Protest ideell gedacht: eine staatszuträgliche Falle
Der Mensch ist nichts als Materie! Man hört schon den Einwand: Aber sein Geist! Diesem Einwand hält Marx die Erkenntnis entgegen, daß der Geist die Materie ist, die denkt¹. Wie jedes Stück Materie verfügt auch der Geist über besondere Eigenschaften, Eigenschaften die andere Materie nicht besitzt. Tiere zum Beispiel können nicht denken, ihre Konstitution läßt sie keine Begriffe bilden und sie können sich somit mittels solchen nicht ausdrücken.
Materie, die denkt, denkt notwendigerweise – so möchte man annehmen – materialistisch, das heißt an ihre eigenen Bedürfnisse, die es zu befriedigen gilt. Von den materiellen Bedürfnissen abstrahierende Gedanken, zu denen der Geist natürlich ebenso fähig ist, dienen nicht den materiellen Bedürfnissen. Sie dienen anderen Bedürfnissen. Diese drücken sich in Begriffen aus, die niemandem fremd sind: »Nation« zum Beispiel oder »Demokratie«, »Freiheit« usw. usf. Die Materie Geist erkennt sofort, daß es sich hierbei weder um einen Apfel, in den der Mensch hineinbeißen kann, noch um einen Braten handelt, bei dem einem schon beim Anblick das Wasser im Munde zusammenläuft. Im Bereich abstrakter Begriffe spielt sich Politik ab. Diese erstellt Rahmenbedingungen für den Genuß von Apfel und Braten her, Rahmenbedingungen übrigens, die unappetitlicherweise das Verfügen über Geld notwendig machen. Mit ihrer Gewalt kann die Politik das. Weshalb also läßt sie nichts auf diese ihre Gewalt kommen, verlangt vielmehr unerbittlich ihre Anerkennung? Offenkundig dient eine geldbezweckte Gesellschaft dem Staat selber.²
Nun ist Politik in den Figuren vergegenständlicht, die gemeinhin als Politiker oder Staatsmänner bezeichnet werden. Als solche denken diese nicht an ihr eigenes materielles Wohl, das ist ihnen ja gerade von Amts wegen verboten. Und damit sie nicht auf schnöden privaten Materialismus zurückfallen, werden sie hoch besoldet, was sie selber aus eben diesem Grund beschließen. Als Politiker sind sie für ganze andere Bedürfnisse da, nämlich die der Politik, die des Staates. Und dabei dürfen sie nicht an ihre persönlichen Bedürfnisse denken und an die ihrer materiellen Verfügungsmasse, an die ihrer Untergebenen nur bedingt. Sicher keine leichte Aufgabe, der Staatsfunktionäre sich unterwerfen, wovon die Tatsache zeugt, daß sie sich dann und wann wegen lukrativer Nebeneinnahmen zu rechtfertigen haben.
Ihre Untertanen betrachten die Staatsmänner heutzutage nicht einfach so erniedrigend an wie in früh- und vorkapitalistischen Zeiten, nein, sie betrachten und hofieren sie klassenneutral als Bürger, also als Zugehörige zu ihrer großen Sache und Aufgabe. Und deren Größe besteht eben gerade nicht darin, für Braten und Wein zu sorgen.³ Lebensgenuß zu bereiten, wäre ja eine vergleichsweise minderwertige Angelegenheit, eine individualmaterialistische, also geradezu verachtenswerte.
Man sieht, die Bedürfnisse der Politik und die Bedürfnisse nach Lebensgenuß decken sich keineswegs, im Gegenteil, sie schließen sich aus. Denn der Untertan soll ja, so will es die Politik, in den Dienst ihrer Sache gestellt werden, ob er will oder nicht. Sein Braten hängt allein davon ab, ob er sich in diesen Dienst stellen läßt. Diese Abhängigkeit von der Politik soll der Untertan als sein Mittel begreifen. Und er begreift es sehr schnell, weil er als lebendige Materie ansonsten dem Absterben anheimfällt. Es gibt – das ist die Ausnahme – regelmäßig Leute, die lieber krepieren, als sich den Zumutungen der Politik länger zu unterwerfen: Diese werden als Selbstmörder bezeichnet, obwohl es die Politik ist, die sie dahingeschlachtet hat⁴. Was im übrigen den Grund dafür abgibt – der Staat will nicht einer Konsequenz seines Wirkens bezichtigt werden –, daß über solche nicht berichtet werden darf. Als ein solch Todesmutiger öffentlichkeitswirksam vom Augsburger Rathaus sprang, wurde die Staatsgewalt vorstellig und versuchte aller Handyaufnahmen des Vorfalls habhaft zu werden. Die prinzipielle Inkompatibilität individueller materieller Bedürfnisse mit den Anforderungen des Staates wird in solchen Fällen überdeutlich. Doch der Staat verkleistert sie, so gut er es vermag. Wider besseres Wissen und wider ihre eigenen Bedürfnisse dementieren auch die Individuen dies: All ihre Tätigkeiten in ihrem rund um die Uhr abhängigen Verhältnis rechtfertigen sie fast schon automatisch, als hätten sie dieses Verhältnis geradezu selber eingerichtet und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Das ist ihre schier unerschütterliche ideologische Bemühung.
Es fällt ins Auge, daß die Politik gegenüber den Lebensbedürfnissen ihrer Untertanen abgehoben ist. Gerade deshalb sieht sich die Politik immer wieder einmal veranlaßt, »bürgernah« zu wirken, zumal wenn ein Wahlkampf ansteht, der ja in der Ermächtigung der Politik resultieren soll und resultiert. Es geht darum, welche Köpfe die Staatsgeschäfte führen sollen. Dementsprechend ist ein Wahlkampf ein ausgesprochener Personenkult und dementsprechend wenig sachlich sind auch die Bandagen, mit denen gerungen wird. Sicherlich versprechen die Politiker, wenn es ihnen gerade mal in den Kram paßt, den Untertanen mitunter Wohltaten. Das macht sie allerdings des »Populismus« verdächtig. In der Sache ist dies jedoch reine Heuchelei. Ein Staatsmann, der auf sich hält, schenkt reinen Wein ein: Alle müssen nun mal um des lieben Staates willen den Gürtel enger schnallen! Dies verkündend argwöhnt er, daß Lebensgenuß bei seinen Untertanen nur zu einem dem Staatswesen abträglichen Verhalten führen kann: Wer das Leben zu genießen trachtet, der stellt sich nicht mehr mit voller Willenskraft in den Dienst der Nation, die ganz anderes, unvergleichlich Großes vorhat. Das ist die anspruchsvolle Logik des Staates! Und ein Politiker weiß gleichzeitig sehr gut, wo die Daumenschrauben hängen, für die Untersten heißen die: Hartz IV, pardon: seit kurzem mit verklärter Bezeichnung: »Bürgergeld«. In Sachen bürgerfreundlicher Heuchelei übertreffen sich die verschiedenen Politiker gegenseitig. Auch der »Sozialstaat« selber ist keineswegs als staatliche Wohltat erfunden, freilich als solche oft mißverstanden worden. Er ist vielmehr der Funktionalität einer auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaftsordnung geschuldet.
Worum geht es also bei der Umwerbung der Untertanen als »mündige Bürger«, als »Wähler«? Es geht um die Anerkennung von Bedürfnissen, die den eigenen Bedürfnissen des Stimmviehs im Weg stehen! Staatliche Bedürfnisse, dafür soll es herhalten, dazu soll es an Leute, die sich als Politiker aufzublasen verstehen, die an sich wertvolle eigene Stimme übergeben, diese also entwerten. Und es kriegt noch nicht mal einen Apfel dafür! Ganz im Gegenteil, es werden Figuren ermächtigt, die einem selbst einen Apfel vorenthalten, wenn man sich nicht das nötige Geld dafür zuvor sauer verdient hat.
Den verehrten Bürgern ist es in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie von der Politik und den (Über-)Lebensbedingungen, die sie schafft, abhängig sind. Diese Abhängigkeit ist ihr zweites Ich. Damit steigen sie in jede Debatte ein, sofern sich eine solche ergibt. Sie sagen nicht schlicht und einfach, die Abhängigkeit ist Scheiße, nein, sie beziehen sich in ihrer Praxis berechnend darauf. Berechnend, nicht allzu kurz zu kommen und jedenfalls besser in und mit dieser Abhängigkeit zurechtzukommen als Hinz & Kunz, mit denen sie sich vergleichen und mit denen sie sich im Wettbewerb befinden. Kontrafaktisch bilden sie sich damit ein, daß sie in den Verhältnissen, denen sie unterworfen sind, eher gut als schlecht aufgehoben sind. Jeder, so denken sie, sei nämlich seines Glückes Schmied.⁵
So weit, so beschissen. Doch nun ist etwas passiert, was den Alltag außergewöhnlich tangiert und nicht zu leugnen ist und was zart empfindende junge Seelen aufgeschreckt hat: Die menschengemachte Klimaveränderung, genauer: die politikgemachte Klimaveränderung.
Aber so genau wollen jene Seelen es dann auch nicht wissen, was daran festzustellen ist, daß sie nicht die Politik als solche dafür verantwortlich machen, sondern die, welche für diese Politik Verantwortung tragen. Und in den Augen der Protestbewegung, kann nicht sein, was nicht sein darf: Sie appellieren tagaus tagein an eben jene Staatsfunktionäre, die natürlich davon weitgehend unbeeindruckt ganz andere Interessen, Sachzwänge der Politik eben vertreten und durchsetzen. Kurz, Klimademonstranten und andere täuschen sich über die Verhältnisse, denen sie unterworfen sind, ganz einfach deshalb, weil sie selber auf die Politik setzen, von der sie glauben, sie wäre für sie eingerichtet, also auf den Schein, mit dem sich die Politik selber allzu gerne umgibt, hereinfallen! Ansonsten würden sie gewiß was ganz anderes machen: Sie würden danach trachten, der Politik ein Kontra zu geben, zumindest darüber ernsthaft nachzudenken, wem das Handwerk zu legen ist. Ist es das Kapital, das für die übergeordneten Interessen des Staates Reichtum schafft? Es steigert ja das Wirtschaftswachstum, des Staates materielle Substanz in abstrakter Form, in Geld eben. Woran man, nebenbei bemerkt, sehen kann, daß das Geld in der Tasche des Untertanen völlig fehl am Platze ist und, sofern es sich dorthin verirrt hat, es schnellstmöglich auch wieder dahin befördert werden soll, wo es zweckmäßigerweise auch hingehört und gut aufgehoben ist, nämlich beim Kapital zu dessen Verwertung und damit der Schaffung von Reichtum abstrakter Sorte (= Geld), woran sich der Staat zu seinem Nutzen zu bedienen erlaubt, freilich nur insoweit, als er die Kapitalverwertung nicht abwürgt, was ja auch ganz blöd wäre. Im Gegenteil verspricht er, das Kapital eben mit seinen Mitteln zu fördern und zu diesen Mitteln gehört vor allem seine Gewalt, die er gegen die eigenen Untertanen ebenso zur Geltung bringt wie gegen andere Staaten und deren Insassen; als »Rechtsstaat« versteht sich, nicht minder als rigider Polizeistaat und allzeit kriegsbereiter Staat. Und in diesem Verhältnissen finden sich die Klimaschützer von der »Letzten Generation« und andere weniger Skrupellose. Sie wundern sich schwer, daß sie ins gesellschaftliche Abseits gedrängt und bisweilen gar als Kriminelle verfolgt werden. Wozu sind sie eigentlich die Materie, die denkt? Ja, auch der Geist selber läßt sich wie jede andere Materie unzweckmäßig gebrauchen. Ein Tier bemerkt übrigens instinktiv, wer sein Feind ist, es ist gar nicht dazu in der Lage, ihn zu verkennen. Der Geist einer »Letzten Generation« und anderer Gutgläubigen schafft es hingegen, seinen Feind als solchen total falsch aufzufassen.
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¹ Karl Marx: »Man kann den Gedanken nicht von der Materie trennen, die denkt. Sie ist das Subjekt aller Veränderungen.« (Marx-Engels Werke – MEW 2, S.136)
² Der Zusammenhang zwischen Staat und Geldwirtschaft wird zum Beispiel in dem Buch »Der bürgerliche Staat«, GegenStandpunkt-Verlag, erklärt.
³ Kapitalismus ist Ideologie, insofern vorstellig gemacht wird, für das Wohl seiner menschlichen Manövriermasse Sorge zu tragen wäre sein Zweck.
⁴ Bertolt Brecht: »Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.« (aus Me-Ti, Buch der Wendungen)
⁵ Ein Selbstmörder denkt übrigens genauso: Er verurteilt sich als Versager zum Tod.
23.04.2025
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