Unsachlichkeiten in Sachen Marx
Nicht daß der VSA-Verlag ein schlechter Verlag wäre. Mit Marx Schriften lassen sich auch heute noch einträgliche Geschäfte machen, insbesondere mit dem »Kapital« und so gönnt man — und der VSA-Verlag ist nicht der einzige — es dem Dietz-Verlag nicht, ihm ein Monopol überlassen, also dem Verlag, der die nach wie vor am besten editierte dreibändige Fassung verlegt. Ob man allerdings mit der Veröffentlichung einer Schrift, die Marx, selbstkritisch wie er war, in den Papierkorb geworfen hat¹, einen Verkaufserfolg erzielt? Er sah ein, daß er mit »Lohn, Preis und Profit« sich auf eine falsche Fährte begeben hatte, nämlich dadurch, daß mit »Preis« als zentralem Erörterungspunkt dem Geheimnis des Profits, also dessen Ursprung nicht näher zu kommen ist. Sodann packte Marx sein Vorhaben ganz neu an und schrieb einige Jahre später »Das Kapital«. Preis ist nämlich lediglich ein Ausdruck dafür, daß eine Ware Wert hat, zeigt aber nicht auf, wodurch dieser Wert begründet ist. Aus dem Preis auf den Wert einer Ware zu schließen, hieße ja, daß deren Wert auf dem (Waren-)Markt entstünde. Daß dem nicht so ist, hat Marx ja dann nachgewiesen: Er hat sauber unterschieden zwischen dem Produktionsprozeß des Kapitals (Band 1), in dem Wert vermittels der Verwertung von Arbeitskraft geschaffen wird, und dem Zirkulationsprozeß des Kapitals (Band 2), in dem der geschaffene Wert, die Ware veräußert wird, damit der Kapitalrückfluß in der gewünschten Form plus dem Mehrwert, der in dem Teil unbezahlter Arbeitskraft besteht, stattfindet und zwar in der einzig angemessenen abstrakten Form, nämlich in Geld.
Daß » Das Kapital« etwas umfangreich geraten ist, liegt hauptsächlich daran, daß sich Marx sehr sehr viel Mühe gegeben hat, die Sache, die er erklären wollte — nämlich wie kommt der Profit zustande und welche Notwendigkeiten schließt solch kapitalistische Ökonomie ein — jedem wirklich daran Interessierten ebenso verständlich wie gründlich darzulegen. Deshalb ist sein Einstieg in das Thema auch der am allernaheliegensten: Er beginnt mit der ungeheuren Warensammlung, mit der Ökonomie wie Politik jeden darüber täuschen mag, der der Ansicht ist, diese Ökonomie wäre für ihn als Verbraucher so wundervoll vorteilhaft eingerichtet: »Wir« würden (nur allzu sehr) in einer »Wohlstandsgesellschaft« leben.
Nichtsdestotrotz gibt es mal wieder — wie schon in den 1920er Jahren — einen, der meint, »Das Kapital« müsse verkürzt und damit verständlich dargestellt werden². Der Autor dieses neuen Buchs empfiehlt sein Buch folgendermaßen:
»Warum regiert das Geld die Welt? Karl Marx hat diese Frage in einem Buch beantwortet, das bis heute als eines der einflußreichsten der Geschichte gilt. Dennoch haben es nur wenige Menschen vollständig gelesen.'Das Kapital' umfaßt drei Bände mit rund 2.500 Seiten, ist komplex, theoretisch und voller historischer Bezüge. Keine leichte Lektüre.«
Erstens: Mit der ebenso banalen wie moralschwangeren Frage »Warum das Geld die Welt regiert« hat sich Marx weder in diesem Buch noch sonstwo abgegeben. Zweitens ist »Das Kapital« weniger einflußreich geworden als vermutet, zumal es ja ganz offenkundig nicht einmal in den (mittlerweile zurücktransformierten) realsozialistischen Staaten gelesen wurde. Hätten Stalin, Chrustschow, Breschnew, Gorbatschow und noch einige dazwischen und drumherum es wirklich studiert, hätten sie sicherlich nicht die Politik gemacht, die sie nun einmal gemacht haben. Doch die Staatsgewalt in Händen verführt zweifellos dazu, sich lässig über theoretische Erkenntnisse hinwegzusetzen. Im übrigen wird niemand behaupten wollen, daß sich der Realsozialismus in irgendeiner Weise um die Emanzipation der Arbeiterklasse gekümmert hätte — schließlich wollte er ja mit ihr Staat machen, diese Klasse als seine Manövriermasse benutzen, wenngleich ein wenig unterschieden von der Art wie es herkömmlich bürgerliche Staaten machen. Drittens: Was soll die Rechtfertigung der Kurzfassung mit »komplex«? Verdient eine so gründliche Aufarbeitung eine solche Abschreckung? Und »theoretisch«? Ja bitteschön, was soll denn ein wissenschaftliches Werk denn sonst sein? Doch man sieht: Theorie ist dem Herrn Kurzangebunden schon von vorneherein suspekt: Er jedenfalls könne damit nichts anfangen und, wenn er das nicht könne, dann wohl auch sonst niemand!³ »Und voller historischer Bezüge«: Na und: Schließlich würde eine Ableitung von Erkenntissen ohne solche Bezüge ja gerade dem Herrn Superzusammenfasser erst recht nicht einleuchten, oder? Jedenfalls verspricht der gute Mann mit seiner Fassung eine leichte Lektüre! Auch seine Bemerkung »für alle, die … sehen, daß etwas schiefläuft«, ist schlicht daneben: Im Kapitalismus läuft es so, wie es laufen muß und es kann, was sein Prinzip der der Kapitalverwertung unterworfenen Produktion angeht, eben gar nicht anders laufen. Der Autor hat das »Das Kapital« wohl als ökonomischen Verbesserungsvorschlag gelesen und somit gründlich mißinterpretiert! Eine wahrlich hohe Kunst: Das Hineininterpretieren von Moral und Rechtfertigung (verflossener) realsozialistischer Ökonomien gibt die Absicht jener Kurzfassung zum Besten und man will sein Buch erst gar nicht zur Hand nehmen!
Ein anderer Mann⁴ macht sich eben auch so seine Gedanken zum Kapital. Dessen Einstieg ist gar nicht so schlecht: Die Realsozialisten der UdSSR & Co. hätten Marx in ideologisierter Form zu ihrem Fundament erklärt und sich dabei weniger auf »Das Kapital« als auf das »Kommunistische Manifest« gestützt. Der Autor hält dem entgegen: Marx verstand sich als Wissenschaftler und eben nicht als Filosof. Einmal abgesehen davon, daß es Marx scheißegal war, in welche Schublade er von Dummköpfen geschoben wurde: Solche Behauptung birgt alllerdings mehr Unklarheit als Klarheit. Was gilt denn heutzutage als Wissenschaft? Alle möglichen Ideologien werden doch an den wissenschaftlichen Einrichtungen, als die sich »freie«, gleichwohl den Staatsaufgaben verpflichtete Universitäten allenthalben verstehen, geschaffen und gepflegt. Mit diesen Marx' Erkenntnisse und Kritik gleichzusetzen ist abstrus, ja abwegig. Marx war Ideologiekritiker schlechthin. Marx war Wissenschaftler im Sinne von Aristoteles, dem zufolge Wissenschaft sich von bloßem Wissen dadurch unterscheidet, daß sie auf Beweisen beruht⁵ — allen von Menschen geschaffenen Tatsachen liegt ja ein Grund zugrunde. Die Lehranstalten der Realsozialisten haben eben auch nichts anderes als stinkbürgerliche, ideologiebasierte Wissenschaft betrieben, zum Zwecke ihrer Staaten — dabei wäre ja Marx nur hinderlich gewesen. Aufschlußreich ist allerdings, daß sie die Frühschrift von Marx und Genossen, das »Kommunistische Manifest« so hochhielten: Denn das hat ihnen gefallen, daß darin behauptet wird, die Geschichte wäre eine Geschichte von Klassenkämpfen. Und da die Kapitalisten- und Grundbesitzerklasse durch die Oktoberrevolution abgeschafft war, sah man sich in Moskau so ziemlich auf der in jener Schrift anvisierten Zukunft. Dabei ist die behauptete Tatsache ein schönes Interpretationskunststück. In Wirklichkeit ist die Geschichte hauptsächlich eine Geschichte von zwischenstaatlichen Kriegen und die Ökonomie auf die Gewalt eben der Staaten zurechtgeschnitten. Allerdings kam es damals, 1848 — es war die Zeit nationaler Erhebungen und Staatsgründungskriegen — Marx und seinen Genossen mit jener Bemerkung darauf an, ja sie sahen eine Notwendigkeit darin, auf die materiellen Grundlagen der Staaten hinzuweisen, die auf Kosten der Klassen gehen, die ihren Kopf für sie hinhalten müssen, sofern sie sich nicht anschicken, einen (weltweiten und eben nicht national beschränkten und irreleitbaren) Aufstand gegen ihre Beherrscher machen. Mit dem »Kommunistischen Manifest« war zum erstenmal der Gegensatz niedergelegt zwischen der nationalen und der sozialen Frage, ein Gegensatz auf denen jeder Kommunist bestehen muß, wenn er sich nicht wie Stalin und andere verlogen auf dieses Manifest bezieht.
Doch zurück zu dem Mann, der sich Marx wohlwollend vorgenommen hat. Der schreibt:
»Im Zentrum seines Denkens stand die Analyse der Arbeit. Der Mensch ist 'das Tier, das sich selbst produziert', so die Herausgeber der kritischen Marxausgabe Siegfried Landshut und J. P. Meyer. Zur Analyse der Arbeit war es notwendig, sich ökonomische Kenntnisse anzueignen. … Marx formulierte daraufhin die Mehrwerttheorie. Sie besagt, daß ein Mensch mehr Wert schaffen kann, als zu seiner eigenen Erhaltung notwendig ist. Die Differenz macht sich der Kapitalist zu eigen, indem er den Arbeiter mehr arbeiten lässt, als er ihm für seinen Lebensunterhalt bezahlt. So entsteht der Profit.«
Der Witz an der Analyse der Arbeit, war bei Marx jedoch nicht die Arbeit an sich, sondern die bestimmte Form von Arbeit, nämlich Arbeit im Tausch für Geld, ohne das wiederum die nötigen Lebensmittel nicht zu beschaffen sind. Und da ist es nicht der Witz der Sache, »daß ein Mensch mehr Wert schaffen kann, als zu seiner eigenen Erhaltung notwendig ist«. Ein Mensch wäre ja verrückt, wenn er mehr schaffen würde als zu seiner Erhaltung notwendig ist. Die Wahrheit ist vielmehr: Unter kapitalistischen Verhältnissen wird der Mensch, der seine Arbeitskraft feilbietet, unter seine zu ihrer Erhaltung erforderlichen Notwendigkeiten gedrückt. Er wird erpreßt und kann erpreßt werden aufgrund dessen, daß er seine Arbeitskraft notwendigerweise verkaufen muß, da ihm selber jede andere Reprodukionsmöglichkeit entzogen ist. Er wird von denen ausgebeutet⁶, die durch ihren Reichtum in der Lage sind, andere für sich, für ihren Zweck, nämlich den der Kapitalverwertung arbeiten zu lassen. Der Arbeiter wird immerzu an sein schieres Existenzminimum gedrückt, er kommt selbst wenn er ein wenig darüber ist, nie wirklich auf einen grünen Zweig, d.h. nie auf seine Kosten, er wird skrupellos verschlissen. Richtig wäre es also zu sagen, der Arbeiter muß mehr Wert schaffen — er erhält nie den vollen Gegenwert seiner verausgabten Arbeitskraft, vielmehr nur soviel wie zu deren unmittelbaren Reproduktion nötig ist!
Die Welt sieht demnach so aus: Neulich war in der Augsburger Allgemeinen gleich auf der Titelseite zu lesen, daß bald ein Viertel der Arbeiter zum Mindestlohn arbeiten⁷. Und wie es um die gesundheitlichen Zustand der arbeitenden Bevölkerung bestellt ist, weiß man auch. Eben kam die Meldung, daß in den USA, der fortgeschrittenste kapitalistische Staat überhaupt, in dem etwa 4 % der Weltbevölkerung lebt, über 50 % aller weltweit verkauften Medikamente verschrieben werden. Und da behaupten die Herausgeber einer kritischen Marxausgabe »der Mensch sei das Tier, das sich selber produziert«: Lächerlicher geht es wirklich nicht! Man möchte gar nicht wissen, was in jener »kritischen Marxausgabe« sonst noch für Mist steht. Doch auch der, der diese beiden Herren zitiert hat, verfällt zusehens in stinkbürgerliche Klischees: 1. Marx hätte profezeit. Nein, Marx hatte allenfalls gehofft. 2. Die kapitalistische Gesellschaft ginge an ihren Widersprüchen kaputt. Auch das ist nicht aus Marx' Schriften abzuleiten. Im Gegenteil, Marx war sich bewußt, daß es einen Automatismus nicht gibt und er war nie Prediger einer Geschichtsteleologie. Er wußte sehr wohl, daß eine kapitalistische Gesellschaft sich in und mit ihren Widersprüchen fortbewegt und alles tut, um die Widersprüche als Probleme zu bewältigen trachtet — als solche faßt sie nämlich ihre Widersprüche auf, von denen sie sich keinen Begriff macht und auch nicht machen muß, denn schließlich macht ihre Gewalt eine Begriffsbildung überflüssig.
3. Daß Marx den Staat als bloßen Überbau gesehen hätte, was ein Vorwurf eines in jenem Aufsatz erwähnten Protagonisten eines »liberalen Staates« ist, ist eine willkürlich verdrehte Auffassung. Richtig: Der Staat schöpft seine Gewalt aus seinen ökonomischen Mitteln, doch mit seiner Gewalt steht er über seiner Ökonomie: Er setzt eine Klassengesellschaft ins Recht, die er beaufsichtigt und steuert, jede Verfassung legt davon Zeugnis ab. Jedes einzelne Kapital seinerseits weiß, was es am Staat hat, der ihm Bürden (Investitionshemmnisse!) abnimmt und Freiheiten auch und gerade gegen andere Staaten schafft. Klar, die Arbeiterklasse hat nichts vom Staat zu erwarten, er verwaltet die als seine Manövriermasse, die er, Steuern zahlen lassend, schröpft, und als Verwertungsmasse seiner Kapitalistenklasse. Vor der schützt der Staat die Arbeiter als unterprivilegierte Klasse gerade mal soviel, damit sie bis ins hohe Alter ausnutzbar bleibt.
Zum Schluß kommt der Autor noch auf China zu sprechen, das ja als sozialistisch gilt — und nicht zuletzt deswegen ja vom Westen so fürchterlich angefeindet wird. Und es ist leicht zu sehen, daß China sich nicht auf Marx berufen kann, wenn es seinen Staatsökonomie kapitalistisch organisiert. Doch über Sinn und Zweck eines Staatsprogramms zu reden, erübrigt sich einem »liberalen«, um nicht zu sagen: staatsbürgerlich denkenden Betrachter ja sowieso. Allenfalls könnte einem solchen zumindest auffallen, daß die von ihm bereits angesprochenen, aber leider nicht vertieft angesprochenen Widersprüche des Kapitalismus von der Regierung in Beijing anders und wohl besser unter Kontrolle gehalten werden als von den führenden Weststaaten. Wenn hier schon bei dem Thema Staat und Sozialismus angelangt: Es gibt ja in der westlichen Welt eine schier unumstößliche Behauptung, die besagt, daß der Staat, je umfassender er agiert, die Tendenz hat, sozialistisch zu werden, was mittlerweile durch die Bank als negativ beurteilt wird. Und umgekehrt, daß gerade deshalb es nötig sei, möglichst den Staat und seine Befugnisse zugunsten der Freiheit der Wirtschaft zurückzufahren — als hätte eine »überbordende« Bürokratie nicht in jedem ihrer Details Sinn & Zweck. Tatsächlich jedoch hat ein Staat nur dann einen kleine sozialistische Seite, wenn er das Kapital abgeschafft hat. Wirklich sozialistisch kann ein Staat gar nicht sein, denn eine Emanzipation der Arbeiterklasse befreit dieselbe nicht nur vom Kapital, auch von ihrem eigenen Klassenstatus, hat also die Gewalt eines Staates, der ihr vorsteht, gar nicht nötig, weil nutzlos.
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¹ Schon zu Marx' Zeiten gab es wohl Leute, die lieber in Papierkörben fischen, als ihren Verstand zu strapazieren!
² Hermann Lueer: Das Kapital von Karl Marx: aktualisiert und kurz gefaßt – Band 1
³ Die der Theorie zugemessene Bedeutungslosigkeit für die Praxis ist typisch für ML-Ideologen. Die haben sich seit jeher der Praxis verschrieben. Dementsprechend sieht deren Praxis dann aus — blinder Aktionismus.
⁴ Rodion Ebbighausen: Karl Marx — Die Karriere einer Idee (Beitrag für die Deutsche Welle) [Im übrigen ist es wirklich lustig, zur Illustration des Beitrags ein dpa-Foto breit ins Bild zu rücken, auf dem eine Hand einen frisch blinkenden Kapitalband aus dem Regal zieht.]
⁵ Das gilt nicht allein für Naturwissenschaften, für Gesellschaftswissenschaften nicht minder: Aristoteles machte da keinen Unterschied,er konnte ja auch gar nicht auf solche Idee verfallen, da er die modernen bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften nicht kennen konnte.
⁶ Ausbeutung ist eine sachlich begründete Kategorie — im Gegensatz zu ihrem bürgerlichen Verständnis, nach dem Ausbeutung ein moralischer Begriff ist, der allein dabei verwendet wird, wenn dem Arbeiter übermäßige Schinderei zugemutet wird.
⁷ Ein schöner Erfolg der Hetzer für mehr Wirtschaftswachstum! Herzlichen Glückwunsch auch an die amtlich befugten Verscherbler der Arbeiterklasse, an die im DGB zusammengeschlossenen deutschen Gewerkschaften!
08.06.2025 KoKa Augsburg
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