffe seien in Wirklichkeit ein Krieg gegen den sunnitischen Islam, der Assad verschont und womöglich heimlich mit ihm abgesprochen ist. Volltreffer für die Terroristen.
Warum viele Syrer das so sehen? Ganz einfach. Europäer und Amerikaner tragen mit Blick auf Syrien eine Augenklappe – auf manches reagieren wir mit Abscheu und Gepolter, auf anderes mit Gleichgültigkeit und Schweigen – und das in dreifacher Hinsicht."

Wohl die gleiche Augenklappe, die sie selber vor zwei Jahren getragen hat, als sie schrieb: "Heraushalten ist in Syrien keine Option mehr." Jetzt sieht das Sich-Nicht-Heraushalten eben so aus, wie es aussieht und das ist ihr auch wieder nicht recht, weil es nicht die Erfolge zeigt, die es zeigen sollte. Und was ihrer Meinung, vorgetragen im deutschnationalen »Wir«, nach das Schlimmste ist, ist, daß im nun präferierten Kampf gegen den IS der Kampf gegen Assad ganz aus dem Blick zu geraten scheint:

"Erstens unterscheiden wir zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Gewalt. Die staatliche, also die des Regimes, beachten wir kaum noch, obwohl ihr die meisten Zivilisten zum Opfer fallen – 1707 im September, ein Drittel davon Frauen und Kinder. Im Durchschnitt sterben jeden Tag zehn Kinder durch die Bomben Assads. »Abstoßend« und »menschenverachtend« finden wir jedoch nur das, was der IS macht. Dabei sind die staatlichen Verbrechen durch Menschenrechtsgruppen im Land, internationale NGOs und die UN glaubwürdig dokumentiert: Chlorgas in Jobar, Aushungern und Bombardierung von Al-Waer in Homs, Faßbomben auf Aleppo, Raketen auf Ost-Ghouta bei Damaskus sowie Saraqeb in Idlib, um nur eine aktuelle Auswahl zu nennen. Wer will, kann fast täglich zuschauen, wie staubbedeckte Kleinkinder aus Schuttbergen gezogen werden, mal tot, mal lebendig. Aber wir wollen nicht hinsehen."

Wirklich schlimm, wenn der Westen so seine Propaganda vernachläßigt! Schließlich läßt sich doch gerade in den Wirren des Krieges dem Herrn Assad alles Mögliche andichten. Wofür hat man denn seine ideologischen Trittbrettfahrer, die NGOs, zumindest noch dort, wo keine Bomben fallen. »Eingebettete«, als Journalisten getarnte Geheimdienstmitarbeiter gibt es darüber hinaus selbst in umkämpften Gebieten. Und das Geschrei muß dann natürlich besonders groß sein, wenn ein solcher in die Hände des Feindes fällt und als solcher enttarnt wird. Doch da will selbst Frau Helberg nicht genauer hinschauen.

"Zweitens engagieren wir uns vorrangig für IS-Opfer, die religiösen Minderheiten angehören. Als die Dschihadisten (damals noch Isis) im Sommer 2013 die syrische Provinzhauptstadt Raqqa einnahmen und ihr Terrorregime etablierten, interessierte das niemanden – schließlich leben dort überwiegend Sunniten. Öffentliche Hinrichtungen und die Steinigung zweier Frauen waren kaum eine Nachricht wert. Erst als im Nordirak die Christen aus Mossul vertrieben wurden und die Jesiden in den Bergen saßen, entdeckte der Westen den IS. Den religiösen Minderheiten im Irak eilten die USA schnell zur Hilfe, der sunnitischen Mehrheit in Syrien nicht. Während die Welt auf das Sinjar-Gebirge starrte, massakrierte der IS in der syrischen Provinz Deir al-Sor 700 Mitglieder des Sheitat-Stammes, darunter viele Frauen und Kinder. Wieder nahm bei uns keiner Notiz davon."

Wie bei allen Nationalitäten und Religionen wissen »wir« doch zwischen Guten und Bösen unterscheiden. Dieser Gesichtspunkt gerät, so beklagt sie völlig aus dem Dunstkreis: Denn nur wer dem altrömische Herrschaftsprinzip des Divide & Impera! [Teile & Herrsche!] folge, könne schließlich siegreich sein!
Man möchte die gute Frau gerade hier noch einmal an ihre Agitation von vor zwei Jahren erinnern: Da kamen ihr die radikalen Islamisten im Kampf gegen Assad gerade recht, sie erschienen ihnen nützlich und sie plädiert lauthals für deren Indienstnahme!

"Drittens befördern wir jetzt auch noch die Spaltung zwischen Arabern und Kurden. Seit der Belagerung von Kobani reden alle über die Kurden. Das ist gut so, denn diese fühlen sich zu Recht mißachtet und verraten von der Welt. Ob 1920, als die Europäer ihnen einen eigenen Staat versprachen und nichts daraus wurde, 1962, als Damaskus Zehntausenden syrischen Kurden die Staatsangehörigkeit entzog, oder 2004, als die Kurden gegen das Assad-Regime aufstanden und sich niemand mit ihnen solidarisierte.
Das Mißtrauen zwischen Arabern und Kurden wächst seit Jahren, jetzt schlägt es um in offenen Haß – eine Tragödie für Syrien. Im Internet fragen syrische Araber, warum alle auf den Kampf der PYD (Partei der Demokratischen Union) in Kobani schauen und nicht auf den Widerstand anderer Rebellengruppen gegen den IS bei Aleppo, in Deir al-Sor und Raqqa. Seinen Kämpfern sei bislang niemand zur Hilfe gekommen, sagt ein Oberst der Freien Syrischen Armee (FSA), dabei bekämpfe die FSA den IS doch »stellvertretend für die ganze Welt«.
Aus syrischer Sicht ist das Vorgehen der USA nicht nachvollziehbar. Offiziell bezeichnet Washington FSA-Einheiten als Verbündete im Kampf gegen den IS, doch sie werden nicht als solche behandelt. Assad wird über Luftschläge informiert, die FSA nicht. Immer mehr Oppositionelle sehen sich gezwungen, die US-Angriffe zu kritisieren, um nicht den Rückhalt ihrer Landsleute zu verlieren."

Die USA machen halt alles falsch, was sie nur falsch machen können! Da spricht mal wieder eine gute Deutsche, die alles viel besser weiß. Natürlich stellt sie sich nicht die Frage, was die USA mit den versprengten Resten der »FSA« anfangen sollte? Ist nicht längst im Gerede, ganz neue Kampfeinheiten aufzustellen und auszubilden? Haben die USA da nicht mehr Realitätssinn, wenn sie die Kurden mittlerweile als einzige nennenswerte militärische Kraft in Syrien betrachten, die sich einspannen läßt (wofür man sie natürlich auf Distanz zur PKK halten muß)? Und wen bitteschön sollten die USA informieren? Wohin sollten sie ihre Mails senden? An die FSA-Propagandisten, die im Ausland hocken?
Man sieht also der Sachverstand des »Qualitätsjournalismus« liegt einzig und allein in seiner unverdrossenen, ideologisch-bornierten Feindbildpflege begraben. Man kann glatt daraus schließen, daß er auf Teufel-komm-raus der Politk die Verhinderung einer Konfliktlösung empfiehlt. Angesichts solch wahnhafter Agitation erscheinen dann selbst die Bombardements – durch den Oberbefehlshaber der freien Welt, dem US-Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Obama, veranlaßt – geradezu witzlos, wie Schneeflöckchen in der Wüste.
Und so muß – so endet ihre Agitation, deren Wortlaut dem Leser hier erspart sei – Frau Helberg als Qualitätsjournalistin eines ganz fest fordern: Noch mehr Krieg! Noch durchdachteren Krieg! Deutsche Waffen liefern, sowieso klar.
Einzig deutsche Kampftruppen sind einer weiteren Deeskalationsstufe und einem dann endgültig eingeleitetem Friedensprozeß vorbehalten. Deeskalation und Frieden, wie »wir« das meinen, versteht sich.

(04.11.2014)

bluete

Türkei 2014

koka

Die Türkei unter Erdoğan und seiner AKP
Kapitalisierung für den EU-Beitritt!

Das Grubenunglück von Soma und die nachfolgenden Reaktionen des türkischen Staates auf die Empörung seiner Untertanen hat einmal mehr ein Schlaglicht auf eben diesen Staat geworfen. Ein negatives Schlaglicht, das denen in die Hände spielt, die die Türkei nicht in der EU haben wollen. Dies sind bekanntermaßen die maßgeblichen politischen und publizistischen Kräfte der BRD.

Und so sieht sie denn auch aus, die Betrachtung der Türkei: Alles, was dort geschieht, hat seine Ursache in einer Regierung, die nach Meinung genannter Kräfte »die Zeichen der Zeit« nicht erkannt habe. Also demokratische Defizite an den Tag legt, die es unmöglich machen, sie ernstzunehmen, solange diese Zustände andauern. Und daß sie noch andauern, dagegen hat man deutscherseits im Grunde gar nichts, denn dann bleibt die Frage einer EU-Mitgliedschaft allen Beitrittsverhandlungen zum Hohn in weiter Ferne.

Die wirklichen Leistungen der Türkei rücken dabei in den Hintergrund. Denn ohne die zu betrachten, kommt man auch zu keinem richtigen Urteil über deren Kosten, die selbstverständlich auch in Kleinasien der »kleine Mann« zu tragen hat.

Diese Leistungen sind den Ambitionen des türkischen Staates geschuldet, der im Konzert der Großen, in dessen Staatenbund EU gerne mitspielen möchte. Dafür hat er sich den europäischen Erpressungen zu stellen nicht gescheut, die im Oktober 2005 mit den Beitrittsverhandlungen eröffnet wurden, also schon eine ganze Weile andauern, ohne abgeschlossen zu werden. Und das liegt nicht an den mannigfaltigen Bemühungen der Türkei, den Forderungen der EU nachzukommen. Bemühungen, die die AKP-Regierung schon seit ihrer Machtübernahme 2002 anstrengte, um sich die Verhandlungen überhaupt zu verdienen.

Insbesondere in den für die EU so wichtigen ökonomischen Fragen — die machen fast allein die 33 relevanten Verhandlungskapitel aus — hat die Türkei sich tüchtig ins Zeug gelegt.
So wurden seit 2002* "kontinuierlich gesetzliche Schranken abgebaut, die der Privatisierung öffentlicher Güter im Wege standen. Insbesondere nach dem Verfassungsreferendum von 2010 bekam die AKP-Regierung Instrumente an die Hand, mit denen sie die örtlichen Verwaltungsgerichte handlungsunfähig machen konnte, die zuvor auf Anrufung von Bürgerinitiativen zum größten Teil solche Privatisierungsmaßnahmen stoppen konnten. Mit Dekreten mit Gesetzeskraft verfügte die Regierung die Privatisierung von Wald- und Weideflächen, Flüssen und Bächen sowie größerer Areale in Staatsbesitz, womit zusätzlich die Binnenmigration der ländlichen Bevölkerung verschärft wurde. Dies hatte zur Folge, daß die früheren Binnenmigranten, die seit Jahren am Rande der Großstädte in verarmten Stadtteilen leben und sich über ihre Familienangehörigen in den Dörfern mit Lebensmitteln versorgten, diese Möglichkeit … nach und nach verloren." (Murat Cakır, Der Juni-Aufstand in der Türkei – Aufbegehren gegen die Hegemonie der AKP-Regierung, in: emanzipation – zeitschrift für sozialistische theorie und praxis, Nr. 6, Winter 2013)**

"Die AKP setzte den neoliberalen Umbau und die Marktorientierung stärker durch als ihre Vorgänger und schaffte das, was die bisherigen Regierungen nicht leisten konnten: Während in den Jahren 1985 – 2002 durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen gerade mal 8 Mrd. Dollar eingenommen werden konnten, erzielte die AKP zwischen 2003 und 2010 fast 48 Mrd. Dollar an Einnahmen aus Privatisierungen. So konnte sich die Türkei auf den internationalen Finanzmärkten als aufstrebendes Schwellenland präsentieren." (ebenda) Die Wachstumsschübe des Bruttoinlandsprodukts von 2002 bis 2008 von durchschnittlich 5,9% und von 9,2% im Jahre 2010 und 8,8% 2011 werden so verständlich [nur 2009 ein Ausreißer mit -4,7%, die Weltfinanzkrise erwischte die Türkei durchaus; auf sie wurde mit niederen Zinsen auf Zentralbankkredite und Steuers(ch)enkungen für’s Kapital reagiert].

Zwischen 2002 und 2012, so berichten die Zeitungen nach dem Unglück von Soma, kamen in der Türkei mehr als 1000 Bergarbeiter ums Leben. "2005 wurden die Bergwerke von der AKP-Regierung privatisiert — offensichtlich mit dem Ziel, Kosten zu drücken. Bis dahin kostete eine Tonne [Braun-]Kohle aus Soma rund 190 Dollar. Ein privater Betreiber, Alp Gürkan, bot an, die Tonne künftig für 25 Dollar zu produzieren. Die gesamte in Soma geförderte Kohle wird an den Staat verkauft. Gürkan hat sich laut Gewerkschaftskreisen verpflichtet, 6 Millionen Tonnen im Jahr zu liefern." (taz, 15.05.14)

Mit ihrem radikalen Kapitalisierungsprogramm gewann die AKP nicht nur die Bourgeoisie laizistischer Kreise für sich. Auch die Vorbehalte des Militärs konnten ausgeräumt werden; letzte Widerständler und unliebsame Personen im Militär, welche immer noch nicht vom faszinierenden Erfolg der kapitalistischen Staatsräson der muslimischen AKP überzeugt waren, konnten so verhältnismäßig leicht abgesägt werden. Die zwar nicht mehr ganz neue, so doch nun unschlagbar erfolgreich sich präsentierende Staatsräson war nun unangefochten etabliert.***

Daß es in den letzten beiden Jahren mit dem Boom vorbei sein mußte, macht ein Blick auf die gleichzeitig stetig angewachsene Auslandsverschuldung deutlich. Mit einem Wachstum von nur noch etwa 2% 2012 und etwa 3 % 2013 war die kaum noch zu bedienen.**** Eine wesentliche Ursache für dieses Leistungsbilanzdefizit ist in der Energiefrage zu finden. Die Türkei muß jährlich etwa 60 Mrd. Dollar für Energieimporte ausgeben; der teuerste Spritpreis weltweit muß (so der oben zitierte Cakır) in der Türkei gezahlt werden. Nun kann man den politischen Verantwortungsträgern nicht vorwerfen, dieses Problem übersehen zu haben. Einen Gutteil der Energie versucht der Staat daher mit heimischen Ressourcen abzudecken. Unter diesen spielt zweifellos die Braunkohle die Hauptrolle. Die Staudammprojekte in Südostanatolien gehören zu den nicht weniger ehrgeizigen Energieprojekten. Einer der Dämme, der Ilisu-Staudamm am Tigris, erregt bis heute die Gemüter von Umweltschützern. Im Jahr 2017 soll mit dem Bau eines AKWs bei Sinop am Schwarzen Meer begonnen werden.

So weit, so stinknormaler Kapitalismus.

Ein besonders unsachliches Bonmot in der Betrachtung der Grubenkatastrofe gelang allerdings der taz (16.05.14). Ihre Reporterin Ulrike Winkelmann stellte doch tatsächlich die Frage (an einen deutschen IG BCE-Gewerkschaftsfunktionär), ob das Grubenunglück passiert wäre, wäre die Türkei in der EU! Da stehen die Vorbehalte gegen eine Mitgliedschaft der Türkei auf dem Kopf: Die EU ist doch am allerwenigsten den Bedürfnissen der Arbeitklasse verpflichtet! Daß die EU-Richtlinie 89/391 — welche die Türkei 2012 übernommen hat — »zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit« nichts als heiße Luft ist, gibt doch jeder Arbeiter hierzulande dadurch zu erkennen, daß er sie nicht mal dem Namen nach kennt und zu kennen braucht. Denn was sollte sich auch an den Ausbeutungsbedingungen, unter die er gestellt ist, ändern, wenn er sie denn kennen würde?
Tatsache ist im übrigen, daß die Arbeitsbedingungen gerade hierzulande sich auf türkisches Niveau zubewegen und nicht umgekehrt. Das sieht man an den neueren östlichen EU-Mitgliedsstaaten von Polen bis Bulgarien, die mit ihren Billiglöhnen und radikal deregulierten Arbeitsbedingungen die Meßlatte für ein angestrebtes allgemeines Niveau abgeben. Und es ist ja wohl ebensowenig ein Wunder, wenn die Löhne in der deutschen Ostzone nach 25 Jahren Westzugehörigkeit nicht dem Weststandard entsprechen. Ganz im Gegenteil, die dortigen Billiglöhne üben den durchaus erwünschten Druck auf die Westlöhne aus, diese abzusenken.

Die früher hierzulande unter Tage abgebaute Steinkohle wird übrigens nunmehr importiert — aus Staaten, die froh sein können, wenn ihnen die BRD etwas abkauft, also auch an den Gesundheits- und Lohnkosten ihrer Arbeiterklasse sparen müssen und können, ganz ohne daß die EU dagegen je Einwände erhoben oder gar mit einem Einfuhrstop gedroht hätte. Soviel Einmischung in fremde Angelegenheiten wäre eines Exportweltmeisters ja zutiefst unwürdig. Ein Beispiel:

"… Gerne stellen sich führende Politiker und Konzerne aus Deutschland als Klimaschützer dar, als Vorreiter in der »sauberen« Energieversorgung. Paul Corbit Brown, Naturschützer und Sprecher von Keepers of the Mountains, einer Umweltorganisation aus den USA, widerspricht dieser Darstellung: »Unsere Kohlekonzerne lachen sich kaputt darüber. Ausgerechnet die Kohleexporte nach Deutschland sichern ihr Geschäft, während sie zu Hause wegen des Fracking-Booms immer weniger verkaufen können.«
Er berichtet von den Appalachen, weite, von Wald bedeckte Berglandschaften eines der artenreichsten Gebiete Nordamerikas. Bergflüsse auf einer Länge von 2.000 Meilen wurden verschüttet und 6.500 Quadratkilometer Wald sind für die Kohleförderung vernichtet worden. 500 Bergspitzen sind zerstört, weggesprengt, nur noch gelbe, staubige Löcher, um an die Kohle heranzukommen. Der Abraum aus den gesprengten Bergspitzen wird in die Täler gekippt. Dort verseuchen Schwermetalle und andere Schadstoffe Flüsse und Grundwasser. Der Staub aus den Sprengungen bleibt in der Luft. Beides macht die Menschen krank: Krebserkrankungen, Herzleiden und Fehlbildungen bei Säuglingen nehmen zu; die Lebenserwartung sinkt. »Es ist die schrecklichste Form des Bergbaus, die man sich vorstellen kann«, sagt Corbit Brown. »Die Menschen in den Appalachen zahlen mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben. Die Kohle bringt uns um. Mit einer sauberen Energieversorgung hat das nichts zu tun.«
Die Kohle aus den Appalachen ist vor allem für Deutschland bestimmt. E.on kauft 28 Prozent seiner Kohle in den USA, EnBW rund 24 Prozent, Vattenfall sogar 40 Prozent. …"
(entnommen der MLPD-Website, 2013, Kalenderwoche 17)*****

Kurzum, gesünder als der »kranke Mann vom Bospurus« ist die deutsche Politik samt ihrer Wirtschaft wirklich nicht! Was ein Herr Erdoğan für die Türkei ist, ist eine Frau Merkel für Deutschland: Charaktermasken einer wahnsinnig erfolgreichen Staatsräson, einer kapitalistischen Staatsräson. Allein die Grundlagen erfolgreicher Verwertung, basierend auf den Erfolgen bereits erfolgter Verwertung, unterscheiden die beiden Staaten.

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* Nov. 2002: Wahlsieg der AKP, absolute Mehrheit im Parlament: Vorausgegangen die Finanzkrise 2000/2001: Unter IWF-Auflagen wurde das »Programm zur Übergang in eine starke Ökonomie« aufgelegt, an das die neue Regierung bruchlos anknüpfte (siehe auch: Ilker Ataç: Politische und ökonomische Krisen in der Türkei, 2013). Schon nach wenigen Jahren galt die Türkei als Musterschüler des IWF.
** Nur jeder 4. Staatsbürger der Türkei erfreut sich eines festen Jobs, davon wiederum nur die Hälfte eines mit Sozialversicherung. Die Massen, die unter der offiziellen Armutsgrenze leben, ist erheblich (mindestens 13 Millionen, siehe: Jürgen Gottschlich: Türkei – ein Land jenseits der Klischees, 2008, S. 48) und steigt.
*** Umso störender dann die Proteste der Jugend und anderer Nichtprofiteure 2013.
**** Nichtsdestotrotz konnten die Schulden beim IWF 2013 restlos beglichen werden. Damit stiegen zwar die internationalen Ratings wieder. Doch jene Schuldentilgung verdankt sich allein anderweitig eingegangener neuer Kreditaufnahme, die Auslandsverschuldung erreicht 2013 mit über 410 Mrd. Dollar erneut einen Rekordwert (nicht einmal ein Drittel ist von eigenen Währungsreserven gedeckt). Schon seit April 2014 drohen die einschlägigen Agenturen wieder mit einer Herabstufung der Türkei auf Ramschniveau.
***** Während die ML-Ideologen die zitierte Passage zur moralischen Verurteilung einer für sie inadäquaten Staatsräson darreichen, dient sie uns lediglich zur Bebilderung der notwendigen Resultate der — von den maßgeblichen politischen Gewalten, den Staaten des »freien Westens«, etablierten — Diktatur des Tauschwerts. Von einer Verheizung der Arbeiterklasse unter einer adäquaten Staatsräson halten wir nämlich genauso wenig.

(08.06.14) 

bluete

Indien_2014

kokaWahlsieg der Hindu-Nationalisten in Indien
Das Geheimnis des Erfolges: In Vishnu we trust!

Wenn im »freien Westen« die Rede auf Indien kommt, ist gerne von der größten Demokratie der Welt die Rede. Und in der Tat werden dort regelmäßig Wahlen abgehalten, noch dazu solche, denen kein richtungsweisender Putsch vorhergeht. Für einen Staat der »Dritten Welt« ist das durchaus bemerkenswert, zumal in Indien seit britischen Kolonialzeiten die Ursache für Aufstände, die kolossale Armut der Massen, fortbesteht, ja sich noch ausgeweitet hat.
Dieser Gefahr war sich die vom »Westen« alldieweil favorisierte Kongreß-Partei stets bewußt. Sie hat es, das kann man ihrem Gandhi-Clan und seinen Nachfolgern wirklich nicht vorwerfen, nie daran fehlen lassen, auf das westliche Erfolgsrezept schlechthin, eine durchgreifende Kapitalisierung, zu setzen, um so die Menschenmassen einer produktiven Verwertung zum nationalen Wohl zu unterwerfen. Mit der Folge, daß der Reichtum einiger weniger Profiteure (in jüngster Zeit vor allem in der IT-Branche) ebenso rapide zunahm wie die Armut derer, die von ihm ausgeschlossen wurden, nachdem ihr ganzes Hab & Gut — sofern (noch) vorhanden —  in Händen anderer kapitalisiert worden war. Der Subsistenzwirtschaft war der Kampf angesagt. Nicht zuletzt ein besonders intelligenter Wirtschaftswissenschaftler namens Yunus aus Ost-Bengalen (Bangla Desh) hat mit seiner Idee der Kleinkredite gerade auch in Indien zur Enteignung von Kleinbesitz beigetragen. Im übrigen hat sich für die Kapitalisierung gar eine ML-Partei, die KP-Marxist, speziell in ihrer Hochburg (West)Bengalen stark gemacht. Die Schimäre einer »Entwicklung der Produktivkräfte« gilt einer solchen Partei nämlich als Dogma ihrer gesellschaftlichen Anerkennung: Nein, als Fortschrittsfeinde wollen solche »Kommunisten« partout nicht gelten! So haben sie nichts gegen Ausbeutung, Verwertung der Arbeiterklasse im Sinne eines allgemeinen, des nationalen Fortschritts.

Es ist genau die Diskrepanz zwischen dem neu geschaffenen Reichtum auf der einen Seite und der damit einhergehenden Armut auf der anderen, welche nun zum Desaster der Kongreßpartei bei den Wahlen geführt hat. Die oppositionelle Partei BJP (Bharatiya Janata Party: Indische Volkspartei) konnte dies der Regierung ebenso verlogen wie erfolgreich ankreiden. Den von ihr regierten Bundesstaat Gujarat pries ihr Führer Narendra Modi als Erfolgsmodell, obschon dort keine andere Staatsräson durchgesetzt wurde als eben die rigoroser, rücksichtsloser Kapitalisierung. Insofern mag der Wahlerfolg verwundern. Nicht jedoch, wenn man sich den durch die Religion — in diesem  Falle die hinduistische — dominierten Bewußsseinszustand der Massen vor Augen führt: Das, was die Kongreßpartei nicht erreicht hat, das konnte sie, so Modi, gar nicht erreichen — aufgrund ihrer Gottesferne! Folgendes Beispiel mag den Glauben im Zeitalter des modernen Kapitalismus zeigen:
"Vor kurzem organisierten Hindus in Indien größere Demonstrationen gegen McDonalds, als sich herausstellte, daß McDonalds die Pommes Frites vor dem Einfrieren in einem Öl brät, das mit Tierfett (Rind) versetzt ist. Nachdem das Unternehmen diesen Punkt zugegeben und versprochen hatte, daß sämtliche in Indien verkauften Pommes Frites nur noch in Pflanzenöl gebraten würden, gaben sich die Hindus zufrieden und setzten ihren Pommes-Frites-Konsum unbekümmert fort. Weit davon entfernt, die Globalisierung zu unterminieren, veranschaulicht dieser Protest gegen McDonalds und die schnelle Reaktion des Unternehmens, daß die Hindus vollkommen in die diversifizierte globale Ordnung integriert sind." (Slavoj Žižek, Die Revolution steht bevor, S.21)
Für einen Atomstaat, für ein IT-Indien, für einen der aufstrebeden BRIC-Staaten hat die Religion offenkundig nach wie vor ihre Bedeutung. Warum auch sollte der Hinduismus in Indien eine andere Rolle spielen als der Islam für eine Kapitalisierung der EU-ambitionierten Türkei unter einer muslimischen AKP oder das Christentum für die viel früher erfolgte Kapitalisierung des »freien Westens« unter all ihren famosen christlichen Demokraten? Es sei daran erinnert, daß auf den us-amerikanischen Münzen (seit 1864) und seit 1955 auf Banknoten der Spruch "In God we trust" steht…

Eine andere Sache ist die Reaktion des freien Westens auf den Wahlsieg der BJP. Die Anerkennung dieses Sieges, die sogleich durch den amtierenden US-Präsidenten Obama erfolgte, setzt zweifellos das Festhalten der neuen Regierung am kapitalistischen Konzept voraus. Angesichts dessen ist die allenthalben schwer beargwöhnte Religion samt ihren heiligen Kühen den Oberhäuptern der freien Welt zwar nicht minder suspekt, rückt aber in den Hintergrund. Im Vordergrund steht die strategische Berechnung des Westens, die strategische Bedeutung Indiens: Als Atommacht von den USA seit 2006 faktisch anerkannt (und zwar ohne auf einem Beitritt Indiens zum Atomwaffensperrvertrag zu drängen), als ökonomischer Faktor, also als Investitionsstandort und Absatzmarkt für US-Kapital hoch gehandelt. Und nicht weniger ist Deutschland an einer Pflege »indoarischer« »Freundschaft« interessiert, so wie es sich für einen ambitionierten imperialistischen Staat eben gehört. Wobei »wir« es natürlich vorziehen, wenn hochqualifizierte »Computerinder« gleich bei und für »uns« arbeiten…. (Nicht zuletzt dafür gibt es dann massiven deutschen Kulturimperialismus u.a. in Form von Goethe-Instituten in elf Städten.)

(29.05.2014) 

bluete