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Dubravka Ugrešić

 

Dubravka Ugrešić (*1949) stellt in ihrem Buch »Kultur der Lüge« (Originaltitel: Zabranjeno čitanje), in dem sie während des jugoslawischen Sezessionskriege, genauer: zwischen 1991 und 1994, geschriebene Texte zusammengefaßt hat und das im Suhrkamp Verlag erschienen ist, folgendes klar:

"…Stellen wir am Ende klar: Auch ich, die Verfasserin dieses Textes, bin eine kroatische Schriftstellerin. Im Moment muß ich das hinnehmen, denn andere haben darüber entschieden. Während ich die Zeilen zu Papier brachte, beschloß ich, auf Markierungszeichen zu VERZICHTEN. Ich bin auf explosive Konsequenzen gefaßt und beklage mich nicht. Jeder wählt seinen eigenen Weg. Ich gebe vielmehr zu, daß in diesen unglückseligen Zeiten jeder—vom gewöhnlichen Bürger bis zum Staatspräsidenten, vom Waffenschmuggler bis zum Parlamentsabgeordneten — zu Recht glauben kann, vom Schriftsteller zu verlangen, daß er gegenüber der Heimat seine Pflicht erfüllt, daß er die Stimme seines Volkes ist, der treue Sohn seines Vaterlandes Kroatien, daß er es laut, deutlich und vor allem öffentlich liebt. Mir selbst erlaube ich, solche Forderungen ABZULEHNEN. Aus der Geschichte meines Volkes, des Schriftstellervolkes, habe ich gelernt, welches Unheil die Praxis der vermischten Töpfchen über die Schriftsteller, ihr Volk, die Redefreiheit, die Literatur selbst bringt. Deshalb stehe ich als Schriftsteller NICHT auf dem Bollwerk meiner Heimat. …" (S. 239)

Zunächst vermittelt sie in dem Buch einen Eindruck über den Stand vor dem Zerfall Jugoslawiens:

"Ich wurde im fünften Dezennium des 20. Jahrhunderts, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, geboren, in Jugoslawien, in einer kleinen Industriegemeinde unweit von Zagreb, der Hauptstadt der Republik Kroatien. In jenen Jahren kamen viele Kinder zur Welt. Das durch den Krieg zerstörte Land baute hastig an seiner Zukunft. Laut Aussage meiner Mama litt ich als Zweijährige an Avitaminose. Aber schon mit fünf Jahren kostete ich die erste Orange und bekam die erste richtige Puppe, woran ich mich selbst genau erinnere. Seit dieser ersten Orange beschritt das Leben unaufhaltsam seinen Weg in eine bessere Zukunft.
In der Schule lernte ich, daß es in Jugoslawien 6 Republiken und zwei Autonome Provinzen, 6 Nationen und mehrere nationale Minderheiten gibt. Ich lernte, daß in Jugoslawien mehrere Sprachgemeinschaften existieren, neben dem Slowenischen und dem Mazedonischen und den Sprachen der Minderheiten (Albanisch, Ungarisch, Romanes, Italienisch u. a.) das Kroatoserbische oder Serbokroatische oder einfach Kroatische bzw.  Serbische, eine Sprache, deren Varianten in Kroatien, Serbien, Montenegro und Bosnien gebräuchlich sind. Ich lernte, daß Jugoslawien drei große Religionsgemeinschaften — die katholische, die orthodoxe und die islamische — und viele kleine hat. Ich lernte, daß Jugoslawien ein kleines und schönes Land auf dem bergigen Balkan ist. Ich lernte, daß ich die Brüderlichkeit und Einigkeit hüten muß wie meinen Augapfel. Letzteres war eine Art Slogan, dessen Bedeutung ich nicht so recht verstand. Wahrscheinlich verwirrte mich der Ausdruck Augapfel.
Als ich größer wurde, erwies sich alles Gelernte als wahr, besonders die Schönheit des Landes auf dem bergigen Balkan. In den ersten amtlichen Dokumenten beantwortete ich die Frage nach der Nationalität mit: Jugoslawien. Ich wuchs im Rahmen einer Ideologie auf, die von Historikern und Politologen Titoismus genannt wird.
Der Titoismus implizierte den (scheinbaren oder wirklichen) Internationalismus (selbst wenn nur er, Tito, reiste und wir die Pressefotos aus fernen Ländern bewunderten). Im normalen Leben bewirkte diese ideologische Floskel, daß meine Eltern bereit waren, zwei Kindern aus dem Kongo die Schulbildung zu ermöglichen. Ich weiß noch, wie ungeduldig ich auf meine »Brüder« aus dem Kongo wartete, die aus mir heute nicht mehr erinnerlichen Gründen niemals eintrafen.
Der Titoismus implizierte weiterhin die (scheinbare oder wirkliche) Brüderlichkeit und Einigkeit, und das bedeutete einen gemeinsamen jugoslawischen Kulturraum. Im Alltagsleben waren die Dinge viel einfacher: der erste Junge, der mich küßte, hieß Budo, er war aus Zaječar, und der Kuß ereignete sich an einem Flüßchen, dessen Namen ich nicht mehr weiß, aber jedenfalls im brüderlichen Serbien.
Der Titoismus implizierte auch einen (scheinbaren oder wirklichen) Antistalinismus, was in der Kultur den Bruch mit dem ohnehin kurzlebigen Soz-Realismus bedeutete und auf der Ebene von Leben und Tod eine Zeitlang die Insel Goli otok, den jugoslawischen Gulag. Im Alltag waren die Dinge einfacher: die Kultur meiner Kindheit bestand aus griechischen Mythen, Geschichten von tapferen Partisanen und Hollywood-Filmen. Mein Idol war der Westernheld Audie Murphy. Die amerikanischen Filme unterstützten Titos historisches, an Stalin gerichtetes NEIN auf effektivste und billigste Weise.
Ich wuchs in einer Kultur auf, die sich fremde Werte schnell aneignete: von italienischen Schuhen bis zu Kultschriftstellern. Einmal besuchte ich die Lesung eines bekannten amerikanischen Autors. Im einheimischen Publikum meldete sich der kollektive Minderwertigkeitskomplex. Kennen Sie Ivo Andrić, Miroslav Krleža, Danilo Kiš? fragten meine Landsleute mit dem freundlichen Eifer wohlerzogener Kellner. Nein, antwortete ruhig der amerikanische Schriftsteller. Und Milan Kundera? warf jemand aus dem Publikum ein. Natürlich, sagte der Amerikaner. Die Anwesenden atmeten erleichtert auf. Alle hätten in diesem Moment geschworen, daß Kundera einer unserer Schriftsteller sei. Alle hätten auch geschworen, daß unser Land Jugoslowakei heiße, nur damit Kundera das auch bliebe. Unser Schriftsteller.
Ich wuchs in einer Kultur auf, die stolz darauf war, mit der westlichen Welt Schritt zu halten, obwohl daheim — so wenig überzeugend es für den westlichen und den an kollektiver Amnesie leidenden einheimischen Leser klingen mag — Dinge geschehen konnten, die künstlerisch interessanter waren als solche in der weiten Welt. Darum hörte ich mit dem tiefen Verständnis eines »östlichen« und der gutmütigen Skepsis eines »westlichen« Menschen vor einigen Jahren meinem russischen Kollegen zu, als er in aufrichtiger Perestroika-Begeisterung sagte: Komm, du wirst sehen, wir haben Postmodernismus so massenhaft wie Scheiße. Nur Seife haben wir nicht.
Ich wuchs in einer multinationalen, multikulturellen und monoideologischen Gesellschaft auf, die eine Zukunft vor sich hatte. Politik interessierte mich nicht. Meine Eltern hatten mir darüber nichts beigebracht. Die Worte Glaube, Volk, Nation oder gar Kommunismus und Partei bedeuteten mir nichts. Der einzige »politische« Satz, den ich niedergeschrieben habe (ich hatte ihn einem Kind gestohlen), lautet: Ich liebe mein Land, weil es klein ist und weil es mir leid tut.
Bücher und Freunde bildeten meine Umgebung, und mir war ganz unerklärlich, warum meine Mama vor zehn Jahren zu jammern begann: Wenn es nur nicht zum Krieg kommt; alles ist gut, aber wenn es nur nicht zum Krieg kommt. Das machte mich nervös, und ich schrieb ihre Besorgnis dem Älterwerden zu. Die einzige Vorstellung, die das Wort Krieg in meinem Kopf wecken konnte, waren die populären Kinder-Comics über die kleinen Partisanen Mirko und Slavko. Paß auf, Mirko, eine Kugel! Danke, Slavko! lautete der Dialog dieser Figuren.
Wohl darum kam ich mir wie ein Statist in einem Kriegsfilm vor, als ich im Herbst 1991 zum erstenmal im Schutzraum war. Was gibt es heute abend im Fernsehen? fragte meine Nachbarin, eine senile Achtzigjährige, ihre Tochter. Es ist Krieg, Mama, antwortete die Tochter. Unsinn! Der Film hat angefangen, sagte die alte Frau und machte es sich im Sessel bequem.
Die Zeit rundete sich zum Kreis, und nach genau 50 Jahren, im neunten Dezennium des 20. Jahrhunderts, brach ein neuer Krieg aus. Diesmal waren es keine bösen Deutschen, schwarzen Faschisten, die einheimischen Teilnehmer hatten die Rollen unter sich aufgeteilt. Tausende Menschen kamen ums Leben, verloren Haus, Identität, Kinder, Tausende wurden zu unglücklichen Emigranten, Flüchtlingen und Obdachlosen im eigenen Land. Der Krieg wurde an allen Fronten geführt, drang in alle Poren, rieselte von den ständig eingeschalteten Fernsehgeräten, aus Zeitungsberichten und -fotos. In dem zerteilten Land liefen reale und mentale Kriege parallel ab. Reale und mentale Granaten vernichteten Menschen, Häuser, Städte, Kinder, Brücken, Erinnerungen. Im Namen der Gegenwart wurde ein Krieg um die Vergangenheit geführt, im Namen der Zukunft ein Krieg gegen das Heute. Im Namen einer neuen Zukunft fraß der Krieg die Zukunft. Die Krieger, die Herren des Vergessens, die Zerstörer des alten Staates und Erbauer der neuen Staaten sorgten mit allen strategischen Mitteln für eine kollektive Amnesie. Die selbsternannten Herren über Leben und Tod setzten die Koordinaten von Richtig und Falsch, Links und Rechts, Wahr und Unwahr.
Und alles existierte gleichzeitig: die einen fielen für ihre Heimat, die anderen töteten und plünderten in deren Namen, die einen verloren ihr Haus, die anderen kamen zu einem Haus, die einen verloren ihre Identität, die anderen behaupteten, sie endlich gefunden zu haben, die einen verloren alles, die anderen gewannen, die einen wurden Botschafter, die anderen Invaliden; alles existierte so offen und schamlos GLEICHZEITIG: in derselben Sekunde zeigten Leben und Tod ihre unterschiedlichsten Gesichter.
Einzelne Soldaten verlangten an die Front zurückzukehren: im Granatfeuer, im Schützengraben lebe es sich ruhiger! Geflüchtete Bewohner Sarajevos wollten heimkehren: dort sei das Dasein menschlicher! Friedliche Städte lebten eine unsichtbare Hölle. Aus ihrer fragilen Sicherheit produzierten sie den Haß (die einen als Opfer, die anderen als Täter), ohne zu begreifen, daß ihr Haß den wirklichen Krieg verlängerte. Die Quantität des Bösen, das Unschuldigen in Sarajevo angetan wurde, breitete sich aus wie ein radioaktives Gift, jeder empfing nichtsahnend seine Strahlendosis. Siedlungen, Städte, Dörfer wurden zu Laboratorien, die Menschen nahmen, ohne es zu wissen, an einem unsichtbaren Experiment teil.
Wenn man Ratten die Nahrung entzieht, fressen sie nach einiger Zeit zuerst die eigenen Kinder, dann beginnen sie sich gegenseitig aufzufressen. Uns allen wurde die Nahrung entzogen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine Zukunft gab es nicht, weil sie sich schon ereignet hatte. Sie hatte sich ereignet, weil sich — auf ihre Art — die Vergangenheit noch einmal ereignete.
Im Frühjahr 1993 kam in einem Antwerpener Restaurant eine kleine Zigeunerin an den Tisch, an dem ich mit einem Freund saß, und bot Rosen an. Woher bist du, fragte ich. Ich bin Jugoslawin, Zigeunerin, antwortete die Kleine. Jugoslawien gibt es nicht mehr, sagte ich. Du mußt doch irgendwoher sein, vielleicht aus Mazedonien? Ich bin Jugoslawin, Zigeunerin, beharrte die Kleine.
Die über Europa verstreuten jugoslawischen Zigeuner sind heute offenbar die letzten Jugoslawen, und die übrigen Ex-Jugoslawen wurden inzwischen zu Obdachlosen, Exilanten, Flüchtlingen, Heimatlosen, Ausgestoßenen, neuen Nomaden, mit einem Wort — Zigeunern.
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, woher ich bin, zu wem ich gehöre, sagte meine Mama einmal, als wir von der Sirene aufgeschreckt in den Schutzraum rannten. Obwohl ich heute die kroatische Staatsbürgerschaft besitze, wiederhole ich auf die Frage, wer ich sei, die Worte meiner Mama: Ich weiß nicht mehr, wer ich bin… Manchmal fällt mir ein, hinzuzufügen: Ich bin eine Post-Jugoslawin, eine Zigeunerin.
Im September 1993 (als ich mich selbst zu den neuen europäischen Nomaden gesellt hatte) ereignete sich zu später Stunde im Vorortzug München—Tutzing eine Geschichte, die von Milan Kundera stammen könnte. Auf einer Station stieg ein Mann zu, der ein großes gerahmtes Bild mitschleppte, und setzte sich auf den Platz mir gegenüber. Er murmelte etwas angetrunken vor sich hin, wußte nicht, wohin mit dem Bild. Es zeigte das Porträt (oder retuschierte Farbfoto) eines Würdenträgers in Uniform.
»Wer ist das?« fragte ich.
»Ein Typ… der in meinem Leben eine wichtige Rolle spielt«, murmelte mein Reisegefährte.
»Ein General?«
»Ein Typ… aus Chile…«
»Mir kommt er eher vor wie ein russischer General …«
»Er ist kein Russe…«
»Und was dann?«
»Klement Gottwald«, sagte der Mitreisende resigniert. Die Resignation bezog sich auf seine feste Überzeugung, daß ich, eine Passagierin im Abendzug München—Tutzing, ohnehin nicht wissen könne, wer Klement Gottwald sei.
»Oh, Klement Gottwald!«
»Woher kennen Sie Klement Gottwald?!« fragte der Mann verblüfft.
»Aus einem Roman von Kundera! « sagte ich, denn ich erinnerte mich an die Episode mit dem Foto des kommunistischen Führers auf dem Balkon.
»Der mit Clementis' Pelzmütze auf dem Kopf«, fuhr ich fort und versank in der eigenen Dummheit. Aber mein Reisegefährte wurde lebhaft. Er war natürlich Tscheche. Schon seit fünfundzwanzig Jahren lebe er in Deutschland, das Bild habe er sich seiner Kinder wegen besorgt, sagte er, weil er ihnen die Geschichte seiner Emigration erläutern müsse.
»Und dann gehen wir mit Spray drüber… Mit Spray!« rief er fröhlich beim Aussteigen.
Während ich dem Mann nachsah, der sich auf dem leeren Bahnsteig mit seinem Bild plagte, fiel mir ein, daß manche grausamen Wunden auch nach fünfundzwanzig Jahren nicht vernarben. Aus der Perspektive des Verletzten natürlich. Aus der Perspektive des Beobachters sind sie nur ein kaum verständliches Zitat aus einem vor langem gelesenen Roman.
Die Texte dieses Buches sind aus einer ähnlichen tiefen Verletzung entstanden, auch wenn sie nicht von deren Ursache sprechen. Der fünfundzwanzigjährige Alptraum meines Reisegefährten ist beendet, mit einem Namen versehen und eingerahmt. Mein Alptraum dauert noch immer, er ist anderer Natur und paßt in keinen Rahmen.
Meine Texte — gesehen aus der Perspektive eines fernen Lesers (und Reisenden im Nachtzug auf einer europäischen Strecke) — besitzen die Bedeutung einer kleinen Fußnote zum europäischen Geschehen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Fußnote wird an Bedeutung gewinnen, je länger dieses 20. Jahrhundert zusammen mit Europa in Sarajevo stirbt, eben dem Ort, an dem es auch begonnen hat.
Selbst wenn sie aus nächster Nähe gelesen werden, besitzen diese Texte immer noch die Bedeutung und Reichweite einer Fußnote zur Zeit des Krieges in einem untergegangenen Land. Meine Texte sprechen nicht vom Krieg selbst, eher vom Leben an seinem Rand, einem Leben, in welchem den meisten Menschen nur wenig verblieben ist. Den Schriftstellern — sofern sie nicht Präsidenten, Kriegshetzer, politische Leader, Profiteure des Patriotismus, Mörder und Akquisiteure fremder Not werden — bleibt offenbar nur die SELBSTVERTEIDIGUNG DURCH EINE FUSSNOTE."

Kommunikation & Kaffee Augsburg dankt Dubravka Ugrešić und dem Suhrkamp Verlag für die Erlaubnis und die Rechte der Veröffentlichung.

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An dieser Stelle ein Interview, das in der in Wien erscheinenden österreichischen Zeitschrift Falter (10/1999 vom 10.3.1999) erschienen war:

Die im Exil lebende Schriftstellerin Dubravka Ugrešić wird mit dem Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur ausgezeichnet werden. Mit dem Falter sprach sie über die "Kultur der Lüge" des Tuđman-Regimes, über die amerikanische Auffassung von Literatur und über die Erfindung des Kroatischen.

Falter: Frau Ugrešić, gibt es so etwas wie eine europäische Literatur überhaupt?

Dubravka Ugrešić: Ich habe darüber nicht nachgedacht, bis ich vor kurzem auf die Empfehlung einer Freundin einen hochkompetenten New Yorker Literaturagenten kontaktierte. Ich bekam einen ablehnenden Brief, in dem er folgendes schrieb: "Sehr geehrte Frau Ugrešić, ich habe Ihr Buch (Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Red.) gelesen, und es ist wunderbar, aber es ist ein zutiefst europäischer Roman." Da begann ich nachdenklich zu werden und bemerkte, daß wir europäischen Schriftsteller in Amerika alle im selben Boot sitzen. In der amerikanischen Literaturkritik läßt sich eine verborgene oder auch völlig offene Propaganda für jene Art von Literatur beobachten, die vom Markt bevorzugt wird. Wenn das gut ist, was sich gut verkauft, was machen wir dann mit Robert Musil? Erst unlängst las ich in der New York Times Book Review eine große Besprechung, die ein Buch von Martin Amis lobte, weil er der einzige "amerikanische" Schriftsteller sei, den die Engländer hätten.

Gibt es denn so etwas wie eine transnationale Gemeinschaft der Schriftsteller?

Meiner Meinung nach ist die Literatur in den entsprechenden literarischen Milieus von Ländern wie Holland oder Deutschland noch in einer sehr guten Position. Solche ausführlichen und anständigen Besprechungen wie in den deutschen oder holländischen Zeitungen findet man sonst selten. Ansonsten muß man zwischen der Akzeptanz in den Medien und der geheimen Gemeinschaft der Schriftsteller unterscheiden. Es gibt eine Art von unsichtbarer Landkarte, auf der auch Autoren und Bücher aufscheinen, die nicht in den Medien vorkommen. Die Bestsellerlisten sehen überall ähnlich aus. Auch in Brasilien steht Tom Wolfe an erster Stelle.

In Ihrem Buch "Die Kultur der Lüge" beschreiben Sie, wie sich ein Schriftstellerkollege in "eine lebende Metafer der Leiden von Sarajevo" verwandelt. Was haben Sie für Erfahrungen gemacht?

Es kommt sehr darauf an, ob man das akzeptiert oder nicht. Ich habe gelernt, mich zu wehren. Als mich irgendein TV-Sender gebeten hat, die Wiederwahl Tuđmans zu kommentieren, habe ich das abgelehnt. Die Reaktion war natürlich, daß ich gefragt wurde, ob ich denn nicht mehr für die Demokratie meines Landes kämpfe. Das ist Blödsinn! Ich bin eben Schriftstellerin und keine politische Kommentatorin. Auch meine Essays sind eher literarischer als politischer Natur.

Peter Handke erklärte unlängst in einem Interview: "Mein Platz ist in Serbien, wenn die Nato-Verbrecher das Land bombardieren."

Um sein Leben zu geben? Um zu sagen: "Erschießt mich, denn ich bin mit diesen Menschen solidarisch?" Das ist sehr mutig von ihm. Ich kenne Handke nicht persönlich, aber es könnte sich um eine trotzige Provokation in Permanenz handeln. Ich glaube, das mag er.

Vor kurzem erschien ein Artikel von Ihrer Kollegin Slavenka Drakulić, in dem sie schrieb, daß sich die Situation in Kroatien verändert habe und bei den nächsten Wahlen die Opposition gewinnen könnte.

Das ist alles wahr. Bloß bedeutet es nicht viel. Die kroatische Opposition unterscheidet sich nicht wesentlich von Tuđmans Propaganda. Außerdem ist sie genauso unprofessionell wie Tuđman. Das einzige, was sie wissen, ist, daß sie "nach Europa" wollen. Aber wissen sie, wie das geht und was es bedeutet? Nein.

Haben Sie vor, jemals nach Kroatien zurückzukehren?

Ich bin aus dem literarischen Leben Kroatiens vollkommen ausgelöscht. Der Feral Tribune (Wochenzeitung mit Sitz in Split, die das Tuđman-Regime mit Satire und politischen Analysen bekämpft, Red.) habe ich entnommen, daß sogar lokale Bibliotheken meine Bücher auf den Müll schmeißen. Mein jüngster Roman ist in Kroatien nicht erschienen, einzig ein "oppositionelles" Wochenblatt hat es sehr eilig gehabt, einen Verriß zu veröffentlichen. Damit hat sich's. Für mich ist Kroatien fremder als jedes andere Land.

Sie schreiben aber noch auf Kroatisch …

Das ist die häufigste Frage: Vermissen Sie die Sprache nicht? Aber Kroatisch ist ja eine Sprache, die soeben für die Zwecke der Politik erfunden wird. Die Sprache unterliegt also einer Zwangskroatisierung. Warum sollte ich das vermissen? Ich würde eher Worte aus dem Serbischen oder Türkischen einschleusen, um diese Sprachideologie zu unterlaufen.

Aber gerade diese verschiedenen Färbungen und Verunreinigungen lassen sich schwer in eine andere Sprache übersetzen.

Ich bin froh darüber, daß meine Sachen übersetzt werden. Also sorge ich dafür, daß meine lokalen Fußnoten leichter übersetzbar werden. Warum sollte ich so bedacht darauf sein, Texte für jemanden zu schreiben, der sie ohnehin nicht als literarische Texte liest, sondern nur herausfinden will, ob ich mein Land betrogen habe?

Hat es denn, als Sie denunziert und zur Persona non grata wurden, keine einzige Solidaritätskundgebung unter Ihren Kollegen gegeben?

Nein. Der einzige Artikel zu meiner Verteidigung stammte von Viktor Ivancić und erschien in der Feral Tribune. Und meine zwei, drei allerbesten Freunde hielten zu mir. Es ist schon erstaunlich, wenn dein ganzes Leben vor deinen Augen zerfällt. Auf einmal rufen einen gute Freunde nicht mehr an, beginnen, einen zu meiden. Also habe ich mir gedacht: Vielleicht hat ihnen ja jemand gedroht? Aber so war es nicht. Es war ihre Entscheidung. Man beginnt zu verstehen, warum eine schleichende Faschisierung so einfach verläuft. Die Leute passen sich einfach dem ideologischen Mainstream an. Sie wollen bloß nicht gestört werden.

Eine gängige Deutung des jugoslawischen Bürgerkriegs besagt, daß die Aggressionen und der Nationalismus immer schon latent vorhanden waren und nur vom Tito-Kommunismus unter dem Deckel gehalten wurden.

Mag sein, daß fünf Prozent der Menschen wirklich unter dem Kommunismus gelitten haben, die Mehrheit aber sicher nicht – die hat geweint, als Tito starb; genauso wie sie geweint hat, als Tuđman gewählt wurde. Sie weinen überhaupt dauernd.

Und wollen ein einfaches Leben.

Ja. Ein ungestörtes Privatleben wie in jeder "normalen" Gesellschaft. Als einige Vertreter der Opposition in serbische Dörfer gingen, um für ihre Politik gegen Milošević zu werben und um Unterstützung zu bitten, wurden sie von den Bauern angesprochen: "Ihr seht sympathisch aus. Seid ihr an der Macht?" Darauf sagten die: "Nein, wir sind Oppositionelle. Aber bald werden wir das Sagen haben." Worauf wiederum die Bauern antworteten: "Okay, wenn ihr an der Macht seid, werden wir euch wählen."

»Die Kultur der Lüge«, die Sie beschreiben, ist letztendlich eine Entlastung von jeglicher Verantwortung oder Scham.

Es ist kompliziert. Weil es nämlich für die Menschen sehr schwer wird, authentisch zu bleiben. Ich versuche zu verstehen, wie "normale" Menschen denken. Zuerst sagt man ihnen, daß sie im Sozialismus leben. Der Begriff Kommunismus wurde nicht verwendet. Plötzlich wird ihnen von Tuđman erklärt, wie schlecht sie waren, weil sie doch unter dem Kommunismus gelebt haben. Dann wirft man ihnen vor, Nationalisten zu sein. Also versuchen sie wieder, das abzustreiten. Hier beginnt der Wahnsinn: Alle sind gegen uns; keiner versteht uns. Es ist, als hätten sie einen Adapter implantiert. Tuđman selbst ist ein Konvertit: Er war ein Partisan, Titos ergebener General; dann erklärte er, daß der Kommunismus seine Eltern getötet habe, obwohl er zu dieser Zeit Kommunist war. Er hat ständig gelogen. Und die Menschen folgen ihm.

Aber die Leute wissen, daß ständig gelogen wird?

Nein. Das Gedächtnis funktioniert so: Es interpretiert die banalsten Ereignisse und verfälscht sie. Dennoch ist man überzeugt, daß es nichts als die Wahrheit ist.
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Bibliografie deutschsprachiger Veröffentlichungen:
 — Baba Jaga legt ein Ei (Übers.: Mirjana & Klaus Wittmann), Berlin Verlag, 2008.
 — Keiner zu Hause (Übers.: M. & K. Wittmann, Angela Richter & B. Antkowiak), Berlin Verlag, 2007.
 — Das Ministerium der Schmerzen (Übers.: B. Antkowiak, M. & K. Wittmann), Berlin Verlag, 2005.
 — Lesen verboten (Übers.: B. Antkowiak). Frankfurt, SuhrkampVerlag, 2002.
 — Der goldene Finger (Übers.: Nadja Grbić). Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 2000.
 — Das Museum der bedinungslosen Kapitulation (Übers.: B. Antkowiak). Frankfurt, Suhrkamp, 1998.
 — Die Kultur der Lüge (Übers.: Barbara Antkowiak). Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 1995.
 — My American Fictionary (Übers.: B. Antkowiak). Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 1994.
 — Des Alleinseins müde (Übers.: Barbara Antkowiak). Berlin-Ost, Verlag Volk und Welt, 1984.

Veröffentlichungen in anderen Sprachen und einiges mehr finden sich auf der
Homepage von Dubravka Ugrešić 

Nachtrag zu »Lesen verboten«:
"… Der Sozrealismus war eine fröhliche Kunst (die Opfer wollen wir hier beiseite lassen). Ich brauche mich nur an das Thema des Invaliden zu erinnern, und schon beginne ich zu lächeln. Der Roman Wie der Stahl gehärtet wurde von Nikolai Ostrowski gilt als ein Grundstein der sozrealistischen Literatur. Er erzählt von einem blinden, gelähmten, absolut positiven Helden, der am Ende alle besiegt. Der jugoslawische Film Nur Menschen ist auch eine Geschichte über Invaliden. Haupthelden sind ein einbeiniger Ingenieur (ehemaliger Partisan und Kriegsversehrter) und eine blinde Ärztin. Der Ingenieur und die Ärztin verlieben sich, arbeiten schwer, er beim Bau eines sozialistischen Staudamms, sie im Krankenhaus. Sie gehen oft zum Skilaufen: der Ingenieur auf einem Bein, die Ärztin blindlings, nach dem Gedächtnis. Die Ärztin unterzieht sich einer riskanten Operation, die ihr das Augenlicht wiedergibt. Ewig ruht in meinem Herzen das großartige Happy-End, die Begegnung des Einbeinigen und der ehemaligen Blinden auf dem mächtigen sozialistischen Staudamm. Ihr Kuß unter dem Rauschen des Wassers und dem Applaus der Arbeiter ist in mein kulturelles Gedächtnis eingegraben.

Der Sozrealismus war nicht nur fröhlich, sondern auch sexy. Nirgends so viele muskulöse, starke und gesunde Körper, nirgends so viele umarmte Schnitter und Arbeiter, Traktoristen und Bauern, nirgends so viele »Pyramiden der Freundschaft« wie im Sozrealismus. Nirgends, um heutige Beispiele anzuführen, so viele Arnold Schwarzeneggers und Sylvester Stallones zu einem mächtigen Körper verschmolzen. Der Sozrealismus war eine optimistische Kunst. Nirgends so viel Glaube an eine lichte Zukunft und den Sieg des Guten über das Böse.
Nirgends, außer in der marktorientierten Kultur. In Literatur, Film, Fernsehen. Ich bin sicher, daß ein Großteil der heutigen marktwirtschaftlich erfolgreichen Literatur-(FilmFernseh-)Produktion auf der einfachen sozrealistischen Fortschrittsidee gründet. Die Buchhandlungen sind voller Titel zum Thema: wie bewältige ich meine Invalidität, wie verbessere ich meine Situation. Die Bücher darüber, wie Blinde sehend, wie Dicke schlank, wie Kranke gesund, wie Arme reich wurden, wie Stumme sprechen lernten, Säufer trocken, Atheisten gläubig, Unglückliche glücklich wurden, all diese Bücher infizieren die Lesermassen mit dem Virus des Glaubens an die eigene lichte Zukunft. Und die persönliche lichte Zukunft ist auch die kollektive lichte Zukunft, wie die Sozrealistin Oprah Winfrey Millionen Amerikanern in ihrer Talkshow verkündet.
Um Erfolg zu haben, muß die Marktliteratur didaktisch sein. Daher so oft das Wort wie in den Titeln. Wie der Stahl gehärtet wurde. Der derzeitige Bestseller How Stella Got Her Groove Back wirkt etwa so wohltuend auf das schwarze, unterdrückte weibliche amerikanische Proletariat wie seinerzeit Maxim Gorkis Mutter auf das sowjetische.
Die heutige Marktliteratur ist realistisch, optimistisch, fröhlich, sexy, explizit oder implizit didaktisch und für breite Leserschichten gedacht. Als solche erzieht sie die Werktätigen im Geiste des individuellen Siegs von etwas Gutem über etwas Böses. Als solche ist sie sozrealistisch.  …"

bluete