Kritik

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koka

 

Das dauerhafte Scheitern der »friedlichen Koexistenz«
 

Rußland hat schon zu Zeiten der Sowjetunion auf friedliche Koexistenz gesetzt und dies insbesondere in zahlreichen Rüstungskontrollabkommen demonstriert. Damals hat Moskau allerdings die Erfahrung gemacht, daß der Westen unter Führung der USA nur sehr sehr bedingt — nämlich solange kein Weg zur Niederringung des Feindes gefunden — an einer Koexistenz interessiert ist, was er durch seine Anstrengungen, die UdSSR totzurüsten seinerseits demonstriert hat. Nun kam man in Moskau dann schließlich zu der Überzeugung, daß die schiere Unmöglichkeit einer friedlichen Koexistenz durch die eigene Staatsräson bedingt sei. Also hat der damalige Staats- und KPdSU-Parteichef Gorbatschow den Sozialismus zugunsten einer wirklich friedlichen Koexistenz ebenso aufgegeben wie konsequenterweise das sowjetische Verteidigungsbündnis, den Warschauer Pakt, aufgelöst, der ja für die Verteidigung des Sozialismus (sowjetischer Art) installiert worden war.

Der Westen war so frei und hat es Rußland nicht gedankt. Den Sozialismus beizubehalten und ihn im Sinne Marx'scher Ideologiekritik, also im Sinne einer Emanzipation der Arbeiterklasse zu verwirklichen, das wäre sicher allemal besser gewesen, als sich der Illusion einer friedlichen Koexistenz mit dem Systemfeind auf Biegen und Brechen zu widmen: Das — den aktuellen Krieg inklusive — hat Rußland jetzt davon. Und trotzdem scheint man in Moskau nichts Wichtigeres zu tun zu haben, als sich weiterhin mit dem Westen verhandlungsbereit zu geben, worauf u.a. die Bezeichnung des Krieges als »spezielle militärische Operation« hindeutet.
Und im übrigen nicht nur das: Wer sich an den Hitler-Stalin-Pakt erinnert, der sei darauf hingewiesen, daß Stalin selbst angesichts des Aufmarsches deutscher Truppen an der sowjetischen Staatsgrenze im Jahre 1941, über den er durch seine Informanten im Bilde war, es bis zur Stunde des tatsächlichen Überfalls nicht wahrhaben wollte, daß das damalige deutsche Regime vertragsbrüchig wird. Er nahm also in Kauf, daß die deutschen Truppen ohne große Gegenwehr schnell und weit auf russisches Gebiet vorstoßen konnten. Ähnliches kann man heute angesichts der Kursk-Offensive bemerken, die die NATO mittels ihrer ukrainischen Handlanger vornahm. Ohne NATO-Waffen, NATO-Berater und -Logistik wäre dieser Vorstoß ja völlig unmöglich gewesen. Und was die Vergangenheit anbelangt da registriert man eine Kontinuität in einem guten Glauben an ein Deutschland, der schlicht unglaublich ist: Der staatliche Sender Russia Today hat offenkundig keinerlei politisches Geschichtsbewußtsein: RT deutsch propagiert nämlich unverfroren die NS-Nachfolgepartei AfD und deren — in Bezug auf Rußland verlogenen*! — Standpunkte, ganz so als wären die für Rußland eine Perspektive, von der russischen Bevölkerung gar nicht zu reden. Aber so ist es eben in einem Staat, der nach westlichem Vorbild auf Nationalismus pur, d.h. statt Sozialismus, setzt. Darüber kann auch das BRICS-Bündnis nicht hinwegtäuschen: Es setzt ja gerade auf einen international anerkannten Nationalismus und da ist jeder Staat willkommen, ganz unterschiedslos wie die Staatsräson der einzelnen Staaten im einzelnen aussieht.

Die antirussische Propaganda ist seit über 100 Jahre dieselbe. In ihrem Kern ist sie rassistisch und sie zielt auf die Unterwerfung ganz Rußlands. Die Kritik an der Nichtexistenz von Kapital, also an einer rudimentären Art von Sozialismus war zwar kein Vorwand, sie war vielmehr das i-Tüpfelchen in der rassistischen Kritik am russischen Menschenschlag: Er könne einfach nicht anders als bewußt böswillig sich »unserer« Vernunft zu widersetzen. [ANN vom 13.10.1941 und taz vom 27.10.2011 — nach Befinden der heuchlerischen taz war es nach 70 Jahren mal wieder Zeit, in die Offensive zu kommen.]

Die ukrainischen Bandera-Faschisten sind den imperialistischen Staaten nützlich, weil, fatalistisch wie sie sind, opferbereit — aus westlichem Blickwinkel also kaum minder verachtenswert. Auch stört es die Imperialisten nicht die Bohne, daß die Ukraine in die Steinzeit zurückbefördert wird (insbesondere die USA haben da ja große Erfahrung, wie das geht — erfahrungsgemäß am besten so, daß man sich dabei nicht selber die Hände schmutzig macht!) und jede Menge Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion anfallen. Für die Imperialisten ist »Frieden« die Ideologie seiner weltweiten Herrschaft. Also ein unumstößliches, weil gewaltversehenes Dogma. Überdies duldet es keine grundsätzliche Konkurrenz ihrer Herrschaft, weder eine gleich- (alternativ-kapitalistische) noch andersgeartete (irgendeine sozialistische).

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Verlogen sind deren Standpunkte, weil sie zum einen auf die Diskreditierung qua Mißerfolg der deutschen Regierung setzen, wofür Rußland im aktuellen Krieg gerade gut genug erscheint. Zum anderen weil in Rußland wie in den anderen osteuropäischen Staaten (inklusive der Ex-DDR) seit dem Systemwechsel vor gut 40 Jahren die AfD eine Renaissance des Faschismus heraufdämmern zu sehen gewillt ist.

 

12.09.2024
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Ankommen und Abholen

koka

 

 

Politiker, Politisierte und der Funktionszusammenhang

Vom Ankommen und Abholen

 

Der Politiker
Der Staat und seine Räson wird in der Politik repräsentiert. Die Träger der Repräsentation sind Personen, die eben die Politik machen, welche dem Staat zu dienen ent- und verspricht. Notwendigerweise eine von ihrer Person und den anderen Angehörigen des Staates abstrahierte Angelegenheit. Politiker laufen deshalb zweigeteilt durch die Welt: Auf der einen Seite sind sie Individuen, auf der anderen Seite eben davon abstrahierte Staatsfunktionäre. Dies zu vermischen ist daher ein großer Fehler, fällt gegebenenfalls juristisch unter den Begriff Korruption und wird, wenn aufgedeckt, entsprechend bestraft.
Wie schwer es Politiker haben, immerzu so gut wie ausschließlich für den Staat da zu sein! Diese Mühsal lassen sie sich daher entsprechend vergüten. Ein Anreiz, sich in die Staatsbelange ganz tief hineinzudenken, ist das gerade dann, wenn man als ein Parteimitglied auf der politischen Karriereleiter nach oben zu klettern strebt. Wenn eine Führungskraft aus der Wirtschaft, ein Kapitaleigner zumal sich herabläßt, in die hohe Politik einzusteigen, dann verdankt sich das einem schier ununterdrückbaren Drang nach Anerkennung in der und durch die Öffentlichkeit. Andere Parteimitglieder verspüren diesen Drang nach Anerkennung nicht minder, wenn sie sich entschließen, Karriere in einer Partei und damit gleichzeitig als Staatsrepräsentant zu machen. Die Bedingung dafür, sich durchsetzen zu wollen, erfordert einige Anstrengung und Skrupellosigkeit. Durchsetzungsfähigkeit wird allerdings als Tugend von der Öffentlichkeit sehr geschätzt. Denn sie wird als Unterpfand der Stärke des Staates betrachtet, einer Stärke, die als allgemein verbindlicher Anspruch außer Frage steht. 
Während sich Politiker in ihrer Partei — zweckmäßigkeitshalber wählen sie die am besten zukunfts- und erfolgsträchtig erscheinende — durchzusetzen versuchen, beginnt gleichzeitig der Kampf gegen die Köpfe der konkurrierenden Parteien um Staatsämter. So ist das jedenfalls in der Herrschaftsform namens Demokratie; in anderen Staatsformen reduziert sich die Karriere auf die Durchsetzung in einer einzigen Partei. Doch wie auch immer die Form der Herrschaft verfaßt ist, ein Politiker nimmt die Staatsräson, die Staatsbelange allenthalben überaus ernst, womit seine andere, rein menschlich-materielle Seite möglichst überhaupt nicht mehr wahrzunehmen ist.
Umso irrer erscheint der Versuch der Medien, gerade dem Privatleben von Politikern nachzuspüren und es an die Öffentlichkeit zu zerren, und zwar zwecks Beurteilung seiner Qualifikation als Staatsmann. Dieses Vorgehen und das so gefundene Urteil — häufig ein bestätigtes Vorurteil — ist dem jeweiligen politischen Standpunkt geschuldet und dem Vergleich der Parteien und Politiker untereinander. Dieser Vergleich ist folglich nie objektiv, er wird ja immer unter dem Objekt, unter der Gürtellinie — der staatsfunktionellen Seite des betreffenden Funktionsträgers — geführt. Natürlich wissen die Politiker darum und sie entziehen der Öffentlichkeit weitestgehend möglich ihre Privatsfäre, in der es ja oft genug so manches zu vertuschen gibt. Ganz anders hingegen treten sie in Wahlkämpfen auf, in denen sie sich als ganz normale Staatsangehörige geben, als Menschen wie du und ich, also Menschen, die mit Politik sich nicht so intensiv abgeben, wenn überhaupt. Diese berechnende Haltung ist, so natürlich sie erscheint, zutiefst verlogen: Sobald sie die Wählerstimmen eingesackt haben und wieder ans Politikmachen gehen, gehen ihnen die Belange ihres Stimmviehs genauso an der Hutschnur vorbei wie zuvor. Als lästig wahrgenommen existiert das Stimmvieh dann einzig und allein als Manövriermasse des Staates und Verwertungsmasse seiner Wirtschaft. Deshalb ist (unter vielem anderem) Arbeitslosigkeit ein staatliches Problem und keines desjenigen, dem dadurch Geld zum Lebensunterhalt fehlt. Die Arbeitslosigkeit hat also zwei Seiten, doch nur eine interessiert den Staat und seine Funktionäre. Wer es nicht wahrhaben will, sei auf das Gezerre um Hartz IV verwiesen, das schönfärberisch in Bürgergeld umbenannt wurde, wobei gleichzeitig die Anforderungen noch funktioneller gestaltet worden sind: Noch schneller werden mittels drakonischen Sanktionen brachliegende menschliche Ressourcen in den Arbeitsprozeß gepreßt, anders ausgedrückt: der Ausbeutung unterworfen. Nach diesem Muster fortschreitender Funktionalität verhält es sich bei sämtlichen schwer umsorgten, als Problem verhandelten Staatsbelangen, mit denen die Politik ihren Beherrschten stets noch mehr abverlangt, zumutet.

Der politisierte Staatsangehörige
Als politisch denkender Mensch hat freilich nicht nur der Politiker die so zwingenden Staatsaufgaben in seinen Schädel eingesogen. Auch der politisierte Staatsangehörige hat gelernt, politisch zu denken. Er versteht sein eigenes materielles Interesse, sein Bedürfnis nach einem angenehmen, sorgenfreien Leben in ein politisches zu verwandeln. Das ist deshalb einfacher zu erreichen, als es erscheint und zwar einfach dadurch, daß er in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Staat und dessen Wirtschaftsordnung gestellt ist. Hans und Gretel brauchen also nur dieses Abhängigkeitsverhältnis von Grund auf mit einem Plus zu versehen. Das gelingt am besten durch einen Vergleich mit früheren Zeiten oder mit anderen Staaten, in denen die Lebensbedingungen schlechter waren beziehungsweise sind. Dieser Vergleich erklärt gleichzeitig den Grad des Nationalbewußtseins. In einem so mächtigen Staat wie den USA ist dies selbst unter den Ärmsten sehr mächtig, so mächtig, daß es geradezu als ein Zufluchtsort der bedrängten Kreatur bezeichnet werden kann. Wenn das Nationalbewußtsein einmal solches Ausmaß erlangt hat, hält der Staat selbst den Schein von sozialer Sorge für ziemlich überflüssig  — selbst der Ärmste hat doch schon alles, was er aus Staatssicht einzig und allein benötigt, nämlich das richtige Bewußtsein, das, einem erfolgsgesegneten mächtigen Staat anzugehören.
Angehörige weniger mächtiger Staaten dürfen dann ausnahmsweise auch mal jauchzen, dann, wenn ein nationaler Erfolg erreicht wird. So wird für sie charakteristischerweise der Beitritt des Staates, dessen Angehörigkeit sie besitzen, zu einem Staatenblock als ein persönliches Erfolgserlebnis verbucht. Man denke an all die NATO-, EU- und Euro-Staaten, für die so viele gerade in Süd- und Osteuropa (doch nicht allein dort) sich begeistern, auch wenn sie für ihre Person schauen können, wie sie sich mit den vorherrschenden Lebensbedingungen herum- und Tag für Tag durchschlagen können. Ihre Gesundheit, die dabei allenthalben notwendigerweise ruiniert wird, schadet dabei ihrer national bewegten Laune nicht, ganz im Gegenteil. So denken sie auch nicht über ein staatlich eingerichtetes Gesundheitswesen nach, dem sie zwangsläufig früher oder später anheimfallen und das bekanntlich nicht so kostenlos ist wie das auf Kuba. Nationalflaggen allüberall selbst am Krankenbett, das gefällt der Politik: Sie weiß die Politisierung ihrer Untertanen, hofierend »Bürger« genannt, sehr zu schätzen! 

Diese Abstraktionsleistung von ihren eigenen Bedürfnissen, die die Politik so zu schätzen weiß, ist dennoch nicht ganz so einfach zu haben, wie es zunächst scheint. Sie erfordert nämlich eine Verschiebung der Bedürfnisse auf die Bedürfnisse, die in einer so fortgeschrittenen Gesellschaft notwendig sind, um sich nicht bloß über Wasser zu halten. Als Gesellschaftsmitglied will der Mensch anerkannt sein. Dies ist unabtrennbare Voraussetzung seiner Politisierung. Er braucht dies und das. Er braucht nicht bloß Essen und Trinken, sondern besseres Essen und Trinken. Er braucht nicht nur ein Obdach, sondern eines, das sich sehen lassen kann. Er braucht ein eigenes, möglichst attraktives Fortbewegungsmittel, nicht bloß ein öffentliches, und nicht bloß, um an den Arbeitsplatz zu kommen. Er braucht nicht bloß ein Festnetztelefon, sondern möglichst das neueste smarteste Handy, das ihm das Profitinteresse der anderen Seite anrät. Er braucht nicht nur einen Urlaub im engeren europäischen Umkreis, sondern verlangt danach, die Welt zu bereisen. Usw. usf. Objektiv betrachtet, hält er das für eine ihm zustehende Ent-Schädigung, was er sich jedoch selber nicht eingesteht! Jedenfalls ist das heutzutage allenthalben Benötigte ganz im Sinne einer staatsstabilisierenden Denkweise geradezu geboten. Denn damit hält er, der Untertan der er ist, sich mittels seines Bewußtseins am Leben eines brauch- und verbrauchbares Rädchens und dient dem Staat, oft genug sogar dadurch, daß er seine Arbeitskraft verstärkt einsetzt, um all das zu erlangen, was ohne diesen zusätzlichen Verschleiß außerhalb des Bereichs seiner Möglichkeiten läge. Dem Staat wiederum ist es egal, ob der Staatsbürger Aufwand und Ertrag für sich richtig abzuschätzen weiß oder ob der sich darob Selbsttäuschungen hingibt. Sollte er seinen Selbsttäuschungen erliegen, fällt er ja doch wieder auf den Staat zurück, auf ein im Staats- wie Wirtsschaftsinteresse fungibles Gesundheitswesen zum Beispiel. Und da ist es dem Staat und seiner Politikerriege dann wiederum schnuppe, ob der Getäuschte den jeweiligen Behandlungsladen relativ gut findet oder auf ihn schimpft, wenn er sich eine bessere = teurere Therapie nicht leisten kann. Warum auch sollte Politiker es scheren, ob jemand Opfer seiner Illusionen geworden ist?

Gut, der Mensch als Staatsangehöriger ist ja längst da angekommen, wo er nach Meinung der Staatsverantwortlichen hingehört. Und genau dort holen sie ihn auch regelmäßig ab: Im alltäglichen Existieren unter den eingerichteten Zuständen. Dazu muß nicht einmal eine gute Miene gemacht werden, wenngleich »Optimismus« gewünscht und propagiert wird. Für die gute Laune sorgt überdies ein riesiges Unterhaltungsangebot. Das schließt außer zu den wohlgesehenen Geschäftszwecken den Nutzen ein, daß die verehrten Bürger auch in der arbeitsfreien Zeit nicht zum Nachdenken, nicht auf dem »Gemeinwohl« abträgliche Gedanken kommen [Kennzeichnenderweise ist »Shopping« nicht nur das systemgerechteste Angebot, es ist statistsch auch das längst am zweithäufigsten genannte Hobby (mit über 25% laut Allensbach)] und sich mit einer nüchternen Bestandsaufnahme ihrer eigenen Lage befassen, und zwar hinsichtlich der Staatsordnung, mit deren Zumutungen sie sich in mehrfacher Hinsicht herumschlagen müssen.
Auf solch unerwünschte Idee müßte man selber kommen, denn der Staat bietet dafür selbstverständlich keinerlei Handreichung. Im Gegenteil, er bestätigt sein menschliches Inventar in jeder Täuschung, der es sich hingibt. Die fundamentalste aller Täuschungen ist die, zu glauben, der Staat wäre für einen selber da (oder hätte grundsätzlich diese Aufgabe). Der Staat will die Getäuschten ja gerade da abholen, wo er sie hingestellt hat. Vorhersehbarerweise werden sie ja da dann auch abgeholt und zwar so, daß sie darüber erfreut sein können: Wenn Politiker Bürgernähe demonstrieren: Halleluja! Das ist ja fast wie in der Kirche, wohin der allmächtige Heiland die braven unschuldigen Kinderlein einlädt.

Funktionieren als Zweck
Wie man sieht, erzieht der Staat seine Bürger zu Ignoranten ihrer objektiv vorhandenen Lage. Funktionieren das heißt, die Staatsmaschinerie in all ihren Abteilungen am Laufen zu halten, möglichst reibungslos versteht sich. »Funktionieren« unterstellt schon all die Inhalte, die Staatsziele und Staatsaufgaben, die funktionieren müssen. Die stehen außer jedweder Diskussion »Funktionieren« müssen sie und »funktionieren« müssen daher alle; alle müssen deshalb an einem Strang ziehen; die Volkseinheit wird mit dem nationalen »Wir« eins ums andere Mal beschworen und vor »Spaltern« eindringlich gewarnt. Das alles hat sich auch jeder Kritiker zu Herzen genommen, wenn er kundtut, daß dies oder jenes gar nicht oder nicht richtig gut funktioniert: Er gibt kund, wie es funktioniert oder besser funktionieren könnte. Das versteht man von Staatsseite aus betrachtet als erfolgreiche Erziehung zur »Kritikfähigkeit«. In seiner Dogmatik wird damit der Staat samt seiner Räson wunderbar bekräftigt, er enthebt sich jeder auch nur denkbaren Kritik!

Ignoranz gegenüber dem Staat als solchem soll jedenfalls nicht als solche verstanden werden. So ist es im übrigen auch keineswegs dysfunktional, wenn getrickst wird und beispielsweise Doktorarbeiten abgekupfert werden. Schließlich ist noch keinem Fälscher vorgeworfen worden, er hätte sich daran verbrochen, funktionstüchtig und kritikfähig zu sein. Tricks unterstreichen ja gerade den Willen eben dazu! Ein Typ wie der im »Faust«, der behauptet, alles Mögliche studiert zu haben und so klug wie zuvor geblieben zu sein, schützt Erkenntnisinteresse vor, insofern er erfühlt hat, daß das ja gar nicht gefragt ist — es kommt vielmehr darauf an, sich aufzublasen, worin Herr Goethe selber ja ein Meister war (weshalb er über alle Staatsformen hinweg bis heute hoch verehrt wird). In Fachbereichen wie Jura und Theologie geht es mit Sicherheit nicht um Erkenntnisse, in den anderen Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nicht minder. Welch uferloses Zeug da gelehrt und gelernt wird, Touristik beispielsweise! Dort kann man dann vielleicht etwas über das Klima in Bangla Desh erfahren, ein bislang touristisch nicht erschlossenes, aber möglicherweise umso geschäftsträchtigeres Reiseziel! Es gibt kaum einen Studenten, der mit einem anderen Gedanken die Hochschule betritt als den, sich als funktionsfähiges Tool irgendwo und irgendwie im Getriebe des Staates und seiner profitorientierten Wirtschaft zu etablieren. Und mit Erreichen dieses Ziels nach der Anerkennung heischt, die ihm sowohl der Staat wie die analog tickenden Mitbürger allüberall versprechen.
Schon Spinoza hatte erkannt, daß die von Staats wegen eingerichteten Universitäten zur Beschränkung und nicht zu Erweiterung des Denkens gegründet sind (Abhandlung des Staates, § 49). Wen sollte es da verwundern, wenn gerade an den Führungspositionen von Staat und Gesellschaft lauter »Experten« — autorisierte Fachleute, Leute mit entsprechenden Zeugnissen — zugange sind? Daß die Kompetenz eines solchen angezweifelt wird (von Konkurrenten einerseits, von politisierten Außenstehenden andrerseits), ist das Blödeste, was einem, der sich selber als Profi versteht, widerfahren kann. Ein Beispiel: Ein Verteidigungsminister muß sich auf Gewalt verstehen, muß Frieden sagen können, wenn er Erpressung und Krieg meint, muß Aufrüsten, wenn er als Friedenspolitiker verstanden werden will. Ansonsten kann er seinen Hut nehmen (gilt gleichermaßen für das gleichberechtigte weibliche Geschlecht); Beispiele kennt jeder Zeitungsleser.

Wenn jemand daran denkt, sein privates Leben komplett zu verpfuschen  — was, wenn bei einem Einstieg in die Politik oder in die Bundeswehr, schon als ziemlich gelungen angesehen werden kann —, dann gebührten ihm Orden und bei seinem Ableben erhält er nach Rang auch ein Staatsbegräbnis. Höhere Staatsfunktionäre kriegen außerdem Skulpturen oder zumindest Straßennamen verpaßt; Soldaten zum Pack gebündelt Veteranentage und Kriegerdenkmäler. Denn in all solchen Fällen ist die Gleichsetzung von Person und Funktion sichtbar optimiert. Damit soll nicht ein mit funktionell eingesetzter Intelligenz vergeudetes Leben kundgetan werden, vielmehr ein solches als etwas anderes, als ein gesellschaftsnützliches für alle Ewigkeit gewürdigt sein. (Im übrigen ist der Gedanke, eine solchartige Intelligenz mit einer künstlichen zu ersetzen geradezu auf der Hand liegend.)

Fazit:
Wer den Staat und seine Bürger nun nicht endgültig voll geil findet, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen. Also schwenkt eure schwarz-rot-goldenen Fähnchen, sauft euch die Hucke voll (heißer Tip: Kann man bei der BW lernen!) und bleibt so funktionell, wie ihr selber es sein wollt und wie euer vielgeliebter Staat euch zu schätzen, weil in die Pflicht zu nehmen weiß. Denn euer Denken macht zwar nicht den Erfolg des Staates aus, wohl aber stellt es diesen Erfolg unter Beweis!

21.06.2024
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linke Desorientierung

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Linke Desorientierung

 

Nun haben es nur wenige linke, das heißt antikapitalistische und antiimperialistische Zeitungen und Zeitschriften ins 21. Jahrhundert geschafft. Und unter denen, die es geschafft haben, ist kaum noch etwas übrig geblieben, was diesen Begriff verdient. Diese Tatsache enthüllt, daß es mit dem seinerzeitigen kritischen Verständnis der Welt auch nicht allzuweit her sein konnte: Wie sonst hätte die Adaption an die bestehenden Verhältnisse passieren können? Ja, nicht einmal eine notwendige Spaltung in den Redaktionen hat es gegeben, es wäre das ja nicht zu übersehen gewesen. Allein der ein oder andere mag klammheimlich abgesprungen sein, bemerkend nicht die Mittel zu haben, den fahrenden Zug des Opportunismus aufhalten zu können. 
Nun ist allerdings nichts als ein knallhartes Kontra notwendiger denn je: In Zeiten laufender imperialistischer Kriege (speziell die gegen Rußland und gegen die Palästinenser) und in Vorbereitung begriffenen imperialistischen Kriege (speziell die gegen Nord-Korea sowie gegen China u.a. wegen seiner Insel Taiwan); in Zeiten der kriegs- wie kapitalnotwendigen Verarmungspolitik.
Man könnte ja darüber diskutieren, wie, mit welchen Mitteln, mit welchen Argumenten den herrschenden Zuständen entgegengetreten werden kann. Allein schon das erweist sich als schwierig, wenn zum Beispiel Leserbriefe wie dieser unter den Tisch der monatlich erscheinenden Zeitung analyse & kritik (ak; vormals Arbeiterkampf) fallen: 

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LESERBRIEF zu »Multipolare Weltunordnung«*​ (ak 701)
[vom 28.03.2024]

Was ist die Absicht, einen solchen Aufsatz in der ak zu veröffentlichen, noch dazu an herausragender Stelle, auf der Titelseite? Will die ak jene eindeutig proimperialistische Stellungnahme ihrer Leserschaft als irgendwie links, als Arbeiterkampf nahelegen? Wenn dem so ist, zeigt das nicht nur eine Fehleinschätzung ihrer Leser, vielmehr stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die Redaktion statt Klarheit Verwirrung stiften möchte?
Der Eindruck, daß viele Linke gar nicht (mehr) wissen, wo der Feind steht, ist ohnehin erschreckend. Dabei ist es doch auf der Hand liegend, daß die Aggression vom Westen ausgeht, der so frei ist, die Ukraine dem russischen Einfluß entziehen zu wollen, und somit Rußlands Interesse herausfordert, und zwar so, daß deren Staatsführung sich zu einer Reaktion gezwungen sieht, will Rußland nicht selber zu einem Erfüllungsgehilfen westlicher Interessen degradiert werden. Dieses käme ja einer Selbstaufgabe seiner Macht gleich. —
Anstatt sich in die zwischenstaatlichen Belange einzumischen und Partei zu ergreifen, wäre es da nicht angebracht, zu überlegen, wie eine Katastrofe verhindert werden kann, wie Krieg überhaupt verhindert werden kann? Dem fehlt nämlich der Bremsklotz mehr denn je, nachdem die soziale Frage von nationalen Antworten dahingerafft wurde (das BSW dokumentiert das ganz aktuell). Die Arbeiterklasse im Westen, potenziell in der Lage, den imperialistischen Ansprüchen der G7-Staaten entgegentreten zu können, könnte auch für eine Entlastung der Arbeiterklasse in Osteuropa sorgen. Woran es schechthin fehlt, ist ein Klassenbewußtsein. Auch in Rußland, wo gar ein faschistischer Hochstapler als Hoffnungsträger betrauert wird (ak 702) und die dahinsiechende Kommunistische Partei längst (beginnend schon mit Stalin) eine Bankrotterklärung bezüglich einer Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse abgegeben hat, was offenkundig jenen Kommunisten nicht einmal aufzufallen scheint.
Freilich, jener reaktionäre Beitrag in der ak bestätigt die herrschenden Zustände und redet einer unipolaren imperialistischen Weltordnung das Wort, in völliger Übereinstimmung mit den amtierenden Charaktermasken in Nordamerika und Westeuropa, gleichgültig dagegen, wieviel diese kapitalistische Ordnung der Arbeiterklasse als staatlicher Manöriermasse an Kosten aufbürdet.
Kurzum, jene antirussische Hetzschrift, ist nun wirklich nicht geeignet, »linke Diskurse wieder in die Breite zu bringen«, wie das ein Leserbrief (in ak 702) der ak als Absicht zugutehält

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* Im übrigen ist der kritisierte Artikel bei weitem nicht der einzige, der kritikwürdig ist. 

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bedürfnisse

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Das Elend der Bedürfnisse im Kapitalismus

 

Im Kapitalismus werden permanent neue Bedürfnisse geschaffen. Und zwar sowohl hinsichtlich der Verwertung des Kapitals und der dafür notwendigen politischen Entscheidungen wie hinsichtlich der Reproduktion seiner Grundlagen. Ob diese Bedürfnisse illusionär sind oder nicht, ist erst einmal nicht die Frage, das entscheidet sich ja sowieso in der Praxis ihrer Bedienung und der Möglichkeit ihrer Bedienung.
Marx hat im ersten Kapitel des ersten Abschnitts des Kapitals darauf hingewiesen, daß die Bedürfnisse die Zwecke menschlichen Handelns erschließen.
An dieser Stelle soll sich nun nicht mit den Bedürfnissen des Kapitals — sowohl des produktiven Kapitals, des Handelskapitals wie des Geldkapitals — befaßt werden, mit seinem unermeßlichen Bedürfnis nach immer neuem Kredit und (Re-)Finanzierung seines Geschäftsgangs. Dies ist bei Marx ausführlich zu studieren. Ebenso wenig soll an dieser Stelle auf das Bedürfnis der politischen Gewalt, des Staates an einer für ihn nützlichen Wirtschaft(sordnung) eingegangen werden.
Wenden wir uns den Bedürfnissen der »einfachen Leute« zu, also derjenigen, die ihre Arbeitskraft zu Markte tragen müssen, um ihre (Lebens-)Bedürfnisse befriedigen zu können. Diese scheinen ja gerade unter kapitalistischen Umständen vielfältiger zu sein denn je.
Eine weit verbreitete Meinung ist die, daß es Bedürfnisse gibt, die in Ordnung gehen und welche, die nicht in Ordnung gehen. Diese moralische Sortierung der Bedürfnisse leugnet ihre — systemimmanente — Notwendigkeit. Inwiefern? Die Abschaffung des Kapitalismus würde zweifellos vom penetrant permanenten Druck befreien, Entscheidungen bezüglich der Erfüllung seiner Bedürfnisse zu fällen. Bedürfnisse, die zum guten Teil unmittelbar dem System geschuldet sind und zum anderen unter es subsumiert sind, insofern sie einem Umgang mit und einem Zurechtkommen in ihm geschuldet sind und sich ganz praktisch in dem Verfügen über allzu wenig Zeit und Geld geltend machen.
An diesem Punkt sind Bedürfnisse in zweierlei Hinsicht festzuhalten: In die unmittelbar der Reproduktion geschuldeten und in die einer — dem Individuum als solche oftmals kaum bewußte — Entschädigungserwartung, welche, solange das System andauert bzw. solange man ihm nicht auskommt, gleichzeitig zu Tage treten, die aber auseinanderfallen, sobald das nicht mehr der Fall ist. Gebunden sind die Bedürfnisse allenthalben an ein Bewußtsein eines der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verhafteten Individuums, der Art, daß es sich immer um sich dreht (und drehen muß) und daher — dieser Schluß ist kein notwendiger! — der Meinung ist, die Welt drehe sich um das eigene Ich. Dabei pfeift die Welt auf das Individuum: Was man zumal daran sieht, daß jeder Euro »Anpassung« der Renten oder des Arbeitslosengeldes an das Existenzminimum als »Erhöhung« verstanden wird und so schwerste Bedenken ob seiner nationalen Verantwortung hervorruft. Doch sobald das wahrgenommen wird, wird sich das Individuum nicht mehr in dieser Weise wichtig empfinden. Solche Wahrnehmung ist dem Individuum in aller Regel fremd, das einmal etablierte Bewußtsein des Individuums empfindet eigene Unwichtigkeit — die sich oft genug nicht verleugnen läßt — als Defizit und kämpft mit allen Mitteln dagegen an. Es kämpft also in aller Regel eben nicht gegen die Ursache seiner Lage, der gegenüber weiterhin Ignoranz herrscht, und, insofern nicht Ignoranz herrscht, ihr gar die Bescheinigung ausgestellt wird, die Sache von Geschäft & politischer Gewalt ginge schon in Ordnung. Das Individuum kümmert sich also vornehmlich um seinen Status und die Symbole, die es dafür braucht, als gesellschaftlich anerkannt zu gelten. Deshalb ist Angeberei das allerselbstverständlichste: In seiner Rede stellt das Individuum permanent sich heraus — im ausgesprochenen und unausgesprochenen Vergleich mit anderen und der Welt.
Dafür gibt es wirklich keine Notwendigkeit, aber das Individuum macht es trotzdem, es hat in all seiner Freiheit einfach ein Bedürfnis danach, ein Bedürfnis nach Anerkennung [— ein Gipfel scheint mit facebook im Moment einmal mehr erreicht]. Dies unterstellt, daß das Individuum in der kapitalistischen Gesellschaft dieser nichts wert ist. Diese schafft ihre Opfer, ja geht, wie ja sogar der römisch-katholische Papst bemerkt
hat, kaltlächelnd über jede Menge Leichen. Die freilich sind das notwendige Produkt kapitalistischer Verhältnisse. Daß wegen dem blödsinnigen Bezug der Individuen auf das kapitalistische System, durch ihren Konkurrenzkampf um Anerkennung, noch mehr unschöne Zurichtungen, ja Leichen anfallen — nämlich die aus den zwischenmenschlichen Beziehungen — als ohnehin, soll damit natürlich keineswegs entschuldigt werden. Die sind quasi eine »Extraakkumulation« des Kapitalismus auf Seiten seiner Opfer.
So wie die kapitalistische Gesellschaft stets Bedürfnisse über die unmittelbarsten Lebensbedürfnisse hinaus hervorbringt, so grundverkehrt wäre es deshalb jedenfalls, den Kapitalismus abzuschaffen, das in seiner Bürgerlichkeit befangene Bewußtsein aber unangetastet zu lassen — so wie sich das Altlinke vorstellen, welche dem existenten falschen Bewußtsein des Proletariats ein (moralisches) Gütesiegel ausstellen —. Denn die Entschädigungshaltung jenes (untertänigen) Bewußtseins wirkt ebenso nach, wie überhaupt die Einstellung, daß sich die Welt um das eigene Ich drehe beziehungsweise zu drehen habe.
Die unmittelbaren Bedürfnisse, die für die Reproduktion unentbehrlichen Bedürfnisse, werden unter kapitalistischen Verhältnissen folgendermaßen definiert: Für Arbeiter, die keine Arbeit finden werden sie stofflich festgehalten und danach — wie in der BRD — die Arbeitslosengelder bemessen; je länger einer arbeitslos, desto wertloser wird er, mit desto weniger wird er gezwungen, auskommen.
Für niedrige Beschäftigungen gibt es Mindestlöhne, welche die Tarifpartner vereinbaren. Diese Löhne gibt oftmals der Staat als Untergrenze vor und daran haben sich die Tarifparteien zu orientieren. So keine solchen Festsetzungen gibt, gilt das Gebot des Staates, das »unsittliche« Löhne unterbindet. — Nur im Falle solch unsittlicher Löhne ist in der kapitalistischen Gesellschaft von »Ausbeutung« die Rede. Ausbeutung also als moralischer Begriff und nicht als sachlicher, einer Bezahlung der Arbeitkraft unter ihrem Wert, wie bei Marx. — Diese Schicht von Arbeitern hat also für ihre Reproduktion mehr zur Verfügung als unmittelbar nötig zu sein scheint. Schließlich wird hier nicht bloß ein Malocher entlohnt, sondern ein (steuerzahlender) Staatsbürger belohnt.
Natürlich obliegen Ent- und Belohnung nicht den Interpretationen der Lohnabhängigen selber. Ihr Daseinszweck kann ja auch unmöglich mit dem übereinstimmen, für den sie vorgesehen sind. Dennoch interpretieren sie dauernd an ihrem Lohn herum und kommen damit nie weiter, als sich mit ihrem »Schicksal« abzufinden*. Daß dafür einige interpretatorische Kunststücke vonnöten sind, liegt auf der Hand. Alles, was mit Angeberei zu tun hat, beruht darauf und knüpft an dem bereits erwähnten Bedürfnis nach Anerkennung an.
Die Befriedigung der Bedürfnisse ist nie sichergestellt, geschweige denn je gesättigt. Wie sollte sie auch! Schließlich schafft der Kapitalismus zu den bestehenden immerzu neue Bedürfnisse, knüpft ihre Befriedigung an einen zu entrichtenden Preis und schließt so ihre Befriedigung mangels Zahlungsfähigkeit weitgehend aus. Und dennoch gibt es eine Sehnsucht eben danach, also ein Bedürfnis hinwiederum, welches diese ewige Jagd nach einem andauernden Zustand der Befriedigung beendet. Dieses Bedürfnis freilich wendet sich nur selten und ausnahmsweise der Realität so zu, wie es diese erfordern würde, um dem Problem endlich einmal Herr zu werden.
Viel eher betätigt sich dieses Bedürfnis übersetzt in das Bedürfnis eines Staatsbürgers. Der Staat selber wäre ihm die Erfüllung dieses Bedürfnisses schuldig. Zum Beispiel in dem er Arbeitsplätze schafft bzw. die Bedingungen für das Kapital so verbessert, daß es Arbeitsplätze schaffen kann — ganz so, als ob das sein Existenzzweck wäre. Dafür, daß er, der Vater Staat, die Arbeit an den Arbeitsplätzen dann für die
Lohnarbeiter per Gesetz erträglich und dauerhaft macht und so das Kapital dazu verpflichtet. Daß, wenn der verehrte Staat schon den »Arbeitgebern« hinsichtlich einer flexiblen Aus- und Abschöpfung der Arbeitskräfte Freiheiten einräumt, er auch ihnen, den Lohnarbeitern, die Möglichkeiten eröffnet, ihre Reproduktionsnöte und die ihrer Familie von der Kindertagesstätte bis zu den Ladenöffnungszeiten angemessen bewältigen können.
Der Abschuß allerdings ist es, wenn jemand, der zum Prekariat (der moderne Ausdruck für Subproletariat) gehört, also jemand, der hinten und vorne seine Bedürfnisse nicht befriedigen kann, weil er der Mittel dazu entbehrt, wenn so jemand anderen Bescheidenheit und Verzicht predigt. Wenn so jemand seine Ansprüche auf einen letzten Aufschrei an den Staat reduziert, er, der Staat möge ihn in seiner Notlage wenigstens in Ruhe lassen, in Ruhe leben lassen, als ob das ein Leben wäre!
Zu solchen Typen gehören die Vertreter eines bedingungslosen Grundeinkommens (nicht jedoch ein Götz Werner, der als Unternehmer dies aus ganz anderen Gründen propagiert — er hängt ja dem Bedürfnis nach, Lohnkosten einsparen). Sie geben mit dem Ruf nach ihm kund, daß sie, so mies ihre Existenz auch ist, sie unbedingt mit dem kapitalistischen System in Frieden auskommen wollen. Und dabei, so widerlich opportunistisch ist ihr Antrag, wollen sie sich mit dem Staat nicht im geringsten anlegen: Denn daß sie Kapitalismuskritiker werden wollen, dazu wollen sie sich ja gerade nicht bequemen. Ganz im Gegenteil, sie wollen ja gerade denjenigen, welche sich zu einer Gegnerschaft gegen ein System unwirtlicher Verhältnisse entschlossen haben, beweisen, daß es völlig überflüssig und deplatziert ist, Gegner des Kapitalismus zu werden: Beweis: Man könne ja mit ihm auskommen, wenn man seine Bedürfnisse auf das unmittelbar Notwendige bescheide & beschränke. Soviel gesunden Opportunismus, so ihre Berechnung müsse der Staat einfach honorieren!
Die Qualität einer Ware zeigt sich in ihrem Gebrauchswert (vgl. Marx, Das Kapital, erster Abschnitt, erstes Kapitel). Bezogen auf die Ware Arbeitskraft heißt das, ihr Gebrauchswert besteht in ihrer Verwertbarkeit.
Diese Vernutzbarkeit lebendiger Materie (sie ist im Gegensatz zu allen anderen Waren nicht im Besitz eines Kapitaleigners, also frei und aller Selbstbestimmung zum Trotz fast uneingeschränkt frei verfügbar) diese Ausbeutbarkeit wird an ihr durch Schule und Erziehung — also das, was die kapitalistische Gesellschaft unter »Bildung« versteht — hergestellt. Und nicht nur das: Das Individuum muß sich um die Herstellung seiner Verwertbarkeit selber kümmern. Was anfangs in der Schule noch einen äußeren (staatlich eingerichteten) Zwangsrahmen (Schulpflicht) hat, das obliegt später im Berufsleben (einschließlich den Zeiten von Arbeitslosigkeit) dem Individuum unter dem stummen Zwang der kapitalistischen Verhältnisse weitgehend selber. Eine Anstalt für (Lohn-)Arbeit sorgt da dann schon für den gehörigen (Nach-)Druck.Diese Vernutzbarkeit trägt das Individuum zu Markte und muß sie zwecks eigener Reproduktion, die an die Verfügung über Geld gebunden ist, zu Markte tragen. Ob die Arbeitskraft dann wirklich einer Verwertung anheimfällt, ob sie tatsächlich gebraucht wird, das ist damit noch nicht gesagt. Und es ist noch nicht einmal gesagt, daß ein höherer Grad an hergestellter Verwertbarkeit gebraucht wird, da nutzt all guter Wille der zu Markte getragenen Verwertbarkeit mittels Ausbildungszeugnissen nichts. Das Nicht-Gebrauchwerden der Arbeitskraft an sich hielten die ja lässig aus, wenn gleichzeitig ihre Reproduktion umfassend und zwanglos gewährleistet wäre. Ist sie aber nicht, weil der Staat den Druck auf die Herstellung von Verwertung aufrecht erhalten will. Er legt es nämlich dem Individuum zur Last, wenn es nicht in einem Arbeitsprozeß ge- und verbraucht wird. Diese Unverfrorenheit sei den hochmoralischen Befürwortern eines Grundeinkommens ins Gehirn geschrieben, damit sie wissen, an wen sie ihre Bitte richten. Kann man denn vom kapitalistischen Staat solch uneigennützige Hilfe erwarten?

Und wahrscheinlich, weil in der kapitalistischen Gesellschaft kein Blödsinn zirkuliert, der nicht noch übertroffen werden kann und muß und soll, gibt es Leute, die das Verhältnis — das, wer was verwertet — auf den Kopf stellen: Sie behaupten allen Ernstes, nicht sie werden vernutzt als Lohnabhängige, die sie sind; nein, sie selber wären die Schweine, welche die — ansonsten allenthalben genießbare kapitalistische — Gesellschaft verheizen! Ihnen ist es wichtig, daß die Gesellschaft an ihrem eigenen Verhalten gesundet: Also essen sie kein Fleisch. Und gehen damit auf Mission!
Solche Idioten braucht der Kapitalismus nicht wirklich, sie sind, wenn es sie denn schon gibt, jedoch nicht schädlich. Mit deren Quatsch versuchen übrigens die Protagonisten des Kapitalismus Opposition überhaupt zu diskreditieren, indem sie ihn adaptieren (»Veggie-Day« und dergleichen).
Kurzum, während die Bedürfnisse des Staates und seiner Wirtschaft auf ihre Kosten kommen, bleiben die Bedürfnisse derer, die ihre Arbeitskraft zwecks Gelderwerb verausgaben müssen, eine Dispositionsmasse der anderen Seite.

05.05.2024
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* zum »subjektiven Faktor« und zur proletarischen Moral siehe ausführlicher: P. Decker/K. Hecker: Das Proletariat, 2002, S. 253ff

 

bluete

die sozialistische-konzeption-des-menschen

koka

Isaac Deutscher (1907-1967) wurde hierzulande insbesondere durch seine ausgezeichneten, lesenswerten Biografien Trotzkis und Stalins bekannt. Er hielt im Jahre 1966 bei einem TeachIn in den USA nachfolgenden Vortrag. Darin greift er bürgerliche Urteile über den Marxismus auf: Zum einen die Vorstellung, daß, insofern man einen Menschen in den Sozialismus verpflanzt, er aufgrund seiner Menschennatur dem nicht entsprechen könne, der Sozialismus also per se menschenwidrig sei. (Wie sollte das auch möglich sein bei einem Menschen mit seinen Vorurteilen und seinem Opportunismus, die ihn für den kapitalistischen Staat so wertvoll machen?) Zum anderen die Gleichsetzung der Sowjetunion und Chinas mit der Marxschen Kritik. Nachdem sowohl Rußland wie China mittlerweile zum Kapitalismus zurückgekehrt sind, gilt auch diese Kritik als endgültig erledigt… (24.04.24)
 

Isaac Deutscher
Die sozialistische Konzeption des Menschen

Marxisten widerstrebt es im allgemeinen, über den sozialistischen Menschen zu sprechen. Jeder Versuch, den Menschen der klassenlosen Gesellschaft der Zukunft zu porträtieren, hat notgedrungen einen utopischen Anstrich. Solche Beschreibungen waren die Domäne der großen Visionäre des Sozialismus, der Saint-Simon und Fournier, die wie die französischen Rationalisten des 18. Jahrhunderts glaubten, daß sie (und damit die Vernunft) endlich den idealen Menschen entdeckt hätten, und daß dieser Entdeckung nun unmittelbar die Verwirklichung folgen müsse. Nichts lag Marx und Engels und den bedeutenden Marxisten späterer Generationen ferner als dieser Gedanke. Sie verkündeten der Menschheit nicht: »Hier ist das Ideal, fallt vor ihm auf die Knie«, sie zeichneten kein Prospekt der zukünftigen Gesellschaft, sondern widmeten all ihre Kraft der gründlichen, realistischen Analyse der bestehenden, kapitalistischen Gesellschaft; den Klassenkampf ihrer Zeit vor Augen, weihten sie sich der Sache des Proletariats.
Bei aller Hingabe an die Erfordernisse ihrer Zeit kehrten sie aber der Zukunft nicht den Rücken. Sie versuchten, wenigstens die Umrisse der Zukunft zu erraten, aber sie formulierten ihre Vermutungen mit bemerkenswerter Zurückhaltung und auch das nur sehr selten. In ihren umfangreichen Schriften haben uns Marx und Engels nur wenige, verstreute Hinweise zu unserem Thema hinterlassen, bedeutsam aufeinander bezogene Andeutungen, die neue Horizonte eröffnen, aber eben nur Andeutungen. Zweifellos hatte Marx seine Vorstellung vom sozialistischen Menschen, aber das war die Arbeitshypothese des Analytikers, nicht die Erleuchtung eines Visionärs. Und obwohl er vom historischen Realismus seiner Antizipationen überzeugt war, stand er ihnen doch mit einer gewissen Skepsis gegenüber.

Marx suchte, nach seinen eigenen Worten, nach den Keinen des Sozialismus im Leibe des Kapitalismus; darum konnte er auch nur den Keim des sozialistischen Menschen sehen. Auf die Gefahr hin, Erwartungen zu enttäuschen, muß ich sagen, daß wir bis heute nicht mehr tun können. Nach all den Revolutionen unseres Zeitalters und trotz allem, was wir seit Marx über die Gesellschaft gelernt haben, sind wir in dieser Hinsicht nicht über ihn hinausgekommen. Was wir zum Problem des sozialistischen Menschen sagen können, bleibt notwendigerweise sehr allgemein, fragmentarisch und in bestimmter Weise negativ. Wir können leichter bestimmen, wie der sozialistische Mensch nicht sein wird, als wie er sein wird. Im gleichen Maße aber, wie eine Negation zugleich eine Position impliziert, weist negative Charakteristik des sozialistischen Menschen auch auf einige seiner positiven Züge hin.
Der Marxismus sieht den Hauptwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die wesentliche Ursache ihrer Anarchie und Irrationalität in dem Konflikt zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung des modernen Produktionsprozesses einerseits und dem nicht gesellschaftlichen Charakter der Kontrolle, die das Privateigentum über diesen Prozeß ausübt. Die moderne Technik und Industrie tendieren zu einer Vereinigung der Gesellschaft, das Privateigentum an den Produktionsmitteln reißt sie auseinander. Der vergesellschaftete Produktionsprozeß — ein Stück Kollektivismus inmitten der neokapitalistischen Wirtschaft — muß von den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen befreit werden, die ihn einzwängen und stören. Mehr als ein Jahrhundert hindurch waren bürgerliche Ökonomen blind für diesen Widerspruch, ehe Keynes und seine Schüler ihn in der ihnen eigenen, eklektischen Weise bemerkten und damit der Marxschen Kritik unfreiwilligen Tribut zollten.
Aber alles, was Keynesianismus und Neokapitalismus — die vom Gespenst des Kommunismus mehr denn je heimgesucht werden — tun können, ist der Versuch, auf Basis des Privateigentums (d.h. der monopolkapitalistischen Unternehmen) eine Art von pseudo-gesellschaftlicher Kontrolle über den vergesellschafteten Produktionsprozeß einzuführen. Es geschieht nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal, daß Menschen sich verzweifelt mühen, archaische Institutionen und Lebensweisen in ein Zeitalter hinüberzuretten, das sie nicht brauchen kann. In meiner Heimat Polen habe ich einmal einen Bauern gesehen, der zufällig ein altes Auto bekam, vor das er unbedingt seine Pferde spannen wollte. Keynesianismus und Neokapitalismus spannen die Pferde des Privateigentums vor die atomgetriebenen Fahrzeuge und Raumschiffe unserer Zeit und setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um uns am Ausspannen zu hindern.

Unsere Konzeption des Sozialismus ist keine willkürliche, intellektuelle Konstruktion, sondern eine sorgfältige Extrapolation und Projektion jener Elemente rationaler sozialer Organisation, die bereits der kapitalistischen Gesellschaft inhärent sind, aber ständig von ihr durchkreuzt und negiert werden. In ähnlicher Weise ist unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen eine Projektion des gesellschaftlichen Menschen, der bereits der Möglichkeit nach in uns existiert, aber durch die Lebensbedingungen, unter denen er leben muß, verstümmelt, zerschlagen und widerlegt wird. (Der Keim des sozialistischen Menschen ist selbst im entfremdeten Arbeiter unserer Zeit gegenwärtig in den seltenen Augenblicken, wenn er seiner Rolle in der Gesellschaft bewußt wird, sich zur Klassensolidarität erhebt und für seine Befreiung kämpft.) So wurzelt unsere Zielvorstellung in der Wirklichkeit, wird von ihr bestärkt und bleibt in ihr befangen.
Wir wissen, was der sozialistische Mensch nicht sein wird: das Produkt einer antagonistischen Gesellschaft. Er wird nicht mehr der kollektive Produzent sein, der von seinem eigenen Produkt und seiner sozialen Lebenswelt kontrolliert wird, statt sie zu kontrollieren. Er wird nicht Spielball der blinden Kräfte des Marktes sein, noch Roboter einer staatlich organisierten, neokapitalistischen Kriegswirtschaft. Er wird nicht der entfremdete und geduckte Arbeiter früherer Tage sein, noch die langweilige Imitation des Kleinbürgers, wozu ihn unser sogenannter Wohlfahrtsstaat macht. Er kann nur zu sich selbst kommen als Kollektivarbeiter in einer höchst entwickelten, kollektivistischen Gesellschaft. Nur eine solche Gesellschaft erlaubt, die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf ein erträgliches Minimum zu reduzieren, was die moderne Technik schon möglich macht. Erst in dieser Gesellschaft wird der sozialistische Mensch seine materiellen und geistigen Bedürfnisse in Sicherheit, nicht zufällig, befriedigen können, rational, nicht in bizarren Formen. Nur in dieser Gesellschaft wird er sich bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse und beim Gebrauch seiner freien Zeit mittels durchgebildetem Differenzierungsvermögen und kluger Wahl selbst organisieren können, statt geheimen oder lautstarken Verführern der kommerziellen Reklame zu folgen. Nur in einer sozialistischen Gesellschaft wird der Mensch imstande sein, all seine biologischen und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln, seine Persönlichkeit auszubilden und zu integrieren und sich von dem düsteren Erbe tausendjähriger materieller Knappheit, Ungleichheit und Unterdrückung frei zu machen. Nur in einer solchen Gesellschaft werden die Menschen endlich die Scheidung von fysischer und intellektueller Arbeit überwinden können, die die Ursache der Entfremdung des Menschen vom Menschen, der Aufteilung der Menschheit in Herrscher und Beherrschte, in antagonistische Klassen, war, die die fortgeschrittene Technik gerade jetzt überflüssig macht, während das neokapitalistische System daran arbeitet, sie mit allen Kräften zu verewigen. Erst auf dem Höhepunkt unserer Kultur und Zivilisation kann sich der sozialistische Mensch zu seiner vollen Größe erheben. Dieser Gipfelpunkt ist bereits in Sichtweite, aber unsere Eigentumsverhältnisse, die sozialen Institutionen und unser tief verwurzeltes Beharrungsvermögen hindern uns, uns so rasch wie möglich darauf zuzubewegen.

Unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen ist oft wegen ihres furchtlosen Optimismus kritisiert worden. Man sagt uns, auch wir seien Utopisten und unsere geschichts-filosofischen und psychologischen Annahmen seien unhaltbar. Man sagt, das »Paradies auf Erden«, von dem die Propagandisten des Sozialismus gesprochen haben, sei ebenso unerreichbar wie das himmlische Paradies, das die Theologen versprachen. Wir müssen dieser Kritik aufmerksam zuhören, manchmal sind ein paar Körnchen Wahrheit darin enthalten. Wir müssen zugeben, daß wir oft eine allzu optimistische Vorstellung hatten, wenn nicht vom Sozialismus, dann doch von den Wegen dahin. Aber wir müssen uns auch klarmachen, daß viele dieser kritischen Bemerkungen lediglich Produkte jener Untergangsstimmung sind, die die bürgerliche Gesellschaft und ihre Ideologen erfüllt, oder in irrational verarbeiteter Enttäuschung von Menschen aus unserem eigenen Lager ihre Wurzeln haben. Die Existentialisten sagen uns, daß wir den Grundbefindlichkeiten menschlichen Daseins entfliehen möchten und die unausweichliche Absurdität unseres Schicksals leugnen. Es ist außerordentlich schwierig, mit Gegnern, die unterm Aspekt der Ewigkeit und von rein teleologischen Prämissen her argumentieren. Der pessimistische Existentialist stellt die alte Frage: Was ist der Sinn oder das Ziel menschlicher Existenz und menschlichen Tuns, wenn man sie mit der Unendlichkeit von Zeit und Raum vergleicht? Darauf haben natürlich weder wir noch der Existentialist eine Antwort. Aber die Frage selbst ist sinnlos, da sie das Bedürfnis nach einem absoluten, metafysischen Zweck menschlicher Existenz postuliert, der für die Ewigkeit gilt. Einen solchen Zweck kennen wir nicht und wir haben auch kein Bedürfnis danach. Wir sehen in unserer Existenz weder metafysischen Sinn noch Absurdität — das sind übrigens nur zwei Seiten derselben Medaille; nur wo ein Sinn postuliert wird, kann man von Absurdität reden.
Das menschliche Leben, mit dem wir uns befassen, ist nicht die Einsamkeit des Menschen in der Unendlichkeit von Raum und Zeit. In dieser Unendlichkeit sind selbst die Begriffe Einsamkeit und Absurdität bedeutungslos. Wir beschäftigen uns mit der Lage des Menschen in einer Gesellschaft, die er selbst geschaffen hat und verändern kann. Das Argumentieren unterm Aspekt der Ewigkeit ist filosofisch steril und sozial reaktionär. Man kann damit moralische Indifferenz und politischen Quietismus rechtfertigen. Die filosofischen Argumente werden zu Argumenten für die resignierte Anerkennung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie sind. Glücklicherweise können Existentialisten — wie das bemerkenswerte Beispiel Sartres bezeugt — filosofisch inkonsequent sein und trotz ihrer Überzeugung von der Absurdität menschlicher Existenz die Idee vom sozialistischen Menschen akzeptieren.

Spezifischer ist die Kritik marxistischer und sozialistischer Hoffnungen, wie sie Sigmund Freud in seiner Schrift »Das Unbehagen in der Kultur«(1930) vorgenommen hat. Unserer Vorstellung davon, was der Mensch in einer Gesellschaft ohne Klassen und Staat sein kann, entgegnet Freud mit dem alten Spruch »homo homini lupus«, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Menschliche Wesen, sagt er, werden immer aggressiv und feindselig einander gegenüberstehen; ihre aggressiven Instinkte sind biologisch festgelegt und werden durch Änderungen der Gesellschaftsstruktur nicht wesentlich beeinflußt. »Die Kommunisten«, sagt Freud, »glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen einen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen.«
Ehe ich fortfahre, möchte ich zunächst prüfen, ob Freuds zusammenfassende Darstellung der marxistischen Ansichten korrekt ist. Glauben wir wirklich, daß der Mensch von Natur aus »eindeutig gut« und »seinem Nächsten wohlgesinnt« ist? Freud, der über die marxistische Theorie ziemlich schlecht informiert war, fand zweifellos derartige Behauptungen in der populären, kommunistischen oder sozialdemokratischen Propaganda. Die ernstzunehmende marxistische Theorie stellt hingegen keinerlei derartige Sätze über die Menschennatur auf; am ehesten kann man die Quelle solcher Anschauungen in den feuerbachianischen Jugendschriften von Marx auffinden. Ich erinnere mich, daß mich dies Problem als junger Mensch sehr beschäftigt hat, als ich mich mit marxistischer Theorie anfreundete und über die der Theorie zugrunde liegende Konzeption der menschlichen Natur ins Klare kommen wollte. Nachdem ich mich durch die Schriften von Marx, Engels, Kautsky, Plechanow, Mehring, Rosa Luxemburg, Lenin, Trotzki und Bucharin hindurchgelesen hatte, kam ich zu dem Schluß, daß deren Annahmen über die menschliche Natur wesentlich »neutral« waren. Sie hielten den Menschen weder für »eindeutig gut«, noch für »eindeutig schlecht« und weigerten sich, die metafysischen Vorstellungen einer unwandelbaren, von sozialen Bedingungen unbeeinflußten Menschennatur zu akzeptieren. Ich bin immer noch der Meinung, daß dieser Schluß, zu dem ich damals vor vierzig Jahren kam, richtig ist.

Der Mensch ist Produkt der Natur, speziell jener Natur, die sich als menschliche Gesellschaft der außermenschlichen Natur entgegenstellt. Wie immer die biologische Basis unseres Lebens beschaffen sein mag, — die sozialen Verhältnisse spielen die entscheidende Rolle bei der Formung unseres Charakters, und selbst die biologischen Faktoren werden durch unsere soziale Persönlichkeit gebrochen und teilweise umgeformt. Die menschliche Natur und ihre Triebe sind bisher durch die sozialen Bedingungen in starkem Maße unterdrückt und entstellt worden, und nur wenn diese Bedingungen ihre unterdrückende und verzerrende Qualität verlieren, werden wir eine deutlichere und wissenschaftlichere Vorstellung von den biologischen und sozialen Elementen der Menschennatur haben als bisher.
Die wesentliche Kritik an Freuds Theorie, die ein Marxist üben muß […] bezieht sich darauf, daß Freud und seine Schüler nur zu oft diese Brechung und Transformation der Triebe des Menschen durch seine sich wandelnde soziale Identität unberücksichtigt lassen, — und dabei war es Freud, der uns auf die Prozesse der Sublimierung aufmerksam gemacht hat. Die Psychoanalyse konnte sich bisher nur mit dem bürgerlichen Menschen der imperialistischen Epoche befassen. Sie präsentierte ihn als den Menschen schlechthin, behandelte seine inneren Konflikte in überhistorischer Manier als Konflikte von Menschen aller Epochen, aller sozialen Ordnungen, — als der menschlichen Existenz inhärente Konflikte. Unter diesem Aspekt kann der sozialistische Mensch nur als eine Variation des bürgerlichen Menschen erscheinen. Freud selbst sagt dazu: »Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht.« Dann macht er folgende, noch weitaus kategorischere Aussage: »Sie (die Aggression) ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in Urzeiten, als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigte sich bereits in der Kinderstube, kaum daß das Eigentum seine anale Urform aufgegeben hat. … Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muß.« Freud warnt uns also, der sozialistische Mensch werde nicht weniger als der bürgerliche aggressiv und feindselig gegen seine Mitmenschen sein, und seine Feindseligkeit werde sich selbst im Kindesalter zeigen.
Freud sieht im Privateigentum ein starkes Aggressionsinstrument, aber er behauptet in dogmatischster Weise, daß es nicht das stärkste sei. Woher weiß er das? Wie mißt er die relative Stärke der verschiedenartigen Aggressionsinstrumente? Wir Marxisten sind darin bescheidener und weniger dogmatisch: Wir behaupten nicht, vergleichende Messungen angestellt zu haben, die es uns gestatten würden, sexuelle Triebe und triebhafte Aggression gegen soziale Bedürfnisse, Interessen und Zwänge abzuwägen. Die biologischen Triebe werden beim sozialistischen Menschen so wie beim heutigen gegeben sein, aber wir wissen nicht, in welcher Brechung sie in seiner Persönlichkeit zum Ausdruck kommen werden. Wir können nur vermuten, daß sie ihn in einer anderen Weise motivieren werden als den bürgerlichen Menschen. (Ich vermute sogar, daß der sozialistische Mensch dem Psychoanalytiker reicheres und verläßlicheres Material für Forschung und Theorie liefern wird, weil ein künftiger Freud in ihm die Arbeit der Triebe direkter beobachten können wird, nicht durch eine dunkle Brille, durch die verzerrenden Prismen der Klassenpsychologie des Analytikers und seines Patienten.) Freud irrt sich auch, wenn er das Eigentum lediglich ein Instrument unserer aggressiven Instinkte nennt. Im Gegenteil: das Eigentum nutzt jene Instinkte häufig als Instrumente und entwickelt seine eigene Vielfalt von aggressiven Trieben. Ferner haben sich in der Geschichte in Armeen organisierte Menschen gegenseitig abgeschlachtet wegen des Eigentums oder wegen Eigentumsforderungen, aber sie haben bisher — außer in der Mythologie — keine Kriege wegen sexueller Privilegien geführt.
Wenn Freud behauptet, daß die Abschaffung des Eigentums »die Unterschiede von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht«, ebensowenig ändern wird wie »die Natur der menschlichen Aggression«, so bleibt er den Beweis schuldig. Und wenn er schreibt, daß »Aggression … fast uneingeschränkt in Urzeiten herrschte, als das Eigentum noch sehr armselig war«, so entgeht ihm, daß es gerade die materielle Knappheit war, die die Einheit der primitiven Gesellschaft zerstörte, weil sie grausame Kämpfe um knappe Ressourcen auslöste, die die Gesellschaft in antagonistische Klassen spaltete.
Gerade deshalb halten wir daran fest, daß der sozialistische Mensch nur vorstellbar ist auf der Basis eines beispiellosen Überflusses von materiellen und kulturellen Gütern und Dienstleistungen. Das ist das ABC des Marxismus. Einer meiner Freunde, ein alter, weiser Psychoanalytiker, sagt oft seufzend: »Wenn doch Freud Engels ›Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates‹ gelesen hätte; – er hätte manche Umwege und Irrtümer vermeiden können!« Er hätte dann jedenfalls denen keine Munition geliefert, für die das ›homo homini lupus‹ der Schlachtruf gegen Fortschritt und Sozialismus ist, und die mit dem Buhmann der ewigen menschlichen Wolfsnatur im Interesse des realen, blutrünstigen imperialistischen Wolfes operieren. […]
Er scheint freilich andere Möglichkeiten geahnt zu haben: »Hebt man auch dieses« (das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen) »durch die völlige Befreiung des Sexuallebens (auf), beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so läßt sich nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann…« Diese Perspektive kann er sich jedoch nicht vorstellen, da ihm die monogame Familie als Keimzelle der Kultur gilt; er kann sich nicht lösen von seinem Patienten, dem bürgerlich monogamen Menschen, der vor ihm auf der Couch liegt. Obwohl er mit Unbehagen zugesteht, daß wir nicht vorhersehen können, welche neuen Wege der Kulturentwicklung sich nach Beseitigung der gegenwärtigen Familieninstitutionen ergeben werden, ist er doch sicher, daß die unaufhebbare Destruktivität der Menschennatur auch den sozialistischen Menschen heimsuchen wird, jenseits von Klasse, Gesellschaft, Staat und Familie.

Wir Marxisten bescheiden uns hier wiederum mit einem Stück Unwissenheit. Wir haben natürlich in erster Linie mit jener Grausamkeit und Unterdrückung zu tun, die direkt durch Armut, Knappheit am Gütern, die Klassengesellschaft und die Herrschaft von Menschen über Menschen verursacht wird. Wann immer Freud sich auf das Gebiet der Soziologie und Geschichte begibt, sitzt er dem Vorwurf auf, willentlich oder unwillentlich die bestehende Gesellschaft zu rechtfertigen. […]
Wir sagen nicht, daß der Sozialismus alle Probleme der menschlichen Gattung lösen wird. Wir kämpfen in erster Linie gegen Übel, die der Mensch angerichtet hat, und die er bewältigen kann. […] Wenn wir gegen soziale Ungleichheit und Unterdrückung kämpfen, kämpfen wir zugleich für eine Milderung der Schläge, die die Natur uns versetzt. Ich meine, daß der Marxismus die Probleme unserer Gesellschaft am richtigen Ende anpackt. […] Unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen inspirierte hingegen [gegen die Freudianer] einen riesigen Teil der Menschheit, und obwohl wir mit wechselndem Erfolg gekämpft haben und schreckliche Niederlagen erlitten, haben wir doch Berge versetzt, während alle Psychoanalyse dieser Erde die überkochende Aggressivität unserer Zeit nicht um ein Jota vermindern kann.

Auch für den sozialistischen Manschen, werden natürlich Sexualität und Tod Probleme darstellen, aber wir sind sicher, daß er ihnen besser ausgerüstet entgegentreten wird. Und sollte sein Wesen aggressiv bleiben, so wird ihm seine Gesellschaft ungleichlich vielfältigere und bessere Möglichkeiten zur Triebsublimierung bieten, als sie dem Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft zur Verfügung standen. Auch wenn der sozialistische Mensch nicht ganz »frei sein wird von Schuld und Schmerz«, wie Shelley träumte, mag er doch »zepterlos, frei und unbeschränkt sein, ein gleicher Mensch, nicht in Klasse, Stamm, Nation eingezwängt, frei von Götzendienst und Gottesfurcht.« Das durchschnittliche Mitglied der sozialistischen Gesellschaft wird sich – wie Trotzki antizipierte – zur Größe eines Aristoteles oder Marx erheben, die – wie immer ihre Triebstruktur beschaffen war – die großartigsten bisher erreichten Entwicklungen unserer Gattung repräsentieren. Und wir vermuten, daß sich »über diesen Höhen neue Gipfel erheben werden«. Wir sehen im sozialistischen Menschen nicht das letzte, vollkommenste Produkt der Entwick-lung oder das Ende der Geschichte, sondern den eigentlichen Anfang der Geschichte. Der sozialistische Mensch mag das »Unbehagen« fühlen, die Unruhe und Qual, die die Kultur dem Tier im Menschen aufbürdet. Es kann sogar im Zentrum seiner inneren Widersprüche und Spannungen stehen, die ihn dazu treiben, ein Niveau zu erreichen, das einstweilen jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.

Die vorgetragenen Anschauungen sind oder sollten für jeden Marxisten selbstverständlich sein und ich muß mich vielleicht entschuldigen, daß ich sie auf einer Konferenz wie der unseren (Socialist Scholars‘ Conference) wiederhole. Beim gegenwärtigen Stand der Arbeiterbewegung und des sozialistischen Denkens müssen jedoch bestimmte elementare Einsichten wiederholt werden, weil sie vergessen oder verfälscht werden um zweifelhafter politischer Vorteile willen. So wurde mir z.B. gesagt, der eigentliche Gegenstand meiner Analyse müsse jener sozialistische Mensch sein, der heute in der UdSSR oder in China lebt. Ich könnte diesen Standpunkt nur dann teilen, wenn ich der Meinung wäre, daß diese Länder den Sozialismus bereits weitgehend oder gänzlich erreicht hätten. Diese Vorstellung kann ich nicht teilen und ich glaube nicht, daß das typische oder auch das fortgeschrittene Mitglied der sowjetischen oder der chinesischen Gesellschaft von heute als sozialistischer Mensch beschrieben werden kann.
Wir alle reden natürlich üblicherweise von der UdSSR, China und den Verbündeten oder nichtverbündeten Staaten gleichen Typs als von »sozialistischen Ländern«, und wir können das tun, solange wir den nach-kapitalistischen Charakter dieser Regime (im Gegensatz zu den kapitalistischen) meinen oder auf die sozialistischen Ursprünge bzw. die Leitideen ihrer Regierung und Politik hinweisen wollen. Hier aber geht es mir um eine theoretisch präzise Beschreibung der Struktur ihrer Gesellschaft und der Verhältnisse zwischen den Menschen, wie sie sich innerhalb dieser Struktur entwickeln. Vor mehr als 30 Jahren verkündete Stalin, die Sowjetunion habe den Aufbau des Sozialismus beendet; trotz Entstalinisierung und trotz des Abbaus vieler stalinistischer Mythen ist das ein zentraler Glaubenssatz der offiziellen sowjetischen Ideologie geblieben. Mehr noch, Stalins Nachfolger behaupten, die Sowjetunion befinde sich jetzt im Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus, sie trete in den höheren Zustand der klassenlosen Gesellschaft ein, der den Zyklus sozialistischer Transformation abschließt, der durch die Oktoberrevolution eingeleitet wurde.
Sprecher der Volksrepublik China haben ähnliche Ansprüche für ihr Land erhoben. Das stalinistische Dogma vom vollendeten Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion hat die populäre Vorstellung vom sozialistischen Menschen in starkem Maße beeinflußt und verändert, sogar das Denken einiger Sozialisten. Eins aber ist klar oder sollte doch klar sein: der typische Mensch der sowjetischen Gesellschaft, ob unter Stalin oder unter seinen Nachfolgern, steht in so schlagendem Gegensatz zur marxistischen Konzeption vom sozialistischen Menschen, daß wir ihn entweder nicht als solchen bezeichnen können oder
aber die marxistische Konzeption über Bord werfen müssen, wie die stalinistische Doktrin es stillschweigend getan hat. Es geht uns hier nicht um den Buchstaben des Evangeliums sondern um eine Frage von größter theoretischer und praktischer Bedeutung. Wenn unser Ziel der sozialistische Mensch ist, dann ist unsere Konzeption dieses sozialistischen Menschen wesentlich für unser theoretisches Denken, für das moralisch-politische Klima der Arbeiterbewegung und für unsere eigene Fähigkeit oder Unfähigkeit, unsere Arbeiterklasse zu inspirieren.

Der sozialistische Mensch wurde von Marx und seinen Schülern – vor Stalin – als frei assoziierter Produzent gesehen, der selbst auf der sogenannten unteren Stufe des Kommunismus in einer rational geplanten Wirtschaft arbeitet, nicht länger mehr der Käufer oder Verkäufer ist, der seine Produkte auf dem Markt handelt, sondern Produzent von Gütern für die Gesamtgesellschaft, der das, was er zu persönlichem Verbrauch benötigt, aus dem gemeinsamen Vorrat der Gesellschaft erhält. Per definitionem lebt der sozialistische Mensch in einer klassenlosen Gesellschaft ohne Staat, frei von sozialer oder politischer Unterdrückung, auch wenn er anfänglich noch eine – allmählich schwindende – Last ererbter sozialer Ungleichheit zu tragen hat. Die Gesellschaft, in der er leben kann, muß so weit entwickelt sein, so wohlhabend, gebildet und zivilisiert sein, daß es kein objektivesBedürfnis, keine Notwendigkeit gibt, die zum Wiederaufleben von Ungleichheit oder Unterdrückung führen.
Das hielten alle Marxisten vor Stalin für selbstverständlich. Dies Ideal inspirierte Generationen von Sozialisten, ohne es hätte der Sozialismus als geschichtsmächtige Kraft des Jahrhunderts nie das Licht der Welt erblickt. Der Marxismus hat den realistischen Charakter dieses Ideals demonstriert; er zeigte, daß die gesamte Entwicklung der modernen Gesellschaft mit ihrer Technologie, Industrie und dem zunehmend vergesellschafteten Produktionsprozeß auf dies Ziel hintendiert. Der sozialistische Mensch aber, den Stalin und seine Nachfolger der Welt präsentierten, ist eine klägliche Parodie auf die marxistische Konzeption. Es ist richtig: der sowjetische Bürger lebt in einer Gesellschaft, wo der Staat und nicht die Kapitalisten die Produktionsmittel besitzt, und das spiegelt sich bereits in einigen fortschrittlichen Zügen seiner Mentalität. Selbst die zurückgebliebensten sowjetischen Arbeiter halten das öffentliche Eigentum an den Produktionsmitteln für selbstverständlich. Der private Besitz einer Fabrik oder eines Bergwerks erscheint ihm als empörendes Relikt aus barbarischer Vergangenheit. Er schaudert beim bloßen Gedanken daran. Er blickt darauf zurück wie der durchschnittliche Mensch der bürgerlichen Gesellschaft auf die Sklaverei – ein gesellschaftliches Verhältnis, das den Menschen erniedrigt. Aber diese fortschrittlichen Züge in der Einstellung des sowjetischen Menschen sind nicht die vor-
herrschenden Züge seines Sozialcharakters.
Die sowjetische Gesellschaft litt und leidet noch unter materieller Knappheit, in erster Linie an extremer Konsumgüterknappheit. Das führte im Laufe von Jahrzehnten zu einem unvermeidlichen Wiederaufleben und zur Verstärkung der sozialen Ungleichheit, zu einer tiefen Kluft zwischen einer privilegierten Minderheit und einer beraubten Mehrheit, zum spontanen Wiedererstehen der ökonomischen Kräfte des Markts und zur Erneuerung und zu furchterregendem Anwachsen der Unterdrückungsfunktionen des Staates. Der sozialistische Mensch, den Stalin der Welt präsentierte, war der hungrige, schlechtgekleidete, schlecht beschuhte oder barfüßige Arbeiter, der Bauer, der auf dem schwarzen oder grauen Markt ein Hemd, ein Möbelstück, ein paar Unzen Mehl oder auch nur ein Stück Brot kaufte oder verkaufte; der täglich zehn oder zwölf Stunden unter einer kasernenähnlichen Fabrikdisziplin arbeitete und manchmal für irgendein wirkliches oder vorgebliches Vergehen mit jahrelanger Zwangsarbeit im Konzentrationslager zahlen mußte. Er wagte nicht, einen Fabrikdirektor zu kritisieren, schon gar nicht einen Parteiboß. Er hatte nicht das Recht, irgendeine Meinung zu einem größeren Problem zu äußern, das sein oder seines Landes Schicksal betraf. Er hatte zu wählen, wie man es ihm befahl, dem Führer mit frenetischem Beifall zu applaudieren, seine Würde und Persönlichkeit durch den sogenannten Personenkult verhöhnen zu lassen. Das sind die Tatsachen, die gegenwärtig offiziell von den sowjetischen Führern beschrieben werden und sich in einer umfangreichen sowjetischen Literatur von größter Authenzität widerspiegeln. Und obwohl sich die Bedingungen in den vergangenen Jahren sehr verändert haben, sind Armut, Ungleichheit, Mangel an politischer und intellektueller Freiheit und der bürokratische Terror noch immer vorhanden.

Ich rufe all das nicht aus polemischen Gründen ins Gedächtnis zurück, schon weil ich die Hauptursache für diese Zustände nicht im bösen Willen der Herrschenden sehe – an dem es freilich nicht gefehlt hat –, sondern in den objektiven Bedingungen, in der überkommenen schrecklichen Armut, die die Sowjetunion (und jetzt China) unter den Bedingungen der Isolation, der Blockaden, Kriege und des Wettrüstens zu überwinden hatte. Es stand überhaupt nicht zur Debatte, daß ein Land wie dieses unter diesen Bedingungen fähig sein könne, den Sozialismus zu erreichen. Es mußte all seine Kräfte der »ursprünglichen Akkumulation« widmen, d.h. der Herstellung der wichtigsten ökonomischen Vorbedingungen unter Staatseigentum für den Aufbau eines wirklichen Sozialismus. Folglich ist die Sowjetunion auch heute noch eine Übergangsgesellschaft, irgendwo zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die Merkmale der einen wie der andern Gesellschaft kombiniert und sogar noch Spuren ihres noch primitiveren vorkapitalistischen Erbes zeigt. Das gleiche gilt leider auch für China, Vietnam, Nordkorea und den größten Teil Osteuropas.
Wir im Westen tragen eine schwere Verantwortung für die schlechte Lage dieser Gesellschaften; unser Versagen, den Sozialismus im Westen voranzutreiben, war die wesentliche Ursache ihres Mißlingens. Aber wenn wir unsere Aufgabe neu überdenken, um eine neue Generation von Sozialisten instand zu setzen, den Kampf aufzunehmen, müssen wir unsere Vorstellungswelt gründlich von den falschen Vorstellungen und Mythen über den Sozialismus befreien, die in den letzten Jahrzehnten aufgekommen sind. Wir müssen den Sozialismus ein für alle Mal nicht von der Sowjetunion oder China und ihren fortschrittlichen sozialen Errungenschaften, sondern von der stalinistischen und nachstalinistischen Parodie auf den sozialistischen Menschen ablösen.
Ich kann hier nicht auf die dogmatischen und Prestige-Motive eingehen, die Stalin und seinesgleichen zu der Behauptung veranlaßten, die Sowjetunion habe den Sozialismus erreicht, und die noch seine Nachfolger zur Aufrechterhaltung dieser Legende drängen. Ich will nur von dem Einfluß sprechen, den dieses Dogma, diese Prahlerei auf den westlichen Sozialismus hatte. Dieser Einfluß war verheerend. Er hat unsere Arbeiterbewegung demoralisiert und das sozialistische Denken verwirrt. Unsere arbeitenden Klassen haben mit der ihnen eigenen Klugheit die Entwicklung in der Sowjetunion beobachtet und ihre
eigenen Schlußfolgerungen daraus gezogen. »Wenn das das Ideal des sozialistischen Menschen ist«, sagten sie am Ende, »dann wollen wir nichts damit zu tun haben«. Viele unserer sozialistischen Intellektuellen reagierten ebenso oder sie wurden von der stalinistischen Mythologie und Scholastik dermaßen eingefangen, daß ihnen die Kraft ihrer sozialistischen Überzeugung verlorenging und sie sich selbst geistig soweit entwaffneten, daß sie unfähig wurden, gegen die Enttäuschung und Apathie der arbeitenden Klassen zu kämpfen.
Von den Jesuiten hat man gesagt, sie hätten, weil es ihnen nicht gelang, die Erde zum Himmel zu erheben, den Himmel auf die Erde heruntergezogen. In ähnlicher Weise haben Stalin und der Stalinismus, unfähig, das mit Armut geschlagene, elende Rußland zum Sozialismus zu führen, den Sozialismus auf das Niveau des russischen Elends heruntergebracht. Man könnte sagen, daß sie es tun mußten. Selbst wenn das stimmte, müssen wir etwas anderes tun: wir müssen den Sozialismus auf sein eigenes Niveau zurückbringen.
Wir müssen unseren arbeitenden Klassen und den Intellektuellen erklären, warum die Sowjetunion und China den sozialistischen Menschen nicht schaffen konnten, trotz ihrer bemerkenswerten Errungenschaften, für die wir ihnen Anerkennung und Respekt schulden. Wir müssen der Idee des sozialistischen Menschen ihre Aura wiedergeben. Wir müssen sie zuerst für unser Bewußtsein wiederherstellen und dann sozialistisches Bewußtsein und sozialistische Theorie mit gestärkter Überzeugung und mit neuen politischen Waffen in die Arbeiterklasse hineintragen.

[Nach dem Vortrag von Deutscher wurde ein Brief von Herbert Marcuse verlesen. Dann sprachen die Referenten Robert S. Cohen, Shane Nage, Donald McKelvey und Robert P. Wolff. Es folgten Fragen und Kommentare aus dem Publikum. Isaak Deutscher hatte das Schlußwort.]

Ich bin noch dabei, die schmerzliche Überraschung, die mir der erste Teil der Diskussion bereitet hat, zu überwinden. Man lernt selbst in meinem Alter noch dazu, man lernt nie aus. Ich bin den beiden letzten Sprechern dankbar, die mein Gefühl für Realität wieder einigermaßen hergestellt haben. Ob ich mit ihnen übereinstimme oder nicht, wir können darüber diskutieren. Dennoch glaube ich, daß ich vor allem auf die Redner des ersten Teils der Diskussion eingehen muß, da ich hier ein beunruhigendes Symptom jenes schöpferischen intellektuellen Ferments sehe, das die Köpfe der amerikanischen Intelligenz, der jungen Generation der amerikanischen Wissenschaftler erfüllt. Es gibt davon seltsame Nebenprodukte, die mir wirklich außerordentlich gefährlich erscheinen. Ich bin fast verdutzt über die Thesen Professor Marcuses. Da die ersten Redner eine Art von unterstützendem Chorus für ihren abwesenden Lehrer bildeten, muß ich mich leider auf Professor Marcuses Erklärung konzentrieren. Er bringt drei oder vier bedeutende Gesichtspunkte, aber in so vager und schwer zu fassender Art, daß die Diskussion ziemlich erschwert wird. Zunächst einmal stellt er fest, daß wir Marx und dem Marxismus weit
voraus sind, daß unsere fortgeschrittene westliche Gesellschaft den Marxismus überflüs-sig gemacht hat, und daß wir folglich über den Marxismus irgendwie hinausgehen müssen. Ich bin immer geneigt, ja zu sagen, wenn mir jemand sagt, der Marxismus sei sicher nicht das letzte Wort in der Entwicklung des menschlichen Denkens und wir müßten über den Marxismus hinausgehen. Das ist ein sehr marxistisches Argument gegen den Marxismus, und ich bin geneigt, ihm zuzustimmen. Aber man muß auch einen Augenblick darüber nachdenken, in welcher Beziehung der Marxismus wirklich so überholt ist und wohin wir über ihn hinausgehen sollen.
Zuerst muß ich die Frage stellen, ob der Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft, wie ihn der Marxismus analysiert und diagnostiziert hat — der Widerspruch zwischen dem vergesellschafteten Produktionsprozeß und der unsozialen Kontrolle der Produktion durch private Eigentümer — überwunden worden ist. Wird er nicht immer tiefer und irrationaler mit jedem Jahrzehnt? Man sagt uns, die fortgeschrittene amerikanische Gesellschaft habe die marxistische Analyse des Kapitalismus veralten lassen. Trifft das wirklich für diese Gesellschaft zu, die ihr Gleichgewicht und ihre Produktion nur durch beinahe permanente Kriegführung aufrechterhält? Ich verstehe einfach die logischen oder auch unlogischen Denkprozesse nicht, vermöge deren man zu solchen Schlüssen kommen kann. Man sagt uns, eine Diagnose, die auf der Basis der Technologie von 1867 gestellt wurde, könne man 1966 nicht aufrechterhalten. Darum hätten wir den Marxismus weit hinter uns gelassen. Mein Argument dagegen ist, daß Marx geistig seiner Zeit und der Gesellschaft, in der er lebte, soweit voraus war, daß wir selbst heute noch in gewisser Beziehung hinter ihm herhinken. Man braucht nur unserer Debatte zuzuhören, um einen Beleg dafür zu haben.
Marx hat tatsächlich vor 100 Jahren für den Sozialismus eine technologisch weit entwickelte Gesellschaft vorausgesetzt, die imstande wäre, einen solchen Überfluß von Gütern zu produzieren, daß für sein Jahrhundert selbst die Vision einer solchen Gesellschaft utopisch war. Analysierte man die Statistiken der ProKopf-Produktion in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts, so käme man zu dem Schluß, daß — sofern die sozialistische Revolution damals gesiegt hätte — sie (nach unserm heutigen Standard) in einem unterentwickelten Land gesiegt hätte. Das kann man Marx vorwerfen, daß er intellektuell seiner Zeit so weit voraus war, daß wir ihn noch immer nicht eingeholt haben.
Man sagt, Marx habe keine Gesellschaft vorhergesehen, in der Kybernetik, Maschinen und Computer in solchem Maße die Arbeit von Menschen ersetzen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Marx habe keine Gesellschaft vorhergesehen, in der die Wissenschaftler, die führenden Wissenschaftler so bedeutend sein würden. Aber Marx nahm im Gegenteil immer an, daß seine Gesellschaft bereits im Begriff sei, eine solche Gesellschaft zu werden, und darin hatte er recht. Es ist richtig, daß eine vor 100 Jahren formulierte Theorie in mancher Hinsicht veraltet sein muß, obwohl diejenigen, die das sagen, am Ende meist — sofern sie uns nicht gerade Drogen zur »Befreiung« von der Unterdrückung dieser Gesellschaft empfehlen — für eine Rückkehr zu vormarxistischen Ideen plädieren, manchmal für eine Rückkehr zum Christentum, das 2000 Jahre älter ist als der Marxismus.
Wenn wir es mit sehr gebildeten und aufgeklärten Kritikern des Marxismus zu tun haben, bieten sie uns häufig eine Rückkehr, eine Regression — aber keine infantile — zum utopischen Sozialismus oder zum Rationalismus des 18. Jahrhunderts an. Aber es gibt bestimmte Revolutionen im menschlichen Denken, die nicht rückgängig zu machen sind. Niemand kann zum vor-kopernikanischen System der Kosmologie zurückkehren, nachdem die Entwicklung des menschlichen Denkens von Kopernikus zu Einstein geführt hat; aber dazu brauchte es 250 Jahre.
Ich glaube nicht, daß die allgemeine marxistische Kritik am kapitalistischen System obsolet werden kann, solange wir dies System — wie immer weiterentwickelt — haben. Unser Überdruß an einigen bekannten Formeln und Binsenwahrheiten des Marxismus läßt sie nicht falsch oder nutzlos werden. Einige Leute glauben, man müsse nur auf den jungen Marx zurückgreifen, seine frühesten und sogar seine unreifen Gedanken über »Verdinglichung« und Entfremdung in und außerhalb ihres Zusammenhangs zu deklamieren, sie in Zirkeln zu wiederholen, um die Probleme unseres Zeitalters zu lösen. Aber sie gehen nicht über den Marxismus hinaus, sondern vom reifen zum unreifen, jugendlichen Marx zurück. Aber selbst der junge Marx war ein reifer Denker im Vergleich zu jenen, die jetzt, wie es ein Sprecher formulierte, eine Tendenz zur infantilen Regression zur Schau stellen. Ich sehe nur eine wichtige marxistische Prognose, die durch die reale Entwicklung bisher in gewissem Maße widerlegt worden ist: Der Sozialismus hat bisher nicht in einer der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften gesiegt, sondern in den zurückgebliebenen, wo eine feudale Struktur unter dem Einfluß des Kapitalismus zusammenbrach und wo feudal-kapitalistische Systeme unter dem Druck primitiver bürgerlicher und sozialistischer Revolutionen zusammenbrachen.

Als Erbschaft dieser geschichtlichen Entwicklung, die sich wirklich von der marxistischen Prognose unterscheidet, haben wir heute die mächtige Diskrepanz, die Kluft zwischen Ost und West, eine Kluft, die unglücklicherweise dazu tendiert, sich zum Schaden von Ost und West zu perpetuieren. Für Marxisten und Sozialisten, hier und anderswo, liegt das große Problem unseres Zeitalters, das Problem der Bewegung auf unser Ziel — den sozialistischen Menschen, eine sozialistische Gesellschaft — hin darin, wie diese Kluft zwischen den auseinanderweisenden geschichtlichen Wegen, die Ost und West eingeschlagen haben, sich überwinden läßt. Das ist das wirkliche Problem, vor der man sich nicht zu irgendwelchen Utopien der »befreienden« Drogen flüchten kann.
Ich wünschte, ich könnte die Begeisterung des Genossen auf der rechten Seite des Saales teilen, weil ich den großen revolutionären Idealismus und die internationale Bedeutung bestimmter revolutionärer Neuerungen, die die Chinesen vorgenommen haben, sehe. Unglücklicherweise wird uns solche souveräne, idealistische Verachtung der Realität der materiellen Lage Chinas nichts nützen, die Mißachtung der industriellen und kulturellen Rückständigkeit einer Gesellschaft, die den Heroismus aufbrachte, inmitten von Armut und Rückständigkeit eine sozialistische Revolution zu machen. Diese Bedingungen üben unglücklicherweise ihren Einfluß auf die Politik der chinesischen Regierung aus und bringen die Roten Garden dazu, nicht nur Rußlands sogenannten »Revisionismus« sondern auch Beethoven und Shakespeare als nutzlosen Unsinn einer degenerierten Bourgeois-Kultur zu verwerfen. Das kann ich nicht als Sozialismus anerkennen. Ich kann es nicht als eine befreiende Erfahrung akzeptieren. Ich kann auch den Mao-Kult um nichts besser als den Stalin-Kult finden, obwohl er in manchem entschuldbarer ist.

All diese Entwicklungen vertiefen die tragische Kluft zwischen den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften des Westens und ihrer Arbeiterklassen auf der einen und den nachkapitalistischen revolutionären Gesellschaften des Ostens auf der andern Seite. Es fällt einem dabei das historische Beispiel des Abgrunds ein, der sich während der Religionskriege zwischen katholischen und protestantischen Ländern auftat. Auch der Protestantismus begann als eine Befreiungsbewegung, als Protest gegen die Unterdrückung durch die katholische Kirche. Dann aber entwickelte auch der Protestantismus im Laufe der Auseinandersetzung seine unterdrückenden Züge. Nach Jahrzehnten und Jahrhunderten des Kampfes stabilisierte sich die Situation, und die Trennungslinie zwischen katholischen und protestantischen Ländern war nicht mehr auszulöschen. Die historische Koexistenz zweier rivalisierender religiöser Bekenntnisse, hinter denen mächtige soziale Bewegungen standen, war eine Tatsache geworden. Etwas ähnliches hat sich zu unseren Lebzeiten ereignet: wir sind Zeugen der aktuellen Koexistenz — einer antagonistischen, feindlichen Koexistenz — zweier relativ stabiler Systeme geworden: des westlichen kapitalistisch-imperialistischen Systems und des nachkapitalistisch halbsozialistischen des Ostens. Ich denke aber, daß diese historische Analogie wenigstens in einem Punkt irreführend ist. Protestantismus und Katholizismus konnten auf lange Sicht koexistieren. Die Welt der Zeit nach den Religionskriegen, des 17. und 18. Jahrhunderts, war noch nicht eine Welt, noch nicht durch Technologie und Industrie geeint. Es war eine in viele Einheiten junger Nationalstaaten feudaler und halbfeudaler Fürstentümer fragmentierte Welt.
Die Welt von heute ist nach Möglichkeit und Wirklichkeit eine Welt; die Entwicklung der Produktivkräfte läßt die Menschheit zu einer unlösbaren Einheit werden, die nach Integration verlangt. Entweder wird die Menschheit sozialistisch integriert oder sie wird unterge-hen. Daher ist eine Stabilisierung der Trennungslinien, wie sie nach den Religionskriegen bestand, heute unmöglich geworden. Die Welt wird und muß eine werden. Und nur der Sozialismus kann sie einigen. Der Kapitalismus kann sie nur auseinanderreißen und ins Verderben führen. Aber die Frage ist: welcher Weg führt zu dieser Vereinigung der Welt?

Marx sprach von der Geschichte der Menschheit als einer Geschichte von Klassenkämpfen. Aber es war natürlich nicht so, daß der Klassenkampf in der gesamten Geschichte, in allen Jahrhunderten und in der ganzen Welt mit gleicher Intensität ausgetragen wurde. Wie wir wissen, ist der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus eine Sache vieler Generationen. Ich fühle mich dadurch, daß sich der Klassenkampf in unserer westlichen Gesellschaft auf so niedriger Ebene abgespielt hat, nicht so entmutigt, daß ich die marxistische Analyse und Prognose aufgebe. Es ist natürlich wahr, daß unsere arbeitenden Klassen, vor allem die älteren Jahrgänge, sich von den verführerischen Vorteilen unseres sogenannten Wohlfahrtsstaates haben verwirren, demoralisieren und korrumpieren lassen. Aber ich denke, daß das Problem, das der späte C. W. Mills stellte, wer Triebkraft des Sozialismus ist, die Arbeiterklasse oder intellektuelle Eliten, besonders in Amerika eine gründliche Diskussion und gründliche Analyse verlangt, da es sich nirgendwo mit gleicher Schärfe stellt.
Vor 60 Jahren sagte ein großer russischer Marxist, Leo Trotzki, Westeuropa habe seine beiden Hauptprodukte in verschiedener Richtung exportiert: seine fortgeschrittenste Theorie, den Marxismus, nach Rußland, seine fortgeschrittenste Technologie in die Vereinigten Staaten. Aber das Rußland, das den Marxismus als Import aus Westeuropa erhielt, war technisch und industriell zurückgeblieben, die rückständigste unter den großen europäischen Nationen. Die technisch so weit entwickelten Vereinigten Staaten sind leider im politischen Denken zurückgeblieben; sie sind bis heute — ich bedaure, das sagen zu müssen — ein im politischen Denken höchst unterentwickeltes Land geblieben. Ich glaube, daß die großen TeachIn-Bewegungen dieser beiden letzten Jahre und Versammlungen wie diese hier beweisen, daß die Vereinigten Staaten ansetzen zum Versuch, ihre Rückständigkeit in Fragen des gesellschaftstheoretischen und politischen Denkens abzuschütteln. Aber wie viel bleibt da noch abzuschütteln.

Ich halte es für eine große Schwäche dieser Bewegung, daß hier eine solche Konferenz abgehalten wird, ohne daß die Arbeiterklasse irgendein Interesse daran nimmt. Und Ihr solltet Euch nicht darüber beklagen — Ihr habt kein Recht dazu —,weil so viele von Euch amerikamischen Sozialisten (ich möchte nicht verallgemeinern) kein Interesse für Eure arbeitenden Klassen zeigen. Ich neige nicht dazu, Protestbewegungen, die in der Intelligentsia entstehen, abzuwerten. Ich denke immer daran, daß im 19. Jahrhundert die russische Intelligenz die entsetzliche Last des Kampfes gegen die russische Autokratie auf ihren schwachen Schultern trug, die ganze furchtbare Bürde der russischen Revolution. Im 19. Jahrhundert zerschmetterten sich Generationen von russischen Intellektuellen in heroischer Selbstaufopferung den Kopf an den Eisenwällen der russischen Autokratie und gingen unter. Aber sie opferten sich nicht umsonst. Sie arbeiteten für die Zukunft. Auch Ihr arbeitet für die Zukunft und für den sozialistischen Menschen. Die russische Intelligentsia des 19. Jahrhunderts war außerordentlich isoliert — die Bauernschaft reagierte nicht auf sie und die industrielle Arbeiterklasse war noch nicht entstanden. Da sie allein kämpften, entwickelten sie eine gewisse Selbstüberschätzung; das große Epos des revolutionären Kampfes im Rußland des 19. Jahrhunderts ist voll pathetischer, exzentrischer
Episoden, denn Intellektuelle, die keinen lebendigen Kontakt zu den arbeitenden Massen ihres Landes finden, neigen dazu, sich in exzentrischer Weise auf sich selbst zu konzentrieren und die fantastischsten Wundermittel für die Gesellschaft auszudenken.
Unsere Diskussion hat ähnliche Schwächen der Intellektuellen im heutigen Amerika enthüllt. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich von meinem Thema, dem sozialistischen Menschen, abgehe, aber wir müssen über den Menschen diskutieren, der dem sozialistischen Menschen den Weg bereiten muß, und das seid Ihr. Ich bin davon überzeugt — und das ist nicht dogmatische Glaubensangelegenheit, sondern Produkt der marxistischen Gesellschaftsanalyse —, daß Eure Arbeiterklasse die entscheidende Triebkraft des Sozialismus bleibt, so wie sich die russische Arbeiterklasse als entscheidende Triebfeder des Sozialismus erwiesen hat, nachdem Generationen von Intellektuellen allein gekämpft hatten.
Auch Ihr mögt allein kämpfen. Es hängt von Euch ab, wie lange. Vielleicht nur für ein paar Jahre, wenn Ihr einen Weg zu Eurer Arbeiterklasse findet. Oder jahrzehntelang, wenn Ihr versucht, die Arbeiterklasse zu ignorieren. Ihr werdet Euch die Köpfe an — der Himmel weiß wie vielen — eisernen Wällen einrennen, falls Ihr Eure Arbeiterklasse ignoriert. Denn jede Protest- und Oppositionsbewegung gegen die mächtigen kapitalistischen Oligarchien wird sich auf lange Sicht als ohnmächtig erweisen, sofern sie nicht den nationalen Produktionsapparat fest in die Hand bekommt.
Es ist richtig, daß Eure Wissenschaftler heute den Produktionsapparat des Landes viel fester im Griff haben als in irgendeiner früheren Generation. Aber — was immer über Kybernetik und die große Vision einer super-kybernetischen Zukunft gesagt wird — die große Masse der Produzenten in dieser Gesellschaft stellen noch immer die Arbeiter. Und ich glaube nicht, daß sie viel mehr Grund haben, mit dieser Gesellschaft, mit ihrer entfremdeten Lebenssituation zufrieden zu sein, als die Intelligentsia, als Ihr jungen amerikanischen Sozialisten. Habt Ihr wirklich eine so geringe Meinung von Eurer Arbeiterklasse, daß Ihr meint, nur Ihr wäret sensibel und vornehm genug, mit dieser entwürdigenden Gesellschaft unzufrieden zu sein? Glaubt Ihr nicht, daß auch sie von sich aus Unzufriedenheit entwickeln können? Glaubt Ihr wirklich, sie sei von Natur her so viel leichter korrumpierbar durch die lockenden Vorteile dieses Kriegskapitalismus als Ihr?

Ich weiß, daß die älteren Altersgruppen der amerikanischen Arbeiterklasse fast völlig korrumpiert sind. Sie vergleichen ihre jetzige Lage mit dem, was sie in den dreißiger Jahren erlebt haben. Aber der Kopf des jungen amerikanischen Arbeiters ist sicher nicht durch die Tatsache verdreht, daß im elterlichen Hause ein Fernsehgerät steht und daß er sich ein Auto leisten kann. Er hält diese Dinge für selbstverständlich. Sie sind Teil des Lebensstandards, den er beim Erwachsenwerden vorfindet. Dadurch wird er sicherlich nicht korrumpiert, und er hat genug Verstand, um unzufrieden zu sein. Ich bin sicher, daß hinter seiner äußerlichen politischen Apathie viele Schichten von Zweifel und Unzufriedenheit liegen und ein Gefühl dafür, daß er seinen Lebensunterhalt durch Arbeit für Krieg und Tod verdienen muß. Könnt Ihr nicht mit diesem jungen Arbeiter sprechen und ihm sagen, daß man nur leben kann, wenn man für das Leben und nicht für den Tod arbeitet? Ist es unter der Würde amerikanischer Studenten, so etwas zu versuchen? Professor Marcuse sagt uns, daß wir auf die Arbeiterklasse nicht mehr rechnen können, aber er sagt uns nicht, auf wen wir zählen sollen. Er meint, wir sollten auf die jungen Leute zählen, die ihr Unbehagen an den sexuellen Konventionen dieser Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Natürlich sollten wir auch auf sie zählen. Schließlich hat Engels über die Ursprünge der Familie geschrieben und dargelegt, daß die Familie als Institution nur zu einer Fase oder zu bestimmten Fasen der gesellschaftlichen Entwicklung gehört; und er beschrieb die Konventionen der bürgerlichen Moral, die um die Familie herum aufgebaut worden sind. Wir sollten diese Unzufriedenheit mit der Familie und den sexuellen Konventionen bei der jungen Generation nicht ignorieren, aber manchmal habe ich den Eindruck, daß solche alten, verehrungswürdigen Lehrer wie Professor Marcuse sich einen Spaß mit uns erlauben, sich einfach auf unsere Kosten amüsieren. Zuerst sagt er, der Marxismus sei nicht utopisch genug gewesen; dann fährt er fort und sagt, die gegenwärtige Entwicklung zeige, daß die Vorstellung einer sozialistischen Revolution in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften unrealistisch und
veraltet sei, ebenso wie die Idee einer schrittweisen Umformung des Kapitalismus zum Sozialismus. Ziehen wir Bilanz: Revolution und Reformismus sind veraltete Ideen. Also gibt es keinen Weg vom Kapitalismus zum Sozialismus, weder den revolutionären noch den reformistischen. Warum soll man dann überhaupt über Sozialismus reden? Professor Marcuse sagt uns, daß der Sozialismus utopisch war und daß er nicht genug utopisch war. Wie kann ein alter und geachteter Lehrer soviel Unlogisches von sich geben und mit so unverantwortlich vagen Allgemeinheiten herumspielen. Diese Diskussion war für mich in vieler Hinsicht eine traurige Erfahrung. Aber ich bleibe ein unverbesserlicher Optimist. Ich halte das für die Gestehungskosten eines schöpferischen intellektuellen Ferments. Ich wünsche Euch Klarheit und Ehrlichkeit im Denken und wünschte, Ihr würdet Euch auf das Wesentliche konzentrieren, statt Euch durch zirkusartige Unternehmungen abzulenken, die mit ernsthaftem politischen Denken nichts zu tun haben.
Ihr könnt der Politik nicht entfliehen. Menschen leben nicht von der Politik allein, das ist wahr. Aber wenn Ihr nicht die großen Probleme löst, die der Marxismus, die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, die Beziehungen zwischen Intellektuellen und Arbeitern in dieser Gesellschaft stellen, wenn Ihr nicht einen Weg zur jungen Generation der amerikanischen Arbeiterklasse findet und den schlafenden Riesen der amerikanischen Arbeiterklasse aufweckt, ihn seinem Schlaf und seinem Opium entreißt, seid Ihr verloren. Eure einzige Rettung ist es, die Idee des Sozialismus wieder in die Arbeiterklasse hineinzutragen, und dann gemeinsam mit der Arbeiterklasse die kapitalistischen Bastionen zu stürmen. —

bluete