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Ich »versus« Wir

Theater von der Theatralik zu trennen, geht wohl nicht. Brecht war offenkundig der Meinung, daß das Theater mit seiner Theatralik als Stilmittel zur Vermittlung wichtiger gesellschaftlicher Anliegen taugt, ja nötig wäre. Das ist nicht der Fall. Und dafür steht exemplarisch der »Fatzer«. Hin- und hergerissen zeigt das Stück Individuen zwischen dem »Ich« und dem »Wir« und zwar ausgerechnet in der extremen Situation der Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg. Dies brachten die vier Amateur-Akteure des theter ensembles im maroden, also passenden Ambiente des City Clubs am 1. März im Rahmen des Brechtfestivals auf die Bühne. Einmal abgesehen von der wirklich exzellenten schauspielerischen Leistung spielte die Theatralik den Inhalt des Stückes geradezu an die Wand. 

Nun ist es ja so, daß im Krieg der Spielraum zwischen dem, was das unmittelbare materielle Interesse des Individuums ist, das eigene (Über)leben, und dem, was man so im allgemeinen Kollegialität nennt, sehr gering ist, denn im Krieg geht es bekanntlich nach Befehl und Gehorsam. Ja noch nicht einmal in Friedenszeiten ist der Spielraum sonderlich groß. Erst einmal muß jeder ja selbst für sein Aus- in und sein Zurechtkommen mit den kapitalistischen Verhältnissen sorgen, bevor er anderen gute Taten erweisen kann. Ja, im Kapitalismus ist es auch so, daß es durchaus erwünscht ist, sein Eigeninteresse nach vorne zu stellen: Wer keinen Unternehmergeist zeigt, muß sich immerzu einreden lassen, daß jeder seines Glückes Schmied sei… Der Faschismus hat diesen Standpunkt einer radikalen Kritik unterzogen: Der Einzelne gilt nichts, der Staat, die »Volksgemeinschaft« alles — die Klassengesellschaft wird offensiv geleugnet. Wer sein eigenes materielles Interesse in den Vordergrund stellte, wurde des Egoismus geziehen und zum Dienst an der Volksgemeinschaft oft genug nicht nur ermahnt, sondern dazu gewaltsam verpflichtet. Kurzum: Insofern hat sich Brecht mit den Begriffen »Egoismus« und »Solidarität« ziemlich vertan. Es scheint ja überhaupt eher Brechts ureigenes Problem gewesen zu sein, materielles Interesse und Moralität unter einen Hut zu bringen. Zum Ausdruck kommt das in der seiner sprichwörtlich gewordenen Sentenz »Zuerst kommt das Fressen und dann die Moral«. Woraus erklärt sich dies? Eben daraus, daß er den Staat, das Gewaltmonopol, welches er ist und das so gut wie alles bestimmt, als eben das Subjekt der gesellschaftlichen Dinge gar nicht näher in Betracht zieht. Gerade in des Staates höchster Verantwortung, dem Krieg, ein unverzeihlicher Fehler! Einer freilich, der gerade bei den Kommunisten der Weimarer Zeit (und auch später noch) hoch im Kurs stand: Die Vorstellung, daß der Staat nichts anderes wäre als ein Ausschuß der Kapitalistenklasse [Ganz im Gegensatz übrigens zu Marx, der den Staat, der Klassenstaat und nicht der Staat einer Klasse ist, in ökonomischer Hinsicht als den ideellen Gesamtkapitalisten auf den Punkt brachte, also als einen, der sich um die Verwertungsbedingungen des Kapitals sorgt, weil er seinerseits vom Gang der Geschäfte profitieren möchte!], und, sobald von ihr befreit, auch nicht mehr als solcher zu kritisieren sei, vielmehr dann auf die richtige moralische Haltung des Individuums geachtet werden möge. Ganz so, als ob die Moral nicht die Kehrseite der Gewalt wäre, die sie verordnet (was bekanntlich auch in der Sowjetunion unter und seit Stalin so war). Brecht hatte wohl einen Schimmer davon, daß er gar nicht gründlich genug an die Sache herangegangen war, weshalb er den »Fatzer« ein ums andere Mal auch verworfen hat.

Ja, Brecht war ein Suchender; eines war ihm dabei freilich sonnenklar, es ging und es geht nach wie vor um die Scheidung von Wahrheit und Ideologie. Soviel hatte er von Marx immerhin begriffen. Das einzig Peinliche der Brechttage — die im Gegensatz zu früheren diesmal angenehmerweise nicht so großkotzig daherkamen; dafür hatte Leiter Patrick Wengenroth ersichtlich auf mehr Substanz Wert gelegt —- war wohl das, einen alten Dummkopf einzuladen und auf ein Podium zu setzen, einen der nicht einmal weiß, was der Begriff Wahrheit bedeutet. Wahrheit ist das Verhältnis zwischen einer Sache, einem Gegenstand, der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Erklärung, sofern sie richtig ist. Und insofern sie eben zutreffend ist, hält sie jeder Kritik stand. Dieser Typ meinte stattdesssen: "Meine zentrale These lautet, daß wir heute nicht mehr wie in Brechts Zeiten die Wahrheit gegen Ideologien zu verteidigen haben, sondern die Wahrheit in ihren grausamen Konsequenzen kritisieren müssen. Wer die medizinische Wahrheit einer Krankheitserregung erkannt hat, geht zum Arzt, um sich gerade nicht der Wahrheit des Geschehens zu unterwerfen, sondern gegen sie vorzugehen. Das nennt man »Kritik der Wahrheit«." (Interview mit einem Herrn Brock in: daz-augsburg.de, 02.03.) Und was sollen die grausamen Konsequenzen sein? Als die erkannte Wirklichkeit können die daraus gezogenen Konsequenzen grausam gar nicht sein: Also wenn der Krieg als im Interesse einer für eigene Machtansprüche »zu kurz gekommenen« Nation erkannt ist, die über Leichen geht, dann muß man die Nation doch wohl abschaffen. [Jener Durchblicker hingegen meint offenbar, auf diesem Schluß käme es bei der Wahrheitsfindung nicht an, vielmehr müsse man die Wirklichkeit, gerade dann aushalten, wenn sie als Wahrheit begriffen ist, da gerade das Begreifen der Wahrheit dazu führe, die Gründe für das Übel nicht abzuschaffen! Selten dumm gedacht! (Könnte Filosof von großen Koalitionen sein!)] Und wenn sich das mit allen Staatsgewalten so verhält, dann müssen eben alle Staaten liquidiert werden, um das Leben der zum Schlachtvieh Bestimmten zu erhalten. Dazu bedarf es lediglich der Einsicht eben jener, die als die staatlichen Manövriermassen vorgesehen sind. Und insofern sie das einsehen, werden sie untereinander auch entsprechend — also wenn man es so ausdrücken will: »solidarisch« — handeln. 

All das kann man aus den Kriegen schließen und es wurde gerade aus dem 1. Weltkrieg eben dieser Schluß abgeleitet. Schließlich gab es aus seinem Grund beispielsweise in Deutschland die Novemberrevolution, der sich all die widersetzt haben, die selbst im Krieg partout nicht die Wahrheit der Politik erkennen wollten, wozu auch die national besoffene SPD gehörte (und national besoffen ist jene Partei bis heute geblieben). Literarisch wurde das Thema nicht nur von Brecht in Angriff genommen. Im Gegensatz zu Brecht allerdings, das ist einzuräumen, besser: Bekannt geworden ist hierzulande der — auch verfilmte [»All quiet on the western front«] — Roman von Erich Maria Remarque »Im Westen nichts Neues«. Weitgehend unbekannt geblieben sind die mindestens ebenso guten Romane von Stratis Myrivilis »Das Leben im Grabe« [Η ζωή εν τάφω] und von Gabriel Chevallier »Heldenangst« [La peur]. Wäre vielleicht eine gute Idee, im Anschluß an die Brechttage diese Bücher mal zu lesen. Schließlich ist nach wie vor auch heute noch Feuer auf dem Dach — der aktuelle Bezug, den die vier jungen Leute des theter ensembles mit ihrem Outfit, mit »Midnight Oil« wie mit der Einblendung von Titelblättern neuerer Zeitschriften herstellten, war sehr gelungen! 

(02.03.18)

bluete