Politik

igmetall: ideologie-konform

koka

 

Die IG METALL ganz grundsätzlich für die imperialistischen Staatsansprüche, für die Notwendigkeiten des Kapitals sowie die dazugehörigen Ideologien

 

TEIL 1 Das Papier
Die im DGB zusammengeschlossenen deutschen Gewerkschaften ignorieren die deutsche Staatsräson, wie sie von der jeweiligen Bundesregierung ausformuliert und durchgesetzt wird, sie nehmen jene als gegeben hin. Dies ist die Ausgangsposition, mit der sie sich als Funktionärsvereine, die sie sind, um ihre Interessen kümmern.
Diese Position hat ihren Grund darin, daß die Gewerkschaften, wiewohl sie als staatstragende Interessenvertretungen ganz prinzipiell anerkannt sind, versuchen, eben diese Anerkennung — und das ist ihr ganz spezielles Interesse — ein ums andere Mal zu manifestieren, so als ob in der Permanenz dieser Aktivität die Anerkennung selber begründet wäre. Und da ist ja auch etwas Wahres dran: Im Klassenstaat versteht es sich ja nicht von selbst, daß die in Abhängigkeit gehaltene Klasse, vertreten durch die Gewerkschaften, eben diese Abhängigkeit als etwas Positives und daher als annehmbar begreift und akzeptiert bekommt. Die Gewerkschaften müssen also die Arbeiterklasse bei staatstreuer Stange halten — auch in Verhandlungen mit der Kapitalseite — und diese ihre Leistung dem Staat dauerhaft vor Augen führen.
Zweifel auch nur leisester Art an der Staatsräson wollen und können die Gewerkvereine sich daher nicht leisten. Ganz im Gegenteil, das Vertrauen in und auf den Staat, der sie anerkennt, und in die Politik, die sie als ihre Gesprächspartner mit stets offenen Ohren kennt, bestätigen sie in ihrer Haltung und in ihrer Rolle, als Transmissionsriemen zwischen Arbeiterklasse und Staat zu wirken.
Es stellt sich die Frage, wie die Gewerkschaften das bewerkstelligen. Hierzu liegt ein Fall vor, der seine Brisanz darin hat, daß hier ein besonderes Kapital, das Rüstungskapital involviert ist. Es dreht sich um ein dreiparteiisches Papier: Der Staat, vertreten durch die in Regierungsverantwortung stehende Partei in Form des Wirtschaftsforums der SPD, das Kapital in Form des Bundesverbands der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) sowie der Industriegewerkschaft Metall (IGM). Diese 3 Fraktionen haben ein Papier verabschiedet unter dem Titel
»Souveränität und Resilienz sichern — Industriepolitische Leitlinien und Instrumente für eine zukunftsfähige Sicherheits- und Verteidigungsindustrie«.
Der Titel »Souveränität und Resilienz [Unverwundbarkeit]« unterstellt den Anspruch der Politik, die staatliche Souveränität ins Spiel zu bringen, auszuweiten und sie dahingehend anzupassen, ansonsten könnte man sich solche Hervorhebung ja sparen. Wer einwendet, es gebe doch eine Bedrohung der Souveränität, der übersieht, daß die staatlichen Ambitionen allenthalben einer Rechtfertigung bedürfen, also eine Bedrohung suggerieren soll, die man wie im aktuellsten Fall schlechterdings nicht beweisen kann. Unterstellungen an andere staatliche Gewaltmonopole sind eben nichts anderes als Unterstellungen [dazu zum Fall Rußland].

Die deutschen außenpolitischen Ansprüche, die imperialisitschen Ansprüche Deutschlands werden dann auch gleich im ersten Satz des Papiers zur Sprache gebracht, nämlich so: Rußland habe die Ukraine überfallen und damit gleichsam einen ersten Angriff auf die BRD gestartet. Kein Wort über die Gründe der Geschehnisse; als selbstverständlich wird unterstellt, daß die Ukraine zu »uns« gehört und am besten am Hindukusch »verteidigt« wird. Ein aufmerksamer Leser beachtet, wie die IGM-Führung dieser Sichtweise umstandslos folgt!
Sodann erläutert das erwähnten Papier die Ansprüche des in der Rüstungssparte angelegten Kapitals, welches selbstverständlich bemerkt hat, daß der deutsche Staat Größeres, ja wirklich Großes auf seine Tagesordnung geschrieben hat. Das was explizit einigen anderen Staaten und Terrororganisationen nachgesagt wird, nämlich daß sie Gewalt als Mittel ihrer Politik begreifen, läßt sich ja den deutschen Heuchlern feinster Sorte wirklich nicht entgegenhalten: Die Rüstungsmagnaten tun so, als generierten die deutschen Waffenexportfirmen nicht von Jahr zu Jahr neue Höchstumsätze, sie tun so, als finanzierte die BRD keinerlei Stellvertreterkriege, sie tun so, als mischte die sich nicht mit ihrer Gewalt unmittelbar im Ausland ein, wenn sie die Bundeswehr in andere Staaten, ja Kontinente abkommandiert.
Nicht einmal ansatzweise tangiert diese exorbitante Heuchelei die Funktionäre der IG Metall (die hier stellvertretend für den DGB stehen kann, denn von dem ist auch nichts Gegenteiliges bekannt)! Konsequent ist diese an den Tag gelegte nationale Haltung allenthalben:
Von Seiten des Kapitals ist es ja einleuchtend, nämlich in seiner Lobbytätigkeit eine gehörige nationale Schmeichelei an den Tag zu legen, also den Staat in seinen dem Kapital lukrativen Ansprüchen zu bestärken:
»Deutschland benötigt eine verläßliche und strategische Ausrichtung für seine Industrie, die deutlich über eine Legislaturperiode hinausgeht. Nur so kann Deutschland seine souveräne Handlungsfähigkeit … [usw. usf.]« Diese Anbiederei breitet sich im Detail über den allergrößten Teil des Papiers aus, apostrofiert vom staatsfanatischen SPD-Wirtschaftsforum und unwidersprochen von der Gewerkschaft.
Von Seiten der Gewerkschaft braucht jene Position im Namen der Arbeitklasse jedoch eine Rechtfertigung, die dem Staat wie dem Kapital zwar an sich einerlei ist, jedoch als Beitrag zur nationalen Gesinnungseinheit wertvoll erscheinen läßt und deshalb auch Aufnahme in das Papier findet. Die Gewerkschaft strapaziert in solchem Zusammenhang wichtigtuerisch den Begriff »Mehrwert« — was nun wirklich nichts mit dem Mehrwert zu tun hat, der in Form des Profits in den Taschen der Kapitaleigner landet.
Bezüglich des Lamentierens der Industrie, daß das Eurofighter-Programm schon 2027 ausläuft, führt die IGM eine Studie an, die folgende Punkte beinhaltet:
»
→ mehr als 400 beteiligte Unternehmen
→ mehr als 100.000 hochqualifizierte Arbeitsplätze in der EU, davon 25.000 in Deutschland und größtenteils abseits der einschlägigen Ballungszentren angesiedelt
→ mehr als 120 deutsche Zulieferer + öffentliche Institutionen für F&T
→ +10% BIP: Für jeden Euro BIP, der durch die Eurofighter Tranche 4 erzeugt wird, werden weitere 10% an zusätzlichem Beitrag zum gesamten BIP geleistet
→ +26% Steuern: Für jeden Euro Steueraufkommen, der durch die Eurofighter Tranche 4 erzeugt wird, werden in Deutschland 26% zusätzliches Steueraufkommen generiert
→ +33% Arbeitsplätze: Für jeden Arbeitsplatz, der durch die Eurofighter Tranche 4 geschaffen wird, werden 33% zusätzliche Arbeitsplätze in der deutschen Wirtschaft geschaffen «

Wie man dem entnehmen kann, macht sich die Gewerkschaft wirklich Gedanken, kolossal konstruktive Gedanken, so konstruktiv, daß die Politik, welche Gewalt und Krieg als ihr Mittel begreift und dem nationalen Ansprüchen entsprechend anwendet, glatt in den Hintergrund rückt und gleichzeitig ihr auch noch wohltuende Wirkungen hinsichtlich dieser Mittel bescheinigt werden.

 

Teil 2: Der Einwand
Ein IGM-Mann hat — wohl stellvertretend für eine ganze Anzahl weiterer — in einem Schreiben an den Vorstand Vorbehalte gegen jenes dreiparteiische Papier angemeldet:
»… Hier wurden pionierhaft alternative Zukunftsentwürfe zu kapitalistischen Sackgassen entworfen. Dabei müssen wir [?] uns [?] auch [!] mit der Frage, was produziert und transformiert werden soll, befassen und es nicht den Unternehmern überlassen. Die Gewerkschaften müssen diejenigen sein, die die Transformation industrieller Fertigungsprozesse mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Produkte verknüpfen.« Er interpretiert die gewerkschaftlichen Aufgaben also anders als offenbar vorgesehen, zumindest sollten deshalb noch andere Überlegungen einfließen. Er schreibt weiter: »Gesellschaftliche Bedarfe jenseits von Krieg, Zerstörung und Tod zu definieren, ist daher [weil er sich die Gesellschaft so zurechtinterpretiert, damit sie in seinen deutschen Ordnungssinn paßt?] eine der zentralen Aufgaben der Gewerkschaften in der Transformation und in der Friedensbewegung. …. Der Kurs des Papiers … sichert die Dominanz des Militärs. Es folgt der Profitlogik der Aktionäre der Unternehmen des BDSV, doch nicht der einer Interessenorganisation von abhängig Beschäftigten. Diese sind ArbeiterInnen, die einen guten Job brauchen, um ohne Not zu überleben. Sie sind aber auch Eltern und BürgerInnen, die eine zukunftsfähige Gesellschaft und eine gesicherte Friedensordnung brauchen. …«
Daß jeder »gute Job« ein abhängiger ist, damit einer von der anderen Seite ausnutzbarer wäre nicht so schwer festzustellen, doch will er an dieser fundamentalen Abhängigkeit nicht rütteln. Und daß ein solcher Job eine unter Wert bezahlte, also im rein materiellen Verständnis Ausbeutung ist, daran will er ebenso wie seine Gewerkschaftsobrigkeit nicht denken: Ebensowenig verschwendet er einen Gedanken darüber, warum eine, seine Gesellschaft Rüstung offenbar braucht und die nicht zu knapp. Er möchte sich seinen Glauben an die schöne heile Welt einer kapitalistischen Klassengesellschaft nicht durch jenes Papier in Frage gestellt sehen.
Wenn er von »gesellschaftlichem Nutzen« spricht, dann rekurriert er darauf, daß alle, also Staat, Kapital und Arbeiterklasse, ihren Nutzen von und aus der Wirtschaft ziehen können. Dafür sei eine »Transformation« nötig: Vom Rüstungskapital sei außer für dieses selbst kaum ein Nutzen erkennbar. Er begründet dies nicht etwa ökonomisch, nämlich etwa so, daß die Ware Rüstung totes Kapital darstellt, weil sie nicht mehr in den Zirkulationsprozeß des Kapitals eingeht. Nein, er macht dies vorstellig aus purem Idealismus: Frieden versteht er nicht als eine Ideologie in dem Sinne, wie er vom Staat gemeint und praktisch mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt ist und wird. Ausdrücklich stellt er sich das so vor, nachdem er diplomatische Lösungen im Ukraine-Krieg gefordert hat:

»Eine dauerhafte Steigerung des Etats für Rüstung und Verteidigung auf ein willkürlich erscheinendes, an konjunkturelle Entwicklungen gekoppeltes Zwei-Prozent-Ziel oder darüber hinaus lehnen wir ab. Vielmehr muß sich der Verteidigungshaushalt danach bemessen, was zur Erfüllung der Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung erforderlich ist. Zudem sind die Mittel und Anstrengungen für zivile Konfliktprävention und Entwicklungszusammenarbeit deutlich zu erhöhen. Die verabredete Konvention … ist nicht geeignet, diesen Zielen auch nur einen Schritt näher zu kommen.
Das Dokument spricht sich für einen Kurs verstärkter Aufrüstung auf allen Feldern der Rüstungsproduktion und des Kriegs-Know-Hows aus und verbindet dies mit der Forderung nach staatlich garantierter Planungssicherheit für Rüstungsunternehmen, die so Langzeitrenditen erhalten, die sonst kaum zu erzielen sind.«

Die Feststellung, was Staat und Kapital vorhaben, beißt sich seiner Meinung zufolge einfach an seinen idealistischen Vorstellungen, die er hat und für die er einen Ankerpunkt in den Ideologien sieht, welche allenthalben verbreitet werden: Es ginge »bloß« um Verteidigung, es ginge »bloß« um zivile Regelungen im Sinne von »Freiheit & Demokratie«, es ginge »bloß« um für alle Seiten nutzbringendes Wirtschaften, ja es ginge auch »bloß« darum, dem Personal Gehör zu schenken, um seine Mitarbeit würdigen zu können.
Letzteren Punkt unterstreicht er eindringlich:
»Wer weiterhin mahnt, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, und davor warnt, Waffen an die Ukraine zu liefern, die strategische Ziele weit im russische Hinterland treffen können, muß heute wieder damit rechnen, als 5. Kolonne Moskaus denunziert zu werden. Gerade Gewerkschaften, die ja auch immer wieder zu den größten 'Opferverbänden' werden, sollten das zuallerletzt vergessen. Es waren die Schrecken der beiden großen Kriegskatastrofen, die ein deutscher Imperialismus losgetreten hatte, die dazu führte, daß unser Grundsatzprogramm als Ziel festhält, 'für Frieden, Abrüstung und Völkerverständigung' zu kämpfen. So steht es auch immer noch in der aktualisierten Satzung.«
Sowohl in dem Dokument wie in der Antwort darauf hier merkt man deutlich, wie wenig die Gewerkschaft Subjekt in der Gesellschaft ist. Soll man sich gerade deshalb mit Fragen beschäftigen, die den Status der Gewerkschaft zumindest moralisch legitimieren? Denn eine Durchsetzung von Zukunftsentwürfen glaubt der besorgte Gewerkschaftler selber kaum. Aber Widerspruch und Widerstand zumindest artikulieren, dazu
sieht er sich mit seiner IGM moralisch verpflichtet. Man kann darüber rätseln, was der materielle Nutzen für die Arbeiterklasse sein soll, denn dieser ist mit diesem Standpunkt nicht absehbar, weder im Frieden noch im Krieg.

 

Teil 3: Die Klarstellung
Das wiederum macht die Antwort des Herrn Jürgen Kerner, Vorsitzender der IGM, der seine steile Funktionärslaufbahn an einem Rüstungsstandort, in der Stadt Augsburg — die sich gerade deshalb als »Friedensstadt« präsentiert (man sieht hier wie Wirklichkeit und Ideologie zusammengehören!) — die begonnen hat, einfach: Er bestätigt den besorgten Schreiber in seiner irren Auffassung der deutschen Gesellschaft, nach der die einzig dem Frieden dient:
»Auf den Punkt gebracht: Es geht nicht um Aufrüstung, sondern um Ausrüstung, nicht um die Normalisierung oder gar Verharmlosung von Krieg, sondern um industriepolitische Fragen im Kontext der verfassungsgemäßen Landes- und Bündnisverteidigung. ›Eine nicht unerhebliche Rolle (…) spielt eine auch sicherheits- und verteidigungspolitische Integration im Sinne der europäischen Souveränität. Das betrifft vor allem die Rüstungszusammenarbeit und die notwendige Ausrüstung der Bundeswehr, die ihren verfassungsgemäßen Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung erfüllen muß.‹ Nicht zuletzt auf der Grundlage dieses aktuellen Grundsatzbeschlusses des Gewerkschaftstags beteiligt sich die IG Metall an Debatten zur Industriepolitik der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie….«*
Alles klar?! An der Verfassung willst Du, kritischer Gewerkschaftsgenossse, doch ebensowenig rütteln wie an gewerkschaftlichen Grundsatzbeschlüssen! Und das ist kein Gegensatz zu dem Standpunkt der IGM, die Kerner so formuliert:
»Die IG Metall steht ohne Wenn und Aber für Frieden, Abrüstung und Völkerverständigung…..«
Wo man keinen Widerspruch — und der ist bei einer gewissen Unschärfe zwischen Ideologie und Idealismus offenkundig nicht leicht wahrzunehmen! —  entdecken will, kann man auch keinen entdecken. Das erschiene ja als spalterisch und damit gewerkschaftsschädigend. Und da »wir« ja alle an einem Strick ziehen, laß‘, lieber Kritiker, die Sache sich nun darauf beruhen. Glaube einfach an deine famose Gewerkschaft, die dich in ihrer Gesellschaft so schätzt, daß sie dir vermittels eines ihrer Bosse sogar einen Antwortbrief schreibt! Danke, danke, danke!

__________
* Bereits im März hatte Kerner den IGM-Standpunkt im Sinne der deutsch-imperialistischen Staatsräson präzisiert: »Für uns war immer klar, wir liefern keine Waffen in Kriegsgebiete. Jetzt liefern wir Waffen in ein Kriegsgebiet in der Ukraine, weil wir das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine auch akzeptieren. Wer das Selbstverteidigungsrecht eines Landes akzeptiert, muß auf der anderen Seite auch sagen: Verteidigen kann man sich nur, wenn man was zum Verteidigen hat. Das ist auch für uns die Argumentation von Waffenlieferungen.« Konkreter Nutzen für den Standort D: »Wenn es eine Bundeswehr gibt, die einen Verteidigungsauftrag hat, dann muß diese Bundeswehr auch vernünftig ausgestattet werden. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Man kauft diese Waffen im Ausland oder man produziert sie selber. Da sind wir der Ansicht, wir sollten diese Waffen selber produzieren. Da haben wir dann auch das Knowhow und die Eigenständigkeit.« (IG Metall-Website, 28.03.24)
 

09.09.2024
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bluete

eu-konkurrenz im Buhlen um die Gunst der USA

koka

 

Die europäische Konkurrenz im
Buhlen um die Gunst der USA

 

Die USA setzen die Vorgaben und die europäischen Mächte fahren darauf ab. Freiwillig, doch mit jeweils eigenen Berechnungen. Diese sind ihren eigenen staatlichen Ansprüchen geschuldet und fallen daher nicht gerade unbescheiden aus. Eine Geschlossenheit der EU-Staaten erweist sich dabei dabei als wenig hilfreich. Jede Demonstration eben solcher Geschlossenheit läßt die Heuchelei unschwer erkennen.

Am trefflichsten wird das ersichtlich im Falle des von der BRD angetriebenen Projekts der Eingemeindung der Ukraine ins EU-Europa. Der damit verbundene Affront gegen Rußland, zu dessen historisch-kulturellen Einflußgebeit jener Staat unzweifelhaft zählt, war ein Unternehmen, sich bei den USA, auf deren Unterstützung Deutschland ja vor allem in Sachen Gewalt angewiesen ist, beliebt zu machen. 
Das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine war 2014 unter Dach und Fach. Der dafür nötige Putsch in Kiew entfachte einen Bürgerkrieg in der früheren Sowjetrepublik ganz im Osten, im Donezk-Gebiet. Und als alle Schlichtungsbemühungen (Minsk I, Minsk II sowie die Istanbul-Verhandlungen, westicherseits sah man sie als Test auf die Nachgiebigkeit Moskaus) letztlich zerschlagen waren
der Westen hatte sie nie ernsthaft betrieben , kam es zu dem, was Rußland um die Bereitschaft zur Deeskalation weiterhin zu zeigen (die freilich im Westen ganz dogmatisch nicht gewürdigt wird) die »Spezielle Militärische Operation (SMO)«​ nennt. 
Damit war klar, daß die BRD auf die militärische Unterstützung der USA für eben diesen Stellvertreterkrieg angewiesen war, den sie eben dann zusammen mit den USA sowie den übrigen NATO-Staaten von ihrer 
»Kiewer Demokratie«​ führen ließen. Das freilich machten die USA nicht so ohne weiteres mit: Schließlich obliegt ihnen in diesem Falle die Federführung. So waren sie es sich schuldig, den Hauptanstifter Deutschland einem Test diesbezüglich zu unterziehen, wie ernst er es denn meine mit dem Krieg gegen Rußland. 
Der Test
und da zeigte sich einmal mehr, daß die USA nie zimperlich in ihrem Vorgehen sind bestand in der Sprengung der Nord Stream Pipelines (2022), zielte also auf fundamentale Abhängigkeit der BRD vom russischen Erdgas. Der deutsche Staat hat den Test in Person seines Bundeskanzlers Scholz glänzend bestanden. Der eilte nämlich schnurstracks nach Washington und demonstrierte herzlichstes Einvernehmen mit dem amtierenden Präsidenten Biden, als wäre nichts gewesen. Mit Fug und Recht kann man in diesem Falle von einer Win-Win-Begegnung sprechen. Im übrigen hegt Präsidentschaftsanwärter Trump nach wie vor Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Bündnispartner, wenn er auf ihren  seiner Meinung nach zu geringen Beitrag zur Kriegsfinanzierung verweist.
Im EU-Rahmen war die BRD nun erst recht obenauf. Sie bestimmte die offensive Stoßrichtung. Das stieß insbesondere in Frankreich auf einigen Widerwillen. Auf der einen Seite konnte und wollte man dort ja nicht aus dem EU-Erweiterungsprojekt auf Kosten Rußlands aussteigen. Auf der anderen Seite war damit das Selbstbewußtsein der Grande Nation angekratzt. Schließlich hat sich der französische Staat seit dem Zweiten Weltkrieg viel auf seine privilegierten Beziehungen zu den USA zugutegehalten, waren es doch hauptsächlich US-Truppen, die die Boches aus Frankreich wieder vertrieben. Gerade so gesehen waren und sind die USA für Frankreich ein Rückenschild gegen Deutschland, dem man bei aller geheuchelten Freundschaft mißtraut. Und wie sich am aktuellen Fall zeigt zurecht: Sollten Deutschlands Beziehungen zu den USA tatsächlich besser sein als die Frankreichs? Klar, daß dann nach Scholz auch Präsident Macron in Washington aufkreuzen mußte. Selbstredend wurde einmal mehr die Einigkeit des Westens beschworen, wofür die jeweiligen Interessensgegensätze ja den Grund abgeben.
Diese Gegensätze sind mit den Einigkeitsbeschwörungen natürlich nicht aus der Welt. Frankreich hat nach dem siegreichen Ersten Weltkrieg maßgebend die Staatenkarte Europas gestaltet. Nun hat die Verlierermacht beider Weltkriege sie umgestaltet, zunächst durch die Zerschlagung Jugoslawiens, wobei Frankreich nicht über eine Zuschauerrolle hinauskam. Und nun die Sache mit der Ukraine, einer Sache, welche die beanspruchte besondere Stellung in Washington zu untergraben droht. Das zu verhindern, ist sich die französische Nation selbstredend schuldig. Da das Aussteigen aus dem Ukraine-Projekt schon allein damit ausgeschlossen ist, versucht man in Paris eigene Akzente in dem Krieg zu setzen. Militärische Akzente mit  besonders beeindruckenden Waffenlieferungen, mit Militärberatern vor Ort, womöglich sogar eigenen Hilfstruppen. 

Sollte der nächste US-Präsident, der ja aller Wahrscheinlichkeit Trump heißt, den Ukraine-Konflikt tatsächlich beenden, dann käme das Frankreich gar nicht so ungelegen. So sieht man es realistischerweise jedenfalls in Beijing — Chinas Präsident Xi Jinping war nicht zufällig kürzlich in Paris, neben Serbien und Ungarn — Ungarns Präsident Orban bemüht sich im Gegensatz zu den übrigen EU-Staaten um eine Beendigung des Krieges  der einzigen Station auf seiner Europareise. Allerdings liegt es, wie gesagt, nicht in Macrons Händen, den Vorreiter einer Konfliktlösung zu machen, da er ja einen offenen Riß mit den USA vermeiden möchte. Außerdem will er den Streit um die Vormacht in der EU nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, was ja einer Schädigung französischer Weltmachtinteressen gleichkäme. 

Auch Italien, die dritte Macht in der EU will sich in der Ukraine-Affäre nicht lumpen lassen und bleibt bei Stange. Und das, obwohl Gerüchte der Ministerpräsidentin Meloni, die aus dem faschistischen Lager kommt, gute Beziehungen zu Moskau nachgesagt haben. Wie dem auch sei, jedenfalls will Italien seine außenpolitische Stellung nicht durch einen Affront gegen die USA, Deutschland und Frankreich schwächen. Davon zeugen zum einen die weiter durchgeführten Waffenlieferungen an die Kiewer von Faschisten maßgeblich gelenkte Regierung, vor allem aber auch der Rückzug aus der von der Vorgängerregierung beschlossenen Teilnahme an der Belt & Road Initiative Chinas. Letzteres ist insofern bemerkenswert, als die USA einen ausgesprochen antichinesischen Kurs eingeschlagen haben. (Auch Faschisten verstehen sich auf staatspolitischen Opportunismus!)

So tief die Gräben der ambitionierten NATO-Mächte sind, so lächerlich ist die Rolle ihrer Vasallenregimes. Diese könnten höchstens zur Kenntnis nehmen, wer die Kosten imperialistischer Bestrebungen zu tragen hat. Ein Aussteigen aus ihrer Rolle ist nichtsdestotrotz nicht erlaubt: Daher ist der ukrainische Präsident permanent auf Bittstellertour. Er spielt diese Rolle großartig.

18.07.24
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bluete

Ankommen und Abholen

koka

 

 

Politiker, Politisierte und der Funktionszusammenhang

Vom Ankommen und Abholen

 

Der Politiker
Der Staat und seine Räson wird in der Politik repräsentiert. Die Träger der Repräsentation sind Personen, die eben die Politik machen, welche dem Staat zu dienen ent- und verspricht. Notwendigerweise eine von ihrer Person und den anderen Angehörigen des Staates abstrahierte Angelegenheit. Politiker laufen deshalb zweigeteilt durch die Welt: Auf der einen Seite sind sie Individuen, auf der anderen Seite eben davon abstrahierte Staatsfunktionäre. Dies zu vermischen ist daher ein großer Fehler, fällt gegebenenfalls juristisch unter den Begriff Korruption und wird, wenn aufgedeckt, entsprechend bestraft.
Wie schwer es Politiker haben, immerzu so gut wie ausschließlich für den Staat da zu sein! Diese Mühsal lassen sie sich daher entsprechend vergüten. Ein Anreiz, sich in die Staatsbelange ganz tief hineinzudenken, ist das gerade dann, wenn man als ein Parteimitglied auf der politischen Karriereleiter nach oben zu klettern strebt. Wenn eine Führungskraft aus der Wirtschaft, ein Kapitaleigner zumal sich herabläßt, in die hohe Politik einzusteigen, dann verdankt sich das einem schier ununterdrückbaren Drang nach Anerkennung in der und durch die Öffentlichkeit. Andere Parteimitglieder verspüren diesen Drang nach Anerkennung nicht minder, wenn sie sich entschließen, Karriere in einer Partei und damit gleichzeitig als Staatsrepräsentant zu machen. Die Bedingung dafür, sich durchsetzen zu wollen, erfordert einige Anstrengung und Skrupellosigkeit. Durchsetzungsfähigkeit wird allerdings als Tugend von der Öffentlichkeit sehr geschätzt. Denn sie wird als Unterpfand der Stärke des Staates betrachtet, einer Stärke, die als allgemein verbindlicher Anspruch außer Frage steht. 
Während sich Politiker in ihrer Partei — zweckmäßigkeitshalber wählen sie die am besten zukunfts- und erfolgsträchtig erscheinende — durchzusetzen versuchen, beginnt gleichzeitig der Kampf gegen die Köpfe der konkurrierenden Parteien um Staatsämter. So ist das jedenfalls in der Herrschaftsform namens Demokratie; in anderen Staatsformen reduziert sich die Karriere auf die Durchsetzung in einer einzigen Partei. Doch wie auch immer die Form der Herrschaft verfaßt ist, ein Politiker nimmt die Staatsräson, die Staatsbelange allenthalben überaus ernst, womit seine andere, rein menschlich-materielle Seite möglichst überhaupt nicht mehr wahrzunehmen ist.
Umso irrer erscheint der Versuch der Medien, gerade dem Privatleben von Politikern nachzuspüren und es an die Öffentlichkeit zu zerren, und zwar zwecks Beurteilung seiner Qualifikation als Staatsmann. Dieses Vorgehen und das so gefundene Urteil — häufig ein bestätigtes Vorurteil — ist dem jeweiligen politischen Standpunkt geschuldet und dem Vergleich der Parteien und Politiker untereinander. Dieser Vergleich ist folglich nie objektiv, er wird ja immer unter dem Objekt, unter der Gürtellinie — der staatsfunktionellen Seite des betreffenden Funktionsträgers — geführt. Natürlich wissen die Politiker darum und sie entziehen der Öffentlichkeit weitestgehend möglich ihre Privatsfäre, in der es ja oft genug so manches zu vertuschen gibt. Ganz anders hingegen treten sie in Wahlkämpfen auf, in denen sie sich als ganz normale Staatsangehörige geben, als Menschen wie du und ich, also Menschen, die mit Politik sich nicht so intensiv abgeben, wenn überhaupt. Diese berechnende Haltung ist, so natürlich sie erscheint, zutiefst verlogen: Sobald sie die Wählerstimmen eingesackt haben und wieder ans Politikmachen gehen, gehen ihnen die Belange ihres Stimmviehs genauso an der Hutschnur vorbei wie zuvor. Als lästig wahrgenommen existiert das Stimmvieh dann einzig und allein als Manövriermasse des Staates und Verwertungsmasse seiner Wirtschaft. Deshalb ist (unter vielem anderem) Arbeitslosigkeit ein staatliches Problem und keines desjenigen, dem dadurch Geld zum Lebensunterhalt fehlt. Die Arbeitslosigkeit hat also zwei Seiten, doch nur eine interessiert den Staat und seine Funktionäre. Wer es nicht wahrhaben will, sei auf das Gezerre um Hartz IV verwiesen, das schönfärberisch in Bürgergeld umbenannt wurde, wobei gleichzeitig die Anforderungen noch funktioneller gestaltet worden sind: Noch schneller werden mittels drakonischen Sanktionen brachliegende menschliche Ressourcen in den Arbeitsprozeß gepreßt, anders ausgedrückt: der Ausbeutung unterworfen. Nach diesem Muster fortschreitender Funktionalität verhält es sich bei sämtlichen schwer umsorgten, als Problem verhandelten Staatsbelangen, mit denen die Politik ihren Beherrschten stets noch mehr abverlangt, zumutet.

Der politisierte Staatsangehörige
Als politisch denkender Mensch hat freilich nicht nur der Politiker die so zwingenden Staatsaufgaben in seinen Schädel eingesogen. Auch der politisierte Staatsangehörige hat gelernt, politisch zu denken. Er versteht sein eigenes materielles Interesse, sein Bedürfnis nach einem angenehmen, sorgenfreien Leben in ein politisches zu verwandeln. Das ist deshalb einfacher zu erreichen, als es erscheint und zwar einfach dadurch, daß er in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Staat und dessen Wirtschaftsordnung gestellt ist. Hans und Gretel brauchen also nur dieses Abhängigkeitsverhältnis von Grund auf mit einem Plus zu versehen. Das gelingt am besten durch einen Vergleich mit früheren Zeiten oder mit anderen Staaten, in denen die Lebensbedingungen schlechter waren beziehungsweise sind. Dieser Vergleich erklärt gleichzeitig den Grad des Nationalbewußtseins. In einem so mächtigen Staat wie den USA ist dies selbst unter den Ärmsten sehr mächtig, so mächtig, daß es geradezu als ein Zufluchtsort der bedrängten Kreatur bezeichnet werden kann. Wenn das Nationalbewußtsein einmal solches Ausmaß erlangt hat, hält der Staat selbst den Schein von sozialer Sorge für ziemlich überflüssig  — selbst der Ärmste hat doch schon alles, was er aus Staatssicht einzig und allein benötigt, nämlich das richtige Bewußtsein, das, einem erfolgsgesegneten mächtigen Staat anzugehören.
Angehörige weniger mächtiger Staaten dürfen dann ausnahmsweise auch mal jauchzen, dann, wenn ein nationaler Erfolg erreicht wird. So wird für sie charakteristischerweise der Beitritt des Staates, dessen Angehörigkeit sie besitzen, zu einem Staatenblock als ein persönliches Erfolgserlebnis verbucht. Man denke an all die NATO-, EU- und Euro-Staaten, für die so viele gerade in Süd- und Osteuropa (doch nicht allein dort) sich begeistern, auch wenn sie für ihre Person schauen können, wie sie sich mit den vorherrschenden Lebensbedingungen herum- und Tag für Tag durchschlagen können. Ihre Gesundheit, die dabei allenthalben notwendigerweise ruiniert wird, schadet dabei ihrer national bewegten Laune nicht, ganz im Gegenteil. So denken sie auch nicht über ein staatlich eingerichtetes Gesundheitswesen nach, dem sie zwangsläufig früher oder später anheimfallen und das bekanntlich nicht so kostenlos ist wie das auf Kuba. Nationalflaggen allüberall selbst am Krankenbett, das gefällt der Politik: Sie weiß die Politisierung ihrer Untertanen, hofierend »Bürger« genannt, sehr zu schätzen! 

Diese Abstraktionsleistung von ihren eigenen Bedürfnissen, die die Politik so zu schätzen weiß, ist dennoch nicht ganz so einfach zu haben, wie es zunächst scheint. Sie erfordert nämlich eine Verschiebung der Bedürfnisse auf die Bedürfnisse, die in einer so fortgeschrittenen Gesellschaft notwendig sind, um sich nicht bloß über Wasser zu halten. Als Gesellschaftsmitglied will der Mensch anerkannt sein. Dies ist unabtrennbare Voraussetzung seiner Politisierung. Er braucht dies und das. Er braucht nicht bloß Essen und Trinken, sondern besseres Essen und Trinken. Er braucht nicht nur ein Obdach, sondern eines, das sich sehen lassen kann. Er braucht ein eigenes, möglichst attraktives Fortbewegungsmittel, nicht bloß ein öffentliches, und nicht bloß, um an den Arbeitsplatz zu kommen. Er braucht nicht bloß ein Festnetztelefon, sondern möglichst das neueste smarteste Handy, das ihm das Profitinteresse der anderen Seite anrät. Er braucht nicht nur einen Urlaub im engeren europäischen Umkreis, sondern verlangt danach, die Welt zu bereisen. Usw. usf. Objektiv betrachtet, hält er das für eine ihm zustehende Ent-Schädigung, was er sich jedoch selber nicht eingesteht! Jedenfalls ist das heutzutage allenthalben Benötigte ganz im Sinne einer staatsstabilisierenden Denkweise geradezu geboten. Denn damit hält er, der Untertan der er ist, sich mittels seines Bewußtseins am Leben eines brauch- und verbrauchbares Rädchens und dient dem Staat, oft genug sogar dadurch, daß er seine Arbeitskraft verstärkt einsetzt, um all das zu erlangen, was ohne diesen zusätzlichen Verschleiß außerhalb des Bereichs seiner Möglichkeiten läge. Dem Staat wiederum ist es egal, ob der Staatsbürger Aufwand und Ertrag für sich richtig abzuschätzen weiß oder ob der sich darob Selbsttäuschungen hingibt. Sollte er seinen Selbsttäuschungen erliegen, fällt er ja doch wieder auf den Staat zurück, auf ein im Staats- wie Wirtsschaftsinteresse fungibles Gesundheitswesen zum Beispiel. Und da ist es dem Staat und seiner Politikerriege dann wiederum schnuppe, ob der Getäuschte den jeweiligen Behandlungsladen relativ gut findet oder auf ihn schimpft, wenn er sich eine bessere = teurere Therapie nicht leisten kann. Warum auch sollte Politiker es scheren, ob jemand Opfer seiner Illusionen geworden ist?

Gut, der Mensch als Staatsangehöriger ist ja längst da angekommen, wo er nach Meinung der Staatsverantwortlichen hingehört. Und genau dort holen sie ihn auch regelmäßig ab: Im alltäglichen Existieren unter den eingerichteten Zuständen. Dazu muß nicht einmal eine gute Miene gemacht werden, wenngleich »Optimismus« gewünscht und propagiert wird. Für die gute Laune sorgt überdies ein riesiges Unterhaltungsangebot. Das schließt außer zu den wohlgesehenen Geschäftszwecken den Nutzen ein, daß die verehrten Bürger auch in der arbeitsfreien Zeit nicht zum Nachdenken, nicht auf dem »Gemeinwohl« abträgliche Gedanken kommen [Kennzeichnenderweise ist »Shopping« nicht nur das systemgerechteste Angebot, es ist statistsch auch das längst am zweithäufigsten genannte Hobby (mit über 25% laut Allensbach)] und sich mit einer nüchternen Bestandsaufnahme ihrer eigenen Lage befassen, und zwar hinsichtlich der Staatsordnung, mit deren Zumutungen sie sich in mehrfacher Hinsicht herumschlagen müssen.
Auf solch unerwünschte Idee müßte man selber kommen, denn der Staat bietet dafür selbstverständlich keinerlei Handreichung. Im Gegenteil, er bestätigt sein menschliches Inventar in jeder Täuschung, der es sich hingibt. Die fundamentalste aller Täuschungen ist die, zu glauben, der Staat wäre für einen selber da (oder hätte grundsätzlich diese Aufgabe). Der Staat will die Getäuschten ja gerade da abholen, wo er sie hingestellt hat. Vorhersehbarerweise werden sie ja da dann auch abgeholt und zwar so, daß sie darüber erfreut sein können: Wenn Politiker Bürgernähe demonstrieren: Halleluja! Das ist ja fast wie in der Kirche, wohin der allmächtige Heiland die braven unschuldigen Kinderlein einlädt.

Funktionieren als Zweck
Wie man sieht, erzieht der Staat seine Bürger zu Ignoranten ihrer objektiv vorhandenen Lage. Funktionieren das heißt, die Staatsmaschinerie in all ihren Abteilungen am Laufen zu halten, möglichst reibungslos versteht sich. »Funktionieren« unterstellt schon all die Inhalte, die Staatsziele und Staatsaufgaben, die funktionieren müssen. Die stehen außer jedweder Diskussion »Funktionieren« müssen sie und »funktionieren« müssen daher alle; alle müssen deshalb an einem Strang ziehen; die Volkseinheit wird mit dem nationalen »Wir« eins ums andere Mal beschworen und vor »Spaltern« eindringlich gewarnt. Das alles hat sich auch jeder Kritiker zu Herzen genommen, wenn er kundtut, daß dies oder jenes gar nicht oder nicht richtig gut funktioniert: Er gibt kund, wie es funktioniert oder besser funktionieren könnte. Das versteht man von Staatsseite aus betrachtet als erfolgreiche Erziehung zur »Kritikfähigkeit«. In seiner Dogmatik wird damit der Staat samt seiner Räson wunderbar bekräftigt, er enthebt sich jeder auch nur denkbaren Kritik!

Ignoranz gegenüber dem Staat als solchem soll jedenfalls nicht als solche verstanden werden. So ist es im übrigen auch keineswegs dysfunktional, wenn getrickst wird und beispielsweise Doktorarbeiten abgekupfert werden. Schließlich ist noch keinem Fälscher vorgeworfen worden, er hätte sich daran verbrochen, funktionstüchtig und kritikfähig zu sein. Tricks unterstreichen ja gerade den Willen eben dazu! Ein Typ wie der im »Faust«, der behauptet, alles Mögliche studiert zu haben und so klug wie zuvor geblieben zu sein, schützt Erkenntnisinteresse vor, insofern er erfühlt hat, daß das ja gar nicht gefragt ist — es kommt vielmehr darauf an, sich aufzublasen, worin Herr Goethe selber ja ein Meister war (weshalb er über alle Staatsformen hinweg bis heute hoch verehrt wird). In Fachbereichen wie Jura und Theologie geht es mit Sicherheit nicht um Erkenntnisse, in den anderen Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nicht minder. Welch uferloses Zeug da gelehrt und gelernt wird, Touristik beispielsweise! Dort kann man dann vielleicht etwas über das Klima in Bangla Desh erfahren, ein bislang touristisch nicht erschlossenes, aber möglicherweise umso geschäftsträchtigeres Reiseziel! Es gibt kaum einen Studenten, der mit einem anderen Gedanken die Hochschule betritt als den, sich als funktionsfähiges Tool irgendwo und irgendwie im Getriebe des Staates und seiner profitorientierten Wirtschaft zu etablieren. Und mit Erreichen dieses Ziels nach der Anerkennung heischt, die ihm sowohl der Staat wie die analog tickenden Mitbürger allüberall versprechen.
Schon Spinoza hatte erkannt, daß die von Staats wegen eingerichteten Universitäten zur Beschränkung und nicht zu Erweiterung des Denkens gegründet sind (Abhandlung des Staates, § 49). Wen sollte es da verwundern, wenn gerade an den Führungspositionen von Staat und Gesellschaft lauter »Experten« — autorisierte Fachleute, Leute mit entsprechenden Zeugnissen — zugange sind? Daß die Kompetenz eines solchen angezweifelt wird (von Konkurrenten einerseits, von politisierten Außenstehenden andrerseits), ist das Blödeste, was einem, der sich selber als Profi versteht, widerfahren kann. Ein Beispiel: Ein Verteidigungsminister muß sich auf Gewalt verstehen, muß Frieden sagen können, wenn er Erpressung und Krieg meint, muß Aufrüsten, wenn er als Friedenspolitiker verstanden werden will. Ansonsten kann er seinen Hut nehmen (gilt gleichermaßen für das gleichberechtigte weibliche Geschlecht); Beispiele kennt jeder Zeitungsleser.

Wenn jemand daran denkt, sein privates Leben komplett zu verpfuschen  — was, wenn bei einem Einstieg in die Politik oder in die Bundeswehr, schon als ziemlich gelungen angesehen werden kann —, dann gebührten ihm Orden und bei seinem Ableben erhält er nach Rang auch ein Staatsbegräbnis. Höhere Staatsfunktionäre kriegen außerdem Skulpturen oder zumindest Straßennamen verpaßt; Soldaten zum Pack gebündelt Veteranentage und Kriegerdenkmäler. Denn in all solchen Fällen ist die Gleichsetzung von Person und Funktion sichtbar optimiert. Damit soll nicht ein mit funktionell eingesetzter Intelligenz vergeudetes Leben kundgetan werden, vielmehr ein solches als etwas anderes, als ein gesellschaftsnützliches für alle Ewigkeit gewürdigt sein. (Im übrigen ist der Gedanke, eine solchartige Intelligenz mit einer künstlichen zu ersetzen geradezu auf der Hand liegend.)

Fazit:
Wer den Staat und seine Bürger nun nicht endgültig voll geil findet, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen. Also schwenkt eure schwarz-rot-goldenen Fähnchen, sauft euch die Hucke voll (heißer Tip: Kann man bei der BW lernen!) und bleibt so funktionell, wie ihr selber es sein wollt und wie euer vielgeliebter Staat euch zu schätzen, weil in die Pflicht zu nehmen weiß. Denn euer Denken macht zwar nicht den Erfolg des Staates aus, wohl aber stellt es diesen Erfolg unter Beweis!

21.06.2024
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us-imperialismus-israel

koka

 

Muster & Methode des US-Imperialismus
und sein Spezialfall Israel

 

Nun ist es kein Geheimnis, daß die USA andere Staaten und deren Menschenmaterial für ihre Interessen, für ihre Weltdominanz einspannen. Da mag sich wer auch immer wunder welch eigene Interessen ausmalen, er sieht sich mit den Interessen der USA konfrontiert. So setzen nicht wenige darauf, mit den USA, mit deren Hilfe ihre eigenen Interessen voranzubringen, gerade in der »Dritten Welt« ein nicht selten vorgefundener Standpunkt. Ein Standpunkt, der sich oft genug überhaupt nicht leicht ent-täuschen läßt. Man denke nur an die Kurden in Syrien und im Irak, die seit Jahren für einen eigenen Staat kämpfen.
Ein vergleichsweise neuer Fall sind die muslimischen Rohingya in Myanmar, als deren Protegé nun die USA auftreten*, weil ihnen die Militärregierung in Rangun nicht paßt. Eine Karikatur von Luo Jie aus 2014 zeigt den Fall im Nachbarland Thailand. Und eine ganze Reihe weiterer Staaten, deren Regierungen auf die USA setzen, als hätten sie — ihr Regierungspersonal ausgenommen — je von ihnen profitiert. Wie diese Staaten und insbesondere ihre Staatsbürger dabei auf ihre Kosten kommen, sieht man nicht immer so drastisch wie im Augenblick in der Ukraine und vormals in Vietnam, es sei denn man kommt einmal mehr auf den Hunger in der Welt zu sprechen. Die USA sind die letzten, die ihn bekämpfen. Weizensäcke liefern sie nur gelegentlich und das ausschließlich nach ihrem politischen Interesse: Die USA nutzen in solchem Falle gnadenlos die Not, die sie mit ihrer an Kapitalverwertung orientierten Weltordnung selber geschaffen haben, aus, um sich als Retter aufzuspielen. Und das unter den unumstößlichen Dogmata von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Was die USA allerdings nie daran gehindert hat, Diktaturen zum Bündnispartner zu haben. Menschen- und Völkerrechte (inklusive internationaler Gerichtshöfe) und Wahlergebnisse zählen für sie ohnehin nur, wenn es ihnen in den Kram paßt — eine verlogene Rechtfertigung finden sie dabei allenthalben. Rassistisch wie sie sind, gelten konsequenterweise nur ihre engeren Verbündeten** als zivilisiert. Nichtsdestotrotz werden auch sie mit allen Raffinessen moderner Technik überwacht. Fliegen Cyberangriffe auf, werden sie flugs Rußland und China in die Schuhe geschoben. Dabei wissen alle Computerfreaks, wie schwer oft solche Angriffe auf ihren Ursprungsort zurückzuverfolgen sind.***

Der Zionistenstaat Israel hat seine Abhängigkeit von den USA begriffen, eben auch und gerade die negative Seite, die nämlich, nach der er als Stützpunkt, als unsinkbarer Flugzeugträger und jederzeit verheizbares Material gegen jeden arabischen und muslimischen Feind der US-Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten zu dienen hat und benutzt werden kann. Dementsprechend baut Israel seit jeher nicht allein auf die HIlfe der USA. Es meldet eigene Ansprüche an — gegen die USA. Sein Vorwurf lautet, daß die USA Israel nie richtig verstehen und sich deshalb nie richtig, also in ihrem Sinne für sie sich stark machen und einsetzen: Sie, die USA, sollen immerzu beweisen, daß sie Israel verstehen und seine Wünsche erfüllen. Die USA ihrerseits tun das Nötige, so daß Israel daran ebenso fortwährend glauben wie (ver)zweifeln kann.

Als Donald Trump Präsident war, zerriß er 2018 das zuvor von der Obama-Regierung ausgehandelten Atomabkommen mit dem Iran und setzte die Sanktionen gegen ihn wieder ein. Das war ganz im Sinne Israels, freilich den Zionisten nicht genug. Die Ermordung des iranischen Generals Qasem Soleimani im Jahre 2020 war ein weiteres Entgegenkommen gegenüber Israel, freilich blieb auch dies darauf kalkuliert, es nicht zum Krieg mit dem Iran kommen zu lassen. Doch ein faschistischer Staat sieht sich selber immer im Krieg, den er ja auch permanent gegen die ihn störenden Palästinenser und weit darüber hinaus führt. Seine regelmäßigen Luftschläge gegen Ziele in Syrien passen den USA sehr wohl ins Konzept, da in Damaskus eine ihnen nicht willfährige Regierung die Macht innehat. Über den Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus wurden die USA im voraus nicht informiert. Nichtsdestotrotz erhoben sie im nachhinein keinerlei Einwände, wiewohl auch dieser Angriff ihrem Interesse nicht widersprach. (Wer beweist mehr Weitsicht: Die USA oder der Karikaturist Pang Li in der China Daily im Jahre 2012?)

Sein jüngster Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser und ihren politischen Arm, die Hamas — übrigens per demokratischer Wahl vorbildlich legitimiert! —, im Gaza-Streifen ist ein neuerlicher Affront gegen die USA: Auf welcher Seite stehen diese und wie beweisen sie das? Die USA lassen sich nicht lumpen und schicken umgehend jede Menge Waffen in das ohnehin vor Waffen strotzende Israel. Dann schicken sie ihre Kriegsschiffe aus, um Mittelmeer und Rotes Meer zu kontrollieren. Sie lassen gleichzeitig eine internationale Propagandalawine zugunsten Israels anrollen, wie gewohnt unter Zurhilfenahme des einmal mehr mißbrauchten Begriffs »Antisemitismus«. Doch all das reicht Israel nicht. Anders als nach den Anschlägen in den USA im September 2001 sieht es nicht seinen Hauptfeind in al Qaida**** und im Irak —  gegen den dann ein auf Lügen basierter Krieg begonnen wurde (der so leichenträchtig wie er war, als Genozid bezeichnet werden kann!) —, vielmehr im Iran und seinen Verbündeten im Libanon und im Jemen, worauf sie mit dem tödlichen Luftangriff auf die iranische Botschaft in Damaskus (April 2024) aufmerksam machen, welchen die USA nicht verurteilten, worauf Israel ja zählte. Und nach dem Muster der Ermordung von Osama bin Laden und Mitbewohnern (noch unter Präsident Obama, 2011) und des iranischen Generals Qasem Soleimani und seinen Begleitern (2020) — der übrigens auf dem Weg zur einer Friedenskonferenz in Bagdad unter Teilnahme Saudi-Arabiens war (was den USA natürlich überhaupt nicht paßte!) —, kommt seltsamerweise der iranische Präsident Ebrahim Raisi bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben (Mai 2024)*****. Die Ursache des Absturzes liegt bis heute im dunkeln. Man kann sich freilich gut vorstellen, welche Kreise in Israel — ähnlich den Mossad-Leuten 2001 in NYC**** — gejubelt haben.
Man kann sich natürlich fragen, wie lange die Supermacht sich noch von den Zionisten auf der Nase herumtanzen lassen will. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, daß Israel sich eine Einflußzone in den USA selber geschaffen hat******. Einen Einfluß, der über sehr viel Geld und damit auch immer über die nötigen Staats- und Mittelsmänner in den verschiedensten Anstalten verfügt. Die USA sehen sich gezwungen, mit Israel kalkulierter umzugehen als mit kaum einem anderen »Partner«. Nutzen und Verdruß, das zeigen sämtliche Aktionen und Reaktionen der USA, stehen auf der Waage. Ihre imperialen Interessen natürlich nicht, die setzen sie durch und gehen dabei über Leichen, so wie sie es sich schuldig sind.
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* Die Recherchen zu den Umtrieben der USA in Südostasien ist dem in Thailand lebenden Journalisten Brian Berletic zu verdanken (siehe seine Südostasienbeiträge in seinem Kanal The New Atlas auf youtube).
** Inwieweit ein auf eigenen Nutzen gesetzte Berechnung gegen die USA ins Spiel gebracht werden kann, daran kommen mittlerweile im Falle der BRD Zweifel auf. Kein Wunder, daß in einem solchen Falle eine Opposition entsteht, die an der Staatsräson rüttelt, deren Protagonisten ihrerseits unumstößlich an ihrem Weltbild und ihren Dogmata eisern festhalten. Dafür veranstalten sie sogar Demonstrationen unter dem Vorwand des Antifaschismus.
*** KoKa hat das mal versucht und hat festgestellt, daß der Angriff nie aus dem Staat kam, der als Urheber auftauchte. In aller Regel war der Ausgangspunkt in den USA und es erfolgte eine mehrmalige Umleitung nicht selten um den ganzen Erdball. Wofür unterhalten die USA auch ihre riesigen Geheimdienstapparate, in die sie Jahr für Jahr Milliarden Dollar stecken? Dazu kommt, daß private Firmen wie u.a. Microsoft und Apple dem Staatsapparat zuarbeiten.
**** siehe hierzu, den mit umfangreichen Beweismaterial versehenen Film von Ryan Dawson »The Empire Unmasked«. Das ambivalente Verhältnis zwischen den USA und Israel verdient die Aufmerksamkeit, die es nach vorherrschender Meinung gar nicht haben soll!
***** Diese musterhafte Reihung artikuliert zum Beispiel Max Blumenthal.
****** Siehe dazu ein Interview mit dem Rapper Lowkey auf dem youtube-Kanal von BreakThrough News.

09.06.2024
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verlogen gegen Antisemitismus

koka

 

Die Stadtväter Augsburgs beweisen die Dummheit der deutschen Staatsräson

Der verlogene Kampf gegen den Antisemitismus

 

Ludwig von Fischer war von 1866 bis 1900 Erster Bürgermeister von Augsburg. Der Straßendurchbruch vom Moritzplatz zum Königsplatz erfolgte unter seiner Amtszeit. Deshalb heißt diese Straße bis heute Bürgermeister-Fischer-Straße.
Jener Fischer war ein Ultranationalist und gehörte als solcher dem Alldeutschen Verband (ADV) an, zeitweise sogar als Vorstandsmitglied. Dieser Verband drängte auf einen erneuten Krieg gegen Frankreich um die imperialisitissche Vorherrschaft. Er war zutiefst judenfeindlich, also antisemitisch gesonnen.
Das wurde dem Herrn Bürgermeister bis heute nicht übel genommen. Sein Grabmal auf dem Katholischen Friedhof an der Hermanstraße läßt sich die Stadt Augsburg auch heute noch jahraus jahrein eine hübsche Blumenbepflanzung kosten.
Angesichts des Gebrauchs bzw. besser des Mißbrauchs des Antisemitismus zur Rechtfertigung des Genozids des Zionistenstaats Israel an den Palästinensern in Gaza plakatierte die Stadt Augsburg Kampfplakate gegen den Antisemitismus nun in der Innenstadt, unter anderem auch in der Straße des Antisemiten Ludwig von Fischer.
Jede/r kann sehen, daß es gar nicht um einen Kampf gegen den Antisemitismus geht, sondern um einen Kampf zur Rechtfertigung der Machenschaften des Staates Israel, der mit seinem Genozid in die Fußstapfen der NSDAP tritt. Zu jenen Vorläufern der NSDAP zählt selbst bürgerlichen Professoren zufolge der ADV.

Ein weiterer glühender Nationalist, Anhänger des NSDAP und selbstredend antisemitisch gesonnen, war der Musikkomponist Werner Egk. Dem Musikkritiker Konrad Boehmer zufolge war er »eine der übelsten Figuren nationalsozialistischer Musikpolitik«. Nach ihm ist ein Weg und gar eine Schule im Augsburger Stadtteil Oberhausen benannt. Vor rund zwei Jahren entspann sich eine Diskussion darum, ob die Schule nicht umbenannt werden sollte. Alle Versuche wurden seitens der städtischen Obrigkeit niedergeschlagen, die Augsburger Tagespresse billigte das: Hauptsache es herrscht wieder Ruhe — Antifaschismus kann nicht gelitten werden!
Egk stand mit den NSDAP-Funktionären auf Du und Du und widmete dem Reich seine Kompositionen. Er wurde nie als Kriegsverbrecher verurteilt. Im Gegenteil: Noch lange im Nachkriegsdeutschland wurde er auf Notenheften für Schulen in einer Reihe mit den klassischen Komponisten wie Beethoven, Händel etc. genannt und zwar als einziger noch lebender! Mehr über diese faschistische Ekelfigur, seine NS- wie seine nicht minder ruhmreiche Nachkriegszeit findet sich auf wikipedia ausführlich eingetragen.

Unschwer zu beurteilen, wie verlogen der deutsche Kampf  gegen den Antisemitismus ist! Ein Kampf bis auf die unterste politische Ebene, der die Wichtigkeit dieser Lüge beweist!

07.06.2024
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linke Desorientierung

koka

 

Linke Desorientierung

 

Nun haben es nur wenige linke, das heißt antikapitalistische und antiimperialistische Zeitungen und Zeitschriften ins 21. Jahrhundert geschafft. Und unter denen, die es geschafft haben, ist kaum noch etwas übrig geblieben, was diesen Begriff verdient. Diese Tatsache enthüllt, daß es mit dem seinerzeitigen kritischen Verständnis der Welt auch nicht allzuweit her sein konnte: Wie sonst hätte die Adaption an die bestehenden Verhältnisse passieren können? Ja, nicht einmal eine notwendige Spaltung in den Redaktionen hat es gegeben, es wäre das ja nicht zu übersehen gewesen. Allein der ein oder andere mag klammheimlich abgesprungen sein, bemerkend nicht die Mittel zu haben, den fahrenden Zug des Opportunismus aufhalten zu können. 
Nun ist allerdings nichts als ein knallhartes Kontra notwendiger denn je: In Zeiten laufender imperialistischer Kriege (speziell die gegen Rußland und gegen die Palästinenser) und in Vorbereitung begriffenen imperialistischen Kriege (speziell die gegen Nord-Korea sowie gegen China u.a. wegen seiner Insel Taiwan); in Zeiten der kriegs- wie kapitalnotwendigen Verarmungspolitik.
Man könnte ja darüber diskutieren, wie, mit welchen Mitteln, mit welchen Argumenten den herrschenden Zuständen entgegengetreten werden kann. Allein schon das erweist sich als schwierig, wenn zum Beispiel Leserbriefe wie dieser unter den Tisch der monatlich erscheinenden Zeitung analyse & kritik (ak; vormals Arbeiterkampf) fallen: 

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LESERBRIEF zu »Multipolare Weltunordnung«*​ (ak 701)
[vom 28.03.2024]

Was ist die Absicht, einen solchen Aufsatz in der ak zu veröffentlichen, noch dazu an herausragender Stelle, auf der Titelseite? Will die ak jene eindeutig proimperialistische Stellungnahme ihrer Leserschaft als irgendwie links, als Arbeiterkampf nahelegen? Wenn dem so ist, zeigt das nicht nur eine Fehleinschätzung ihrer Leser, vielmehr stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die Redaktion statt Klarheit Verwirrung stiften möchte?
Der Eindruck, daß viele Linke gar nicht (mehr) wissen, wo der Feind steht, ist ohnehin erschreckend. Dabei ist es doch auf der Hand liegend, daß die Aggression vom Westen ausgeht, der so frei ist, die Ukraine dem russischen Einfluß entziehen zu wollen, und somit Rußlands Interesse herausfordert, und zwar so, daß deren Staatsführung sich zu einer Reaktion gezwungen sieht, will Rußland nicht selber zu einem Erfüllungsgehilfen westlicher Interessen degradiert werden. Dieses käme ja einer Selbstaufgabe seiner Macht gleich. —
Anstatt sich in die zwischenstaatlichen Belange einzumischen und Partei zu ergreifen, wäre es da nicht angebracht, zu überlegen, wie eine Katastrofe verhindert werden kann, wie Krieg überhaupt verhindert werden kann? Dem fehlt nämlich der Bremsklotz mehr denn je, nachdem die soziale Frage von nationalen Antworten dahingerafft wurde (das BSW dokumentiert das ganz aktuell). Die Arbeiterklasse im Westen, potenziell in der Lage, den imperialistischen Ansprüchen der G7-Staaten entgegentreten zu können, könnte auch für eine Entlastung der Arbeiterklasse in Osteuropa sorgen. Woran es schechthin fehlt, ist ein Klassenbewußtsein. Auch in Rußland, wo gar ein faschistischer Hochstapler als Hoffnungsträger betrauert wird (ak 702) und die dahinsiechende Kommunistische Partei längst (beginnend schon mit Stalin) eine Bankrotterklärung bezüglich einer Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse abgegeben hat, was offenkundig jenen Kommunisten nicht einmal aufzufallen scheint.
Freilich, jener reaktionäre Beitrag in der ak bestätigt die herrschenden Zustände und redet einer unipolaren imperialistischen Weltordnung das Wort, in völliger Übereinstimmung mit den amtierenden Charaktermasken in Nordamerika und Westeuropa, gleichgültig dagegen, wieviel diese kapitalistische Ordnung der Arbeiterklasse als staatlicher Manöriermasse an Kosten aufbürdet.
Kurzum, jene antirussische Hetzschrift, ist nun wirklich nicht geeignet, »linke Diskurse wieder in die Breite zu bringen«, wie das ein Leserbrief (in ak 702) der ak als Absicht zugutehält

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* Im übrigen ist der kritisierte Artikel bei weitem nicht der einzige, der kritikwürdig ist. 

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deutscher Imperialismus am Beispiel Marokko

koka

 

Der deutsche Imperialismus am Beispiel Marokko
unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Sozialdemokratie auf ihrem Weg zu seiner Speerspitze

 

Im Januar diesen Jahres besuchte Entwicklungsministerin Svenja Schulze von der SPD Marokko. In der längst eingerissenen Art, mit als minderwertig eingestuften Staaten umzugehen, verlangte Sie, Marokko möchte Fachkräfte nach Deutschland kommen lassen. Im Gegenzug solle es bereit sein, die für nichtsnutzig erachteten, Hunger leidenden Flüchtlinge zurückzunehmen. Menschenrechtliche Vorhaltungen waren bei dieser befreundeten Diktatur selbstverständlich nicht angebracht. Der Rassismus der Bundesministerin steht übrigens in der schönen Tradition eines früheren SPD-Parteiführers namens Bebel, doch dazu, zu dessen Rede weiter unten.

Wer sich erinnert: Im Rahmen des ›Arabischen Frühlings‹ im Jahre 2011 – exakt 100 Jahre nach der 2. Marokkokrise, auf hier gleich eingegangen werden soll – gab es auch in Marokko einen Aufstand gegen das Regime, der freilich weder vom ›Freien Westen‹ inszeniert noch unterstützt wurde und daher auch rasch niedergeschlagen werden konnte, sehr zum Wohlgefallen unter anderem auch der mit dem Regime solidarischen deutschen Regierung und ihrer kongenialen Öffentlichkeit.
Nun hat es ja sein Gutes, daß ein ambitionierter Staat wie die Bundesrepublik in Rabat wie in anderen afrikanischen Staaten einen autokratisch regierenden Vasallen (samt einer ihm verpflichteten formellen Regierung) sitzen hat, der deutsche Anträge versteht und wohlwollend, das heißt auf Kosten seiner eigenen Bevölkerung und der der Entwicklung des Landes – wie sollte es sich entwickeln, wenn man die Fachkräfte abwandern läßt? Oder soll mit dem Entwicklungsministerium gar Deutschland entwickelt werden? — das umzusetzen verspricht, was von ihm gefordert wird.

Das war nicht immer so. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war Marokko sehr umstritten. Zwar gab es auch damals einen Sultan, aber um den hatten sich die imperialistischen Staaten nicht groß geschert, wie sie sich ja überhaupt über die Köpfe der Afrikaner hinwegsetzen zu können glaubten. Kurzum, Afrika war damals aufgeteilt, hauptsächlich unter die beiden Großkolonialisten Großbritannien und Frankreich. Deutschland hatte ebenso große Ansprüche, wähnte sich aber gegenüber den anderen bei der Aufteilung jenes Kontinents zu kurz gekommen zu sein. Jedenfalls erachtete dies das deutsche Kaiserreich damals für einen nicht länger hinnehmbaren Zustand. Marokko, auf das Frankreich nächstliegende Ansprüche erhob – es hatte Westafrika ja größtenteils unter seiner Kontrolle, sollte, so Deutschland den Franzosen keineswegs überlassen werden. Es war Krieg zwischen Deutschland und Frankreich zu befürchten, da keine Seite nachgeben wollte. Am 3. April 1906 einigten sich schließlich die Parteien – neben Frankreich und Deutschland waren auch Spanien, Großbritannien, die USA, Österreich-Ungarn, Italien, Rußland, die Niederlande sowie Marokko selber vertreten –, den Krieg dann doch scheuend im Vertrag von Algeciras nach langwierigen Verhandlungen. Rein formell wurde Marokko Souveränität zugebilligt, die dort verfügten Reformen wurden unter internationale Aufsicht gestellt, die organisierende Polizei wurde an Frankreich und Spanien übertragen. Internationale Handelsfreiheit wurde sichergestellt und zwar ›gleichmäßig‹, was heißen soll: auf alle Staaten entsprechend verteilt. Die Aufsicht darüber wurde einem diplomatischen Korps in Tanger übertragen. Dieses Ergebnis war für die deutschen Ansprüche selbstredend ziemlich erbärmlich.

Und so dauerte es nicht allzu lange, bis es zur 2. Marokkokrise kam. Im April 1911 kam es ob der Eintreibungen von Tributen zu Unruhen durch Einheimische. Deshalb nahm Frankreich eine Expedition in die damalige marokkanische Hauptstadt Fez [auch geschrieben: Fès] vor (Einmarsch am 21.05.), gleichzeitig beschwichtigend, es handele sich nicht um eine Verletzung des 1906 geschlossenen Vertrags. Das sah man in Deutschland anders, zumal Frankreich zunächst keinen Rückzugstermin bekannt geben wollte und später Ausbilder für die marokkanischen Streitkräfte im Lande behalten wollte. Daraufhin wurde der Panzerkreuzer ›Panther‹ vor den besten Atlantikhafen Marokkos, Agadir, geschickt (später abgelöst durch einen namens ›Berlin‹). Nach langwierigem internationalen Gezerre wurde letztendlich noch einmal ein Krieg verhindert. Deutschland erkannte Marokko am 04.11.2011 als Protektorat Frankreichs an und erhielt im Gegenzug ein beträchtliches Gebiet des französischen Kongos – welches die deutsche Kolonie Kamerun, die daran anschloß, fast verdoppelte –, wenngleich der wirtschaftliche Nutzen wenig vielversprechend erschien. Außerdem erhielt es ein Vorkaufsrecht auf das spanische Guinea (heute: Äquatorial-Guinea). Es war einmal mehr klar, daß, wiewohl Deutschland nicht leer ausgegangen war, das für mager angesehene Resultat die Empörung deutscher Nationalisten hervorrief. 

Und damit wären wir bei der innenpolitischen Auseinandersetzung in Deutschland. Der Schriftsteller Arthur Zapp, ein aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens, hat gerade angesichts der immensen Kriegsgefahr anläßlich der Marokko-Krise einen aufschreienden Roman verfaßt. Der war so antinationalistisch und antimilitaristisch, daß er nur unter einem Pseudonym (V. E. Teranus) veröffentlicht werden konnte (Verlag Continent G.m.b.H. Berlin W 50). Die Schrift trägt den Titel ›Der letzte Krieg‹: Damals nahm Zapp an, daß die Menschheit mit dem anstehenden Krieg noch zur Einsicht kommen könnte. Dies hatte er dann nach dem Weltkrieg revidiert, er hielt noch zwei weitere Weltkriege für nötig, wie er in seinem der Zukunft gewidmeten Roman ›Revanche für Versailles! – Eine Zukunftsvision (1924)‹ kundgab. ›Der letzte Krieg – ein Zukunftsbild‹ wurde während Beendigung der 2. Marokkokrise geschrieben, vielleicht auch schon vor der sich zusammenbrauenden Krise (im Buch selber ist keine Jahreszahl enthalten). Das Werk stellt einen eindringlichen Aufschrei gegen die Kriegshetze in Deutschland dar. Gerade deshalb verdient es noch heute angesichts von Aufrüstung und Kriegshetze, der Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und an Diktatoren, ja selbst der Kanonenbootpolitik (jüngst im Roten Meer) der deutschen, sozialdemokratisch geführten Regierung höchste Relevanz!

Hier seien zwei Kapital des heute nicht mehr erhältlichen Romans dokumentiert, und zwar der 1. Abschnitt des 2. Kapitels mit der Rede des Reichskanzlers (Theobald von Bethmann Hollweg) und der Gegenrede von August Bebel, dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten sowie das 3. Kapitel mit der sozialdemokratischen Parteiversammlung, in der der Referent den Opportunismus Bebels zerlegt.
Bei dem Kritiker sei angemerkt, daß, wiewohl er an Schärfe nichts zu wünschen übrig läßt, doch einige schwache Stellen erkennbar werden: So verteidigt er den Rechtsstaat in seinem Verständnis als einen Gegensatz zum Militarismus – ein solches Mißverständnis kann heutzutage sicher nicht mehr aufkommen. Zum anderen spricht er immer vom ›Volk‹, wiewohl er die Arbeiterklasse meint. Damit bestätigt er den Wunsch nach einer dezidiert proletarischen Führung, anstatt – er zitiert immerhin das ›Kommunistische Manifest‹ – der Emanzipation der Arbeiterklasse das Wort zu reden.
Nichtsdestotrotz ist die Auseinandersetzung mit den damaligen Gegebenheiten aufschlußreich. Am Opportunismus der SPD hat sich jedenfalls nichts geändert. Als Führungskraft des Staates ist der Kriegswille der SPD heute allerdings nicht mehr wie damals bloß unzufriedene Opposition.

Doch nun zu den Ausschnitten des Romans, bei dem allein das in eckige [ ] Klammern Gesetzte eingefügt ist.
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Die Nachrichten, die die Zeitungen am Morgen des sechsten Juli [1911] brachten, waren nichts weniger als beruhigend. Im Gegenteil, die Meldung von dem kriegerischen Einbruch französischer Truppen in Marokko wurde bestätigt und dann die Mitteilung geknüpft, daß im Auswärtigen Amt zu Berlin die ganze Nacht über gearbeitet worden und daß Depeschen hin- und hergeflogen seien. Auch die Nachrichten aus England lauteten alarmierend genug. Ein englisches Geschwader war von Helgoland aus gesichtet. Zu gleicher Zeit berichteten Telegramme von englischen Waffenlieferungen nach dem Balkan und von sonstiger englischer Minierarbeit. Augenscheinlich wollte das perfide »Albion« Bosnien gegen Österreich aufwiegeln und Serbien und Bulgarien mit in die Bewegung verwickeln. Daß zwischen England und Frankreich geheime Abmachungen getroffen waren, konnte als sicher gelten, denn niemals würde Frankreich den entscheidenden Schritt in Marokko, den Abmachungen von Algeciras zum Trotz, getan haben, wüßte es den Bundesgenossen nicht an seiner Seite.
Wie Rußland und wie Italien sich in dem drohenden Konflikt verhalten würden, war die große Frage, deren Lösung alle Welt mit Spannung entgegensah.
Überall, in den öffentlichen Bureaus, in den Comptoirs, in den geschäftslokalen aller Branchen, in den Werkstätten der Handwerker, auf den Arbeitsplätzen, ja sogar in den Schulen wurde lebhaft über die Frage: Krieg oder Frieden diskutiert.
Die Abendblätter brachten die Nachricht, daß die deutsche Regierung in sehr entschiedenem Ton ein Ultimatum an Frankreich gerichtet und unter Berufung auf die Abmachungen von Algeciras die sofortige Zurückziehung der französischen truppen aus Marokko gefordert habe. Im Reichtstag habe große Begeisterung geherrscht; von fast allen Seiten des Hauses sei die energische Erklärung des Reichskanzlers mit jubelndem Beifall aufgenommen worden.
Der Antrag Bebel und Genossen: der Reichtstag möge die Erwartung aussprechen, daß sich die Regierung auf keinen Fall auf kriegerische Abenteuer einlassen werde, selbst wenn sich das Gerücht von der Okkupierung Marokkos durch die Franzosen bestätigen sollte, sei mit stürmischen »Pfuis« abgelehnt worden.
Schließlich war die Diskussion vertagt und dem Reichskanzler mit allen Stimmen gegen die der Sozialdemokraten das volle Vertrauen ausgesprochen worden.
Am 10. Juli herrschte »Unter den Linden« und in den Straßen der Friedrichsstadt vom frühen Morgen an ein lebhaftes Leben und Treiben. Die Morgenblätter hatten ausführlich über eine im französischen Parlament stattgefundene Sitzung berichtet, in der der leitende Minister unter dem begeisterten Beifall fast aller Abgeordneten eine sehr kriegerisch gestimmte Rede gehalten und Deutschland sehr verächtlich ein geknechtetes, selbstherrlich regiertes Land genannt hatte, das den Heeren der freien Republik nicht würde standhalten können.
Nur die Sozialisten hatten einen Mißklang in den einhelligen Enthusiasmus, in den hochaufschäumenden Patriotismus der anderen gebracht.
Jaurès hatte in einer großen Rede seinen und seiner Genossen Standpunkt dargelegt.»… Der ökonomische Konkurrenzkampf zwischen dem Kapitalismus hüben und drüben, die Gewinnsucht, das Bedürfnis, um jeden Preis, auch mit Kanonenkugeln, der überfüllten und in ihrer eigenen Unordnung erstickenden kapitalistischen Produktion immer wieder neue Absatzquellen zu eröffnen, ist es, was den Krieg entfesselt. Der Krieg ist nur der sichtbare Ausbruch des in allen Gängen und Adern unsrer Erdrinde fortschwelenden Feuers, des chronischen und schweren Fiebers, das unser gesellschaftliches Leben fortwährend untergräbt. … Wir, das arbeitende, friedliebende Volk protestieren gegen den Krieg, wir fühlen uns eins mit unseren arbeitenden Brüdern jenseits unsrer Landesgrenzen. Uns eint ein Wille, der Gedanke an die Solidarität alles dessen, was Menschanantlitz trägt. …«
Guesde und Vaillant hatten ihrem Genossen sekundiert; ihre flammenden, gegen den Krieg eifernden und den Bürgerkrieg in Aussicht stellenden Worte waren aber schließlich in dem zornigen Widerspruch, in dem wütenden Tumulte der überwältigenden Mehrheit des Hauses erstickt.
Zum Schluß der Sitzung war dem Ministerium mit allen gegen zwanzig Stimmen das volle Vertrauen des Parlaments votiert und die Erwartung ausgesprochen worden, daß die Regierung sich durch das drohende Ultimatum der deutschen Regierung nicht einschüchtern, sondern die Interessen Frankreichs in Marokko unbeirrt weiter verfolgen werde. …'

Der Krieg war nunmehr unvermeidlich. Das war die allgemeine Ansicht, der die dichten Menschenmassen, die auf beiden Seiten der Prachtstraße »Unter den Linden« und auf der Mittelpromenade hin- und herwogten, eifrig schwatzenden und gestikulierend, Ausdruck gaben. Vor dem Schlosse hatte sich eine große Menge angestaut, die sich nicht rückte und rührte und stundenlang mit bewundernswerter Ausdauer aushielt und neugierig, erwartungsvoll nach dem unzähligen Fenstern des Riesengebäudes starrte, als müsse sich dort irgend etwas Wunderbares ereignen.
Ausrufe, hastige Mitteilungen, Meinungsäußerungen, die mit großer Wichtigkeit abgegeben wurden, schwirrten hin und her. Die Gerüchte, die von klugen Leuten, die das Gras wachsen hörten, eifrig kommentiert wurden, wuchsen ins Ungeheuerliche. Eine große englische Flotte habe Cuxhaven beschossen, ja eine englische Truppenmacht sie im Begriff, an deutscher Küste zu landen. Eine französische Armeeabteilung sei bereits in Lothringen eingerückt und marschiere auf Metz los. Auch ein russisches Armeekorps habe schon die Grenze überschritten und sei in Westpreußen eingebrochen. Italien habe sich ebenfalls dem Feinde angeschlossen und eine italienische Flotte blockiere Triest und Pola [=Pula]…
Trotz aller Lebhaftigkeit herrschte eine gedrückte, bange Stimmung. Das war nicht die siegesgewisse Begeisterung von 1870, wo man wußte, daß man nur die schlecht gerüstete Armee des desorganisierten französischen Kaiserreichs gegen sich hatte, während es jetzt hieß: Feinde ringsum! Außerdem war seit Jahren bekannt, daß die französische Armee sich in vortrefflichstem Zustand befand und vollständig kriegsbereit war.
Deutschland aber hatte allein auf die Österreicher als Bundesgenossen zu rechnen. Dazu kam, daß man keine populären bewährten Heerführer besaß, wie 1870, daß noch keiner der Generäle im Ernstfalle Proben seiner Tüchtigkeit hatte geben können. Der allgemein vorherrschende Pessimismus machte sich nach Berliner Weise in allerlei schnoddrigen Bemerkungen Luft: »Schlummerköppe! Immer langsam voran, daß die österreichische Landwehr nachkommen kann!«
»Der Reichskanzler hat die Zeit verschlafen. Ja, wenn wir Bismarck‘n noch hätten, der wär‘ längst mit‘n Donnerwetter dreingefahren!« »Jawohl, der stand früh auf.«
»Und Moltke‘n! Und Roon‘n Und Prinz Friedrich Karl‘n! Und den Kronprinzen! Unsern Fritz! Und Werder! Und Alvensleben! Ei weih!«
»Wen haben wir denn nu? Nich mal `n Walderfee haben wir mehr!« »Jawohl, die scheenste Keile kriegen wir nu – paßt mal uff!« ……
Die Tribünen im Reichstag, der von einer vieltausendköpfigen Menge umlagert war, waren längst vor Eröffnung der Sitzung überfüllt. Als um 11 Uhr der Wagen des Reichskanzlers vorfuhr, reckte alles die Hälse. Ein paar Hochs wurden rasch durch laute Äußerungen des Unwillens erstickt.
Im Sitzungssaal trat beim Erscheinen des obersten Reichsbeamten plötzlich erwartungsvolle Stille ein.

Der Reichskanzler nahm sofort das Wort: »Meine Herren, wichtige Ereignisse sind seit gestern geschehen. Die Feindseligkeiten sind, wie wir nicht anders erwartet haben, von seiten der Engländer begonnen worden. Zahlreiche bei uns eingelaufene Meldungen besagen, daß eine ganze Anzahl von deutschen Dampfern und Segelschiffen auf der Nordsee und im Kanal von englischen Kreuzern gekapert worden –«
Stürmische Entrüstungsrufe unterbrachen den Redner. Man sah einander mit zornrotem Gesicht, mit sprühenden Augen an.
Nach kurzer Pause fuhr der Reichskanzler fort: »Der große herrliche Palast-Dampfer ›Deutschland‹ der Hamburg-Amerika-Linie und der nicht minder prächtige Schnelldampfer ›Kaiser Wilhelm der Große‹ des Norddeutschen Lloyd sind auf der Höhe von Southampton von den Engländern angehalten und gewaltsam in den Hafen geschleppt worden –«
Neue zornige Unterbrechungen, Wut- und Entrüstungsschreie.
»Kurz, meine Herren,« nahm der Reichskanzler seine Rede mit erhöhter Stimme wieder auf, »der Krieg ist von unseren Gegnern begonnen, frivol vom Zaun gebrochen worden und uns bleibt nichts übrig, als der Gewalt die Gewalt entgegenzusetzen und unsrer verletzten nationalen Ehre mit allem Nachdruck, mit aller Energie, mit aller Rücksichtslosigkeit Genugtuung zu verschaffen –«
Tosendes Bravorufen erscholl, das sich immer wieder erneute und minutenlang anhielt. Endlich vermochte sich der Reichskanzler, von der Präsidentenklingel unterstützt, wieder Gehör zu verschaffen. Er teilte unter lautloser Aufmerksamkeit, die allerdings von Zeit zu Zeit durch Kundgebungen des Beifalls und begeisterte Zustimmung, bzw. durch Äußerungen der Empörung unterbrochen wurde, mit, daß die französischen Ostkorps zwar gerüstet an der Grenze stünden, sonstige feindselige Handlungen aber noch nicht begonnen hätten. Auch die deutsche Heeresleitung sei nicht müßig gewesen. Die westlichen Grenzkorps seien bereits mobil gemacht und ständen in klirrender Rüstung bereit, einen Angriff zurückzuschlagen oder erforderlichenfalls selbst offensiv vorzugehen. Von Rußland seien Feindseligkeiten wenigstens vorläufig nicht zu erwarten. Das große östliche Nachbarreich werde seine definitive Haltung wohl einerseits von der Stimmung und den Zuständen im Lande und andrerseits von den Ereignissen auf dem Kriegsschauplatz abhängig machen. Italiens Verhalten sei zweifelhaft; irredentistische Putsche in Triest, die Äußerungen der Presse und enthusiastische Kundgebungen von Volksmengen vor dem Gebäude der französischen Gesandschaft in Rom und der französischen Konsulate in Mailand und Venedig bewiesen, daß die Volksstimmung den deutschen Bundesgenossen feindlich und den Franzosen freundliche gesinnt wäre. Man schien zu glauben, die Zeit sei gekommen, die italienischen Stammesbrüder vom österreichischen Joch zu befreien.
Weitere am Morgen eingegangene Nachrichten besagten, daß die französische Regierung wahrscheinlich in der heutigen Kammersitzung sich das Kriegsbudget votieren lassen werde. Außerdem habe er — der Reichskanzler – kurz vor der Abfahrt nach dem Reichstag ein Telegramm aus Paris erhalten, das besage, daß die Führer der französischen Sozialisten: Jaurès, Guesde, Vaillant und andere in aller Frühe verhaftet worden seien, wahrscheinlich um sie an weiteren Agitationen gegen den Krieg zu verhindern und wohl auch weil man hoffte, dem angedrohten Generalstreik entgegenzuarbeiten.
Diese Nachricht erregte allgemeine Sensation. Konservative und nationalliberale Volksvertreter riefen ein beifälliges: »Bravo! Sehr gut!« Aller Augen richteten sich nach der linken Seite des Hauses, wo die sozialistischen Abgeordneten sich um ihren Anführer Bebel geschart hatten und sich, sichtlich ernst und verstört, miteinander besprachen. Ein paar Heißsporne riefen sogar: »Auch so machen! Einsperren die Vaterlandsverräter!« dem Reichskanzler zu. Dieser aber schüttelte lächelnd den Kopf und, als wieder einigermaßen Ruhe eingetreten war, erwiderte er: »Nein, meine Herren, zu einer so gewaltsamen Maßregel haben wir uns nicht entschlossen und wir haben ja auch gar keinen Anlaß dazu. Herr von Vollmar und auch Herr Bebel und seine Freunde sind viel zu vernünftige Leute und sie empfinden trotz alledem viel zu patriotisch, als daß sie der Regierung bei der Erfüllung ihrer Pflicht, das Vaterland gegen die Angriffe der Feinde zu verteidigen, in den Rücken fallen würden –«
»Aber die Franzosen haben uns ja noch gar nicht angegriffen,« rief der greise Führer der Sozialisten mit der ihm eigenen jugendlichen Lebhaftigkeit dazwischen.
»Allerdings angegriffen haben sie uns noch nicht, Herr Bebel,« replizierte der Reichskanzler mit erhobener Stimme, sich mit ernstem Gesicht, das eine lebhafte innere Bewegung widerstrahlte, nach der linken Seite des Hauses wendend. »Aber sie haben unser Ultimatum, das wir wegen ihres eigenmächtigen Vorgehens gegen Marokko an sie richteten, in — ich kann wohl sagen in einem unerhört herausfordernden Ton beantwortet, der einer Kriegserklärung gleichkommt.«
Der Reichskanzler hob ein vor ihm liegendes Blatt empor und las mit weithin schallender Stimme den Wortlaut der von der französischen Regierung eingegangenen Depesche vor. Ein ohrenbetäubender Lärm brach los; wie ein Sturm brauste es durch das ganze Haus; auch überall von den Tribünen stimmte man in die lauten Zornesrufe, in die wilden Schreie ein: »Infam! Frechheit! Hauen müssen wir sie, wie 1870. Krieg! Krieg!«
Alle Abgeordneten waren von ihren Sitzenaufgesprungen und gestikulierten lebhaft nach dem Bundesratstisch hinauf, an dem der Reichskanzler abwartend stand und mir freudig erregtem Gesicht in den Tumult starrte.
Von den Tribünen wehten Damen enthusiastisch mit den Taschentüchern.
Da rief plötzlich eine Stimme von der Linken in den Lärm: »Was geht uns Marokko an!« Wütende Pfuirufe beantworteten von der rechten Seite des Hauses den Zwischenruf. Der Reichskanzler aber winkte abwehrend mit der Hand und erwiderte, als sich endlich die Aufregung etwas gelegt hatte mit dem Pathos sittlicher Entrüstung:

»Dem Herrn, der den eben gehörten Zwischenruf ausgestoßen, erwidere ich: die Zeit, wo sich Deutschland überall im Auslande zurückdrängen ließ, ist vorbei. Wir haben Interessen in Marokko und wir werden sie mit aller Energie verteidigen – (»Bravo! Bravo!«) Überdies wird jeder, der Augen hat zu sehen und sie nicht geflissentlich vor den Tatsachen verschließt, die Überzeugung gewonnen haben, daß der Krieg gegen uns eine zwischen England und Frankreich längst abgekartete Entschließung ist.
Sollen wir uns wehrlos überfallen lassen? Sollen wir warten, bis das feindliche Heer bei uns eingerückt ist? Nein, meine Herren, das kann niemand, das können nicht einmal die Herren Sozialisten vom Kaiser und von der Regierung verlangen!«
Des Reichskanzlers Gesicht nahm einen tiefernsten Ausdruck und zugleich eine dunklere Färbung an, seine Augen blitzten, und mit lauter, vor innerer Bewegung bebender Stimme rief er in die Versammlung: »Die Mobilmachung ist angeordnet. Der Telegraf hat den kaiserlichen Befehl bereits in alle Gaue des Reiches hinausgetragen. Der Krieg ist erklärt!«

Im ersten Augenblick herrschte eine Totenstille in dem weiten Raum. Vor der Gewißheit des furchtbaren Ereignisses, das alle Welt seit Jahren gefürchtet, das mehr als einmal in den letzten Jahrzehnten gedroht, schienen alle zu erstarren. Das Ungeheuerliche, dessen herankommen seit langem auf allen wie ein Alb gelastete, das viele abenteuerlustig, ehrgeizig oder aus niedrigen Motiven ersehnt, das den meisten aber doch Furcht und Entsetzen eingeflößt hatte, war da: der Weltkrieg! Aller Herzschlag schien für einen kurzen Moment auszusetzen und allen schien die Ahnung entsetzlicher Geschehnisse, riesenhafter Katastrofen sekundenlang den Atem geraubt zu haben. Dann aber brach von neuem betäubender Lärm los und donnernde Hurrarufe erschallten auf allen Seiten des Hauses und schienen immer neues Echo zu wecken. Als sich die allgemeine Erregung genug getan, richteten sich wieder alle Augen erwartungsvoll auf den Kanzler.

»Meine Herren,« nahm dieser von neuem das Wort: »Ich habe ihnen nur noch den Antrag der Verbündeten Regierungen vorzulegen, einen Kredit von 1200 Millionen Mark für das Heer und von 100 Millionen für die Flotte zu bewilligen und Sie zu bitten, unsre notgedrungene Forderung einstimmig zu bewilligen, um damit überzeugend vor aller Welt zu bekunden, daß Kaiser und Volk, ebenso wie vor dem glorreichen Feldzug von 1879, so auch diesmal und immer in schweren Tagen einig und treu zusammenstehen –«
Wieder wurde der Redner von allen Seiten des hauses durch stürmischen Beifall unterbrochen, der auch auf den Tribünen ein jubelndes Echo fand.
Endlich verschaffte die Glocke des Präsidenten dem Kanzler die Möglichkeit, seine Rede zum Abschluß zu bringen.
»Ja, meine Herren, ich habe die feste Zuversicht, daß ihr Votum einstimmig erfolgt und daß auch die Herren der äußersten Linken in Konsequenz früherer Erklärungen ihrer Wortführer« – auf die letzten Worte legte der Redende einen besonderen Nachdruck, der in den Reihen der konservativen und liberalen Abgeordneten ein vielstimmiges: »Hört! Hört!« hervorrief – »sich diesmal von der Einigkeit des Hauses nicht ausschließen werden. Wiederholt haben die beiden anerkannten Vertreter der Sozialdemokratie, der norddeutsche Herr Bebel und der süddeutsche Herr von Vollmar Gelegenheit genommen zu erklären, daß die Vaterlandsliebe für sie kein leerer Begriff ist und daß sie gewisse Fragen nicht vom Standpunkt internationaler Solidarität, sondern von dem nationaler Unabhängigkeit beurteilen werden. Wiederholt haben sie erklärt, daß die Sozialisten im Heere ebensogut und ebenso begeistert wie alle übrigen Soldaten ihre Pflicht tun würden, wenn es sich darum handelte, die nationale Selbständigkeit gegen Angriffe von außen zu verteidigen. (»Hört! Hört!« und »Bravo!« rechts und in der Mitte.) So hat einmal Herr von Vollmar im bayrischen Landtag – es war im Sommer 1906 – eine ganze Rede über Patriotismus und Sozialdemokratie gehalten und sich und seine partei aufs allerschärfste und nachdrücklichste gegen den Vorwurf der Vaterlandslosigkeit und Animosität gegen das Heer verteidigt. Er hat bei dieser gelegenheit unter anderem wörtlich gesagt –« der Redner hob ein vor ihm auf dem Tisch liegendes Blatt zu seinen Augen empor, während die um die Stufen zum Bundesratstisch gescharten Abgeordneten und die weiter hinten Stehenden die Köpfe vorstreckten und mit angespanntester Aufmerksamkeit lauschten, um sich kein Wort entgehen zu lassen – ›Wer also,‹ so hat der sozialistische Abgeordnete gesagt, ›wer also ein gegner des jetzigen Militärsystems ist, der ist deshalb noch lange kein Feind des Heeres selbst, desjenigen Heeres, das ja Blut von unsrem Blut und das die eigentliche Manneskraft unsres Volkes darstellt‹ – (»Bravo, bravo!«) Und weiter,« fuhr der Kanzler fort, »hat Herr von Vollmar den Vorwurf der Vaterlandslosigkeit mit besonderer Entrüstung, mit wuchtigen, kraftvollen Worten abgelehnt: ›und ich möchte auch denjenigen sehen, der z. B. mir die infame Beschimpfung der Vaterlandslosigkeit persönlich ins Angesichts schleudern wollte, er würde eine Antwort bekommen, die er niemals vergißt, das gebe ich schriftlich.‹ Nun meine Herren« – der Redner ließ das Blatt sinken und kehrte seinlächelndes Gesicht dem Hause zu: »energischer, schärfer, empörter könnte auch ich mich nicht gegen den Vorwurf kein Patriot zu sein verteidigen.«
Schallendes Bravo von allen Seiten, Gelächter und Händeklatschen.
»Herr von Vollmar,« fuhr der Kanzler schmunzelnd fort, »wird nun wissen, was er seiner Ehre und Pflicht als Patriot schuldet.«
Wiederholtes Lachen und Händeklatschen.
»Schließlich hat Herr von Vollmar bei dieser Gelegenheit vorwurfsvoll seinen Angreifern im bayrischen Landtag noch gesagt: ›Erklären dagegen unsre Redner im Reichstag, in diesem Hause oder sonstwo ihre Liebe zum Vaterland (»Hört! Hört!«) und ihre Bereitwilligkeit zu dessen Verteidigung (stürmisches »Hört! Hört! Bravo!«), so hat es gehießen: O das glauben wir nicht –‹ Nun, Herr von Vollmar, ich glaube Ihnen, ich zweifle nicht an Ihrer Vaterlandsliebe, ebensowenig wie an der Ihres Freundes Bebel, der ja ebenfalls wiederholt, zuletzt im Frühjahr 1906 bei Gelegenheit der Debatten zum Militäretat im Reichstag erklärt hat, daß auch die sozialistische Jugend freudig dem Rufe zu den Waffen folgen würde, wenn es gälte, das Vaterland zu verteidigen und daß er – Bebel – selbst in einem solchen Falle die Muskete auf seine alte Schultern nehmen würde.«
Stürmisches Bravorufen folgte den letzten mit erhobener Stimme in den Saal gerufenen Worten.
»Und bei einer anderen Gelegenheit,« schloß der Kanzler, »im Januar desselben jahres äußerte Bebel zu einem Vertreter des ›Peuple‹, des führenden sozialistischen Parteiorgans in Belgien, sich gegen den internationalen Generalstreik als Abwehrmittel eines Krieges aussprechend: ›Hier werden Fragen berührt‹, sagte Bebel, ›die Ihr Belgier, weil Ihr eine patriotische Tradition im eigentlichen Sinne nicht habt, auch nicht einmal ahnungsweise beurteilen könnt. Ein Krieg brächte die Eventualität eines Verlustes Elsaß-Lothringens und des linken Rheinufers (»Sehr wahr! Sehr richtig!«) Es handelt sich hierbei um eine Frage nationaler Unabhängigkeit, die auf alle anderen Fragen ihre Wirkung übt, die unwiderstehlich das Proletariat an die Grenzen treibt, um die nationale Integrität oder einfacher gesagt: um seine eigne Haut zu verteidigen!‹ (»Sehr wahr! Sehr richtig!«) Nun ja« – der Redner legte wieder das Blatt aus der Hand und sah lächelnd zu der Linken hinüber – »nun ja, Herr Bebel, ganz meine Ansicht: jetzt handelt es sich in der Tat um unsre nationale Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Rufen Sie darum Ihren Genossen überall im Reiche zu: An die Grenzen zur Verteidigung des Vaterlandes! Und Sie selbst, Herr Bebel, beweisen Sie den Mut Ihrer Überzeugung, bewilligen Sie uns in logischer Konsequenz ihrer eigenen Worte die Mittel, unsre Integrität zu bewahren und uns unserer Haut zu wehren!«
Der Reichskanzler setzte sich, während stürmisches Bravo- und Beifallsrufen sich mit schallendem Gelächter mischte. Aller Augen richteten sich erwartungsoll, herausfordernd nach der linken Seite, wo die sozialistischen Abgeordneten sich schon während der Rede des Reichskanzlers um Bebel und v. Vollmar geschart hatten, um eifrig miteinander zu beraten. Den erhitzten Gesichtern und den heftigen Gestikulationen war anzusehen, daß in der sozialdemokratischen Fraktion diesmal die gewohnte Einmütigkeit nicht herrschte. Bebel redete dringlich auf seine Genossen ein, die sich endlich seinem Willen zu beugen schienen.

Jetzt wandte sich Bebel zur Präsidentenbühne und bat um das Wort. Und während ihm das Wort erteilt wurde und er mit jugendlicher Raschheit zur Rednertribüne emporeilte, ging eine lebhafte Bewegung durch das ganze Haus und eine dichte Korona von Abgeordneten aller Parteien drängte sich um die Tribüne. In allen Mienen spiegelte sich die gespannteste Erwartung, das stärkste Interesse. Der anerkannte langjährige Führer der deutschen Sozialdemokratie legte ein paar Blätter, die er in der Hand gehalten hatte, vor sich auf das Rednerpult und begann: »Wir, mein Freund von Vollmar und ich, sind weit entfernt, das, was wir gesagt haben, verleugnen zu wollen. Jawohl, wir haben mehr als einmal betont, hier im Hause und anderswo, daß wir Sozialisten unser Vaterland ebensogut lieben, wie irgendwelche Angehörige andrer Parteien und daß wir nicht anstehen werden, erforderlichen Falles unsre Pflicht zu erfüllen und den letzten Blutstropfen für unsre nationale Existenz einzusetzen, beziehungsweise unsre wehrfähigen Genossen zu ermahen, mit den Waffen in der Hand jeden Angriff auf unser Vaterland abzuwehren –«
»Bravo, bravo!« erschallte es von allen Seiten des Hauses und von den Tribünen.

»Aber, meine Herren,« fuhr der Redner mit nervösem Zucken des Gesichts fort, offenbar nicht gerade sehr angenehm berührt von dem ihm zuteil werdenden ungewohnten einhelligen Beifall des Hauses, »aber, meine Herren, liegt denn hier ein solcher Fall vor?« (Gelächter. Stürmische Rufe: »Jawohl! Haben die Engländer nicht unsre Schiffe genommen?«)
»Wenn die Engländer deutsche Schiffe gekapert haben, so haben sie damit allerdings den Krieg zur See begonnen – (»Na also«) den Krieg zur See, meine Herren! Aber sprechen wir zunächst einmal von der viel wichtigeren Frage des Landkrieges, mit dem uns Frankreich angeblich bedroht! (Gelächter.) Frankreich schickt sich an, Marokko zu okkupieren. Nehmen wir an, das sei richtig! Ja, meine Herren, haben wir uns denn von dem ganz brutalen, frivolen Einfall der Engländer in Transvaal zu einem Kriege gegen England, ja nur zu einem Protest bewegen lassen? Warum denn nun auf einmal Zeter und Mordio, wo es sich um ein viel unkultivierteres Land, um ein in der Kultur viel weiter zurückgebliebenes Volk handelt?« (Unruhe, Lachen, Rufen: »Das war etwas ganz anderes. Heute stehen wir auf einem andern Standpunkt.«) Sie stehen heute auf einem anderen Standpunkt. Wir aber nicht, meine Herren, wir sind noch immer der Meinung, daß ein Krieg nur erlaubt ist, wenn es sich um den Kampf für die Existenz handelt. Meine Herren, wenn ihre Nationalheros, den sie ja allezeit wie einen irrenden Gott verehrt haben, wenn Bismarck noch lebte, so würde ihm ein Konflikt mit Frankreich gerade so unsympathisch sein, wie er es uns ist.« (Gelächter. »Unsinn«)
»Nein, meine Herren, das ist kein Unsinn, sondern ich kann es Ihnen mit Bismarcks eigenen Worten belegen. In den Ihnen wohl allen bekannten Denkwürdigkeiten der Fürsten Hohenlohe – (Lachen) berichtet der Memoirenschreiber über verschiedene sehr charakteristische Äußerungen des ersten deutschen Reichskanzlers in dieser Hinsicht. So erzählt Fürst Hohenlohe im zweiten Band seiner Denkwürdigkeiten« – der Redner hob eins der vor ihm liegenden Blätter zu seinem Gesicht empor – »von einem Gespräch während eines Besuches bei Bismarck im Badeort Gastein am 6. November 1883. Fürst Hohenlohe schreibt: ›Er – Bismarck – war entrüstet über die Times-Artikel, die Frankreich gegen uns hetzen. Er will, daß dagegen in der Zeitung vorgegangen werde. Wir wollen, sagte er, von Frankreich nichts. Ein Krieg könnte uns nichts bringen. Geld wohl, aber deswegen führe man keinen Krieg. Franzosen hätten wir schon zu viel.‹ Soweit Bismarck. Sie aber, meine Herren, scheint‘s wollen noch mehr französisches Geld und noch mehr Franzosen – (Stürmische Unterbrechung: »Wollen wir nicht!«)
Nicht? Desto besser! Doch hören wir weiter! Im Jahre 1883 äußerte Bismarck in Friedrichsruh unter anderem: ›Wir haben gute Beziehungen zu Frankreich, die chauvinistischen Provokationen lassen wir unbeachtet und –‹ der Redner sah triumfierend zu der Zuhörerschaft zu seinen Füßen hinunter – ›und in der Kolonialpolitik fördern wir die Wünsche Frankreichs –‹« (Unruhe. Heftige Rufe: »Das hat er nicht gesagt.«) Der Redner hob sein Blatt und schwenkte es in der Luft: »Doch, meine Herren, das hat Ihr Abgott Bismarck gesagt! Und er hat sich noch viel klarer und schärfer in einem früheren Gespräch – es war am 7. November 1882 in Barzin – dem Fürsten Hohenlohe gegenüber über unser Verhältnis zu Frankreich ausgesprochen. Da sagte er: ›Wenn die Franzosen von den Engländern freie Hand in Syrien verlagen, so ist uns das gleichgültig. Überall sollen die Franzosen tun, was sie wollen, wenn sie nur vom Rhein fernbleiben.‹« (Stürmische Unterbrechungen: »Den wollen sie ja eben!«) »Hören Sie doch weiter, meine Herren,« fuhr der sozialistische Redner mit triumfierendem Lächeln fort. »Es kommt noch viel schöner. ›Abends lange Unterredung bei der Pfeife. Bismarck trug mir auf, St. Vallier seine Grüße auszurichten und ihm zu sagen, que nous le regrettons [daß wir es bereuen].‹ Hören Sie wohl, meine Herren« – der sozialdemokratische Parteiführer sah wieder auf sein Blatt: »›Im übrigen bleiben wir bei unsrer wohlwollenden Haltung … und erklären den Franzosen, daß wir sie nie bedrohen werden, auch wenn sie in Kalamitäten geraten sollten, solange sie vom Rhein fern bleiben.‹« Der Redner erhob wieder seine Stimme: »›Sie können in der Welt tun, was sie wollen.‹ So, meine Herren, hat Bismarck sich geäußert, der doch immer für sie maßgebend gewesen ist. Warum handeln Sie nun nicht nach seinem Rat, warum lassen Sie die Franzosen in Marokko nicht ruhig gewähren? Sie aber wollen des lumpigen Marokko wegen alle Schrecken eines europäischen Krieges entfesseln!« (Zwischenrufe: »Es handelt sich ja gar nicht um Marokko! Abgekartete Geschichte mit England.«)

»Ja, meine Herren,« fuhr der Redner fort, »hier kommen wir zu einem dunklen Punkt, zu dem System der Geheimniskrämerei, mit der bei uns Fragen der auswärtigen Politik behandelt werden. Nicht vom Volk, obgleich dasselbe doch alle eventuellen Folgen zu tragen hat, nicht von den Vertretern des Volkes werden diese Fragen gelöst, sondern von einem halben Dutzend von Diplomaten. Wir andern aber tappen hier wie im Nebel herum und sind gar nicht in der Lage, uns ein klares Urteil bezüglich Schuld und Nichtschuld zu bilden. Wir wissen nicht und werden es vielleicht nie erfahren, wer für den drohenden Krieg verantwortlich ist, die Engländer, die Franzosen oder unsere Herren Staatsmänner. Wir haben ja alle staunend aus den Hohenloheschen Memoiren gesehen, wie leichtherzig, ja, wie frivol in den Hof- und Regierungskreisen mit dem Gedanken des Krieges gespielt wird und zwar nicht aus sachlichen Gründen, sondern oft haben Ursachen persönlicher Eifersüchtelei und persönlichen Interesses unsere leitenden Männer veranlaßt, in unsern Beziehungen zu auswärtigen Mächten eine schärfere Tonart anzuschlagen und Konflikte förmlich an den Haaren herbeizuziehen.
Wenn Bismarck selbst seinerzeit nicht vor der Eventualität des Krieges zurückschreckte, wie Hohenlohe an einigen Stellen seiner Denkwürdigkeiten berichtet, nur um sich und seinen Sohn um jeden Preis, auch um den des Krieges, im Amt zu erhalten, haben wir da nicht alle Veranlassung, auch die jetzigen Schwierigkeiten auf ähnliche persönliche Einflüsse, auf eigensüchtige Machinationen zurückzuführen?
Und in diesem Zweifel können wir auch nicht, wie der Herr Reichskanzler verlangt, für das Kriegsbudget stimmen.«
(Stürmische Unterbrechung: »Pfui! Eine Schmach! Pfui! Vaterlandsverräter!«)
Der Redner ließ den Unwillen, der sich auch auf den Tribünen fortpflanzte, austoben, dann fuhr er fort: »Ihre Schmähungen treffen uns nicht, wir sind ja daran gewöhnt, von Ihnen als vaterlandslos erklärt zu werden. Wenn der Krieg, den Sie unter keinen Umständen vermeiden zu wollen scheinen, vorüber sein wird, werden wir ja sehen, wer mehr auf das Wohl des Vaterlandes bedacht gewesen, wir, die wir den Krieg gern vermieden gesehen hätten, oder Sie. (Gelächter.) Wir sind grundsätzlich gegen jeden Krieg, dennoch würden wir, wenn wir klar erkennen würden, daß es sich darum handelt, unberechtigte Angriffe gegen uns abzuwehren, nicht anstehen, den von den Regierungen verlangten Kredit in vollem Umfange zu bewilligen. Andrerseits aber, weil wir eben nicht klar sehen, ob der Krieg von deutscher Seite unnötigerweise heraufbeschworen oder ob er uns aufgezwungen ist und weil ja die letztere Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, so wollen wir auch nicht gegen die Regierungsvorlage stimmen, sondern wir wollen in folgerichtiger Konsequenz unseres Zweifels aus der Abstimmung enthalten –.«
Im ersten Augenblick waren die Zuhörer offenbar überrascht und verdutzt infolge dieser unerwarteten Erklärung, dann aber brach ein betäubender Lärm los. Stürmisches Gelächter mischte sich mit Ausrufen der Entrüstung, Enttäuschung und Verachtung.
Endlich gelang es dem Redner, sich wieder Gehör zu verschaffen.

»Sie selbst haben uns gezwungen zu dieser Haltung,« schrie er in die noch immer unruhige Versammlung hinein. Und sich dann gegen den Bundesratstisch wendend: »Wir haben zu dieser Regierung, die die Nation gerade da, wo es sich um ihre höchsten Interessen handelt, wie unmündige Kinder behandelt, kein Vertrauen. Wir ziehen nur die ganz logischen Konsequenzen Ihres Systems, nach welchem die ungeheure, verantwortungsvolle Entscheidung über Krieg und Frieden nicht, wie es sein sollte und wie es in anderen Kulturstaaten der Fall ist, bei dem Volke ruht, sondern an einer einzigen Stelle im Reich« – (»Schluß, Schluß«)

»Ja ich komme zum Schluß. Ihre Vorwürfe weisen wir zurück: wir haben kein Interesse, das Reich wehrlos zu machen, im Gegenteil, wir geben ebenso bereitwillig wie Sie Gut und Blut für das Vaterland her, wenn wir die Überzeugung haben, daß man unsere nationale Existenz bedroht. Wir werden deshalb, da England ja die Feindseligkeiten zur See willkürlich, brutal, gewalttätig begonen hat, die für die Marine verlangten hundert Millionen bewilligen.«
Diese Erklärung, die der Majorität noch unerwarteter überraschender kam wie die frühere, wurde mit allgemeiner Verblüffung aufgenommen, die sich jedoch rasch in ein stürmisches Gelächter und in ein ironisches Bravorufen auflöste. Damit hatten sich die Hauptereignisse der denkwürdigen Sitzung vollzogen.
[…]
[Kapitel 3]
In den Riesensaal der ›Neuen Welt‹ in Berlin strömten ungeheure Menschenmengen. Ein starkes Aufgebot von Schutzleuten zu Fuß und zu Pferde hielt draußen mit üblicher schneidiger Geschäftigkeit die Ordnung aufrecht. Es mochten wohl an achtausend Arbeiter sein, die erwartungsvoll, lebhaft miteinander ihre Ansichten austauschend, der Ereignisse harrten. Die Tagesordnung der Versammlung, die von dem Aktionsausschuß der Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereinen von Groß-Berlin einberufen worden war, hatte starke Sensation in den Kreisen der Genossen hervorgerufen.
»Die Haltung unsrer Reichstagsfraktion in der Sitzung vom zehnten Juli.«
Daß die aufgrund dieser Tagesordnung einberufene Versammlung Notwendigkeit war, daß sie dem allgemeinen Wunsche der Genossen entsprach, darüber war nur eine Stimme. In der radikalen Arbeiterschaft Berlins hatte die Rede Bebels und das Verhalten der Fraktion bei der Abstimmung über den von der Regierung geforderten Kriegskredit viel böses Blut gemacht. Die allgemeine Empörung und Erbitterung war durch die Lokalisten und Anarcho-Sozialisten, die seit lange Bebels Verhalten in der Frage des Generalstreiks und des Kampfes gegen den Militarismus inkonsequent, schwächlich und opportunistisch nannten, nach Kräften geschürt worden. Der Umstand, daß inzwischen ein großer Teil der Arbeiter einberufen worden war, hatte natürlich nicht dazu beigetragen, die Gärung zu beschwichtigen.
Der Aktionsausschuß hatte sich deshalb dem allgemeinen immer stürmischer an ihn herantretenden Begehren nach einer Abrechnung mit den Abgeordneten der Partei, nach einer öffentlichen Kundgebung der allgemeinen Unzufriedenheit nicht länger verschließen können.
»Wird er kommen? Wird Bebel kommen?« raunte einer dem anderen ins Ohr. Ja, er kam! Durch eine Tür, die auf das Podium am Ende des Saales mündete, trat er ein, um auf einem der hier für die Eingeladenen, die Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion aufgestellten Stühle Platz zu nehmen.
Als man ihn erkannte, den schmächtigen, kaum halb großen Mann mit der noch immer dichten, weißgewordenen Haarmähne, ging eine lebhafte Bewegung durch die Menge und so groß war der Zauber seiner Persönlichkeit, so ungeheuer die Verehrung, die man dem großen Redner, dem greisen Volkstribunen entgegenbrachte, der so viele Jahrzehnte bereits für die Volksfreiheit gekämpft, der so viele glänzende Triumfe auf der Rednertribüne davongetragen hatte, daß die Tausende ihm auch jetzt noch zujubelten.
Ein stolzes Lächeln der Befriedigung, der Siegesgewißheit ging über das schmale blasse Gesicht, während er dankend zu der Menge hinabwinkte, die er in seinem Bann wußte, die sich noch immer gläubig, trotz aller Angriffe seiner Gegner, seiner Autorität gefügt hatte, gerade so unbedingt ergeben und widerspruchslos, wie nur je ein Selbstherrscher von seiner Gefolgschaft gehuldigt worden war.
Die Versammlung wurde eröffnet, das Bureau gewählt. Der Vorsitzende erteilte dem Referenten das Wort. Die ersten Sätze des Redners wurden in abwartender Haltung, mit stiller Aufmerksamkeit angehört, die weiteren Ausführungen aber erregten eine immer stärker werdende Bewegung. Stürmische Unterbrachungen, lebhafte Zurufe, tosende Bravo- und Beifallsrufe hinderten den Redner minutenlang am Reden.

»Wir alle wissen,« sagte er, »was wir unsrem Bebel zu danken haben, wir wissen, daß er immer in der vordersten Reihe der Kämpfer für Volksrecht und Volksfreiheit gestanden, wir wissen, daß ihn der Kampf gegen Unfreiheit, gegen Entrechtung und Unterdrückung des arbeitenden Volkes mehr als einmal ins Gefängnis gebracht hat, wir wissen endlich, daß es auch zum großen Teil seiner Unerschrockenheit, seiner immerwährenden Treue, seinem Fleiße und seiner Begabung zu verdanken ist, wenn wir uns heute stolz die Dreimillionen-Partei nennen können. Aber höher als die Person steht die Sache. Unsre Verehrung des großen Führers darf nicht in kritiklose, sklavische Anbetung ausarten. Für Personenkultus und Götzendienst ist in der Partei kein Raum. Niemals werden wir uns überzeugen lassen, daß blinder Autoritätsglauben und Kadavergehorsam unsre Pflicht sei. Selbst auf die Gefahr hin, aus der Partei zu fliegen, werden wir uns nicht den Mund verbinden, die Freiheit der Diskussion schmälern lassen. Wehe der Partei, in der es keinen Widerstreit der Ideen mehr gibt! Wir zetern über die eiserne Disziplin und den Kadavergehorsam beim Militär und sollten uns selbst eine ähnliche freiheitsfeindliche Diktatur errichten, die zum widerspruchslosen Gehorsam verpflichtet und die Kommandogewalt in die Hände der Führer legt? Nein! Wir sind eine demokratische Partei, eine sozialdemokratische, wir wollen denken und handeln nach unsern Anschauungen und Überzeugungen, nicht nach denen einiger weniger Führer. Sozialismus ist Erziehung zur Selbständigkeit, Wir sind weder Kinder noch Soldaten, die auf Befehl des Unteroffiziers einschwenken. Und so sind wir auch heute zusammengekommen, um Kritik zu üben an dem Verhalten unsrer Reichstagsabgeordneten, frei von der Leber weg wollen wir ihnen erklären, daß sie die Prinzipien der partei Preisgegeben, daß sie sozialdemokratische Logik und Konsequenz mit Füßen getreten, daß sie nicht in unsrem Sinne gehandelt haben, als sie für den Kriegskredit für die Marine stimmten und sich bei dem für die Landarmee geforderten Kredit der Abstimmung enthielten, anstatt laut, nachdrücklichst vor ganz Europa gegen den Krieg zu protestieren –.«
Laute Zurufe aus den Reihen der mit Bebel auf der Tribüne sitzenden Abgeordneten unterbrechen den Redner. Dieser lächelt sarkastisch, sein Gesicht den Bänken der Abgeordneten zukehrend.
»Wir können uns nicht wehrlos machen, rufen Sie mir zu,« fährt er fort, »es handelt sich für uns um Notwehr, um einen Verteidigungskrieg. Und auf diesen alten Trick fallen Sie herein, Sie, die Sie doch alle erfahrene Politiker sind? Mit diesem allen Ammenmärchen wollen Sie Ihre schwächliche, inkonsequente, opportunistische Haltung entschuldigen? Mit dieser Formel, mit dieser Frase stellen Sie sich Ihren konservativen Kollegen im Reichstag an die Seite. Auch diese sind nicht so frivol und schamlos zu erklären: wir wollen den Krieg, wir wollen erobern und uns an dem Besitz der Gegner bereichern, auch diese begründen ihr Eintreten für den Militarismus immer damit, daß sie sagen, wir wollen den Krieg nicht, wir wollen nicht angreifen, aber wir müssen uns doch verteidigen, wenn wir vom Feinde angegriffen werden. Genau dasselbe sagen die Kriegsschwärmer jenseits der Grenzen. Auch diese erklären immer mit vielem Pathos und sittlicher Entrüstung: wir wünschen keinen Krieg und deshalb müssen wir gerüstet sein, um uns verteidigen zu können. Und selbst, wenn sie den Krieg beginnen und den ersten feindlichen Schritt unternehmen, sagen sie noch: wir konnten nicht anders, wir wurden gezwungen, wir wollten uns nur nicht überrumpeln lassen von den kriegslustigen Gegnern. Die beste Deckung ist der Hieb – (Stürmisches Gelächter)
Und so sehen wir denn das erbauliche Schauspiel, daß jeder den Frieden will und daß keiner das Karnickel gewesen sein will, das angefangen hat. Mit dieser kindischen Ausrede, mit dieser erbärmlichen Heuchelei soll man uns nicht kommen, wir lassen uns nicht dumm machen mit diesem Argument, dieser Mär vom Verteidigungskrieg. Die Vertretung der sozialdemokratischen Partei im Reichstag hätte die Pflicht gehabt, mit aller Entschiedenheit zu erklären: Im Namen des Volkes, des arbeitenden Volkes: Wir wollen keinen Krieg und nicht einen Pfennig bewilligen wir für den Krieg! (Stürmisches Bravo)
Daß Sie (zu den Abgeordneten gewandt) das nicht getan haben, war eine Schmach, war ein Verrat an der Sache des Volkes – (Stürmische Zustimmung.) Sie haben uns, die deutsche sozialdemokratische Partei vor Deutschland, vor ganz Europa blamiert, speziell aber vor unsern französischen Genossen. Haben Sie nicht gelesen, was Jaurès im französischen Parlament gesagt hat? Das klang wesentlich anders als das schwächliche opportunistische Gefasel Bebels im Reichstag. Die Scham hätte Ihnen ins Gesicht steigen müssen, als Ihnen der Reichskanzler mit sehr berechtigtem Hohn und Spott Ihre patriotischen Frasen vorhielt, die Sie und Ihr Gesinnungsgenosse Vollmar – Pardon: von Vollmar im Reichstag und sonst geäußert haben –. (Zwischenruf Bebels: »Haben wir nicht immer den Militäretat abgelehnt?«)
Jawohl, das haben Sie inkonsequenterweise –. (»Oho!«) Jawohl, wenn Sie konsequent sein wollte, Genosse Bebel, dann hätten Sie ebensogut wie Herr von Kardoff für den Militäretat stimmen müssen, denn Sie haben ja doch immer erklärt: ›Wenn es sich einmal darum handeln sollte, das Vaterland zu verteidigen, dann werden wir Sozialdemokraten nicht fehlen, dann werde ich selbst noch die Flinte auf meine alte Schulter nehmen.‹ Haben Sie damit nicht die Möglichkeit, die Berechtigung des Krieges anerkannt? Und wenn Sie diese taten, dann mußten Sie auch die Mittel zur Vorbereitung des Krieges, Ihres Verteidigungskrieges bewilligen, falls Sie den Mut der Konsequenz besaßen. (Brausendes Gelächter.)
Für einen Sozialdemokraten aber gibt es keinen Krieg, wir verdammen den Krieg in jeder Form, das Abschlachten von Menschen, die uns nichts zu leide getan haben, durch Flinte und Säbel. Es ist ein Verrat unsrer heiligsten Grundsätze und Anschauungen, den Krieg so gewissermaßen zu verherrlichen und als etwas Großes, als etwas Notwendiges und Pflichtmäßiges hinzustellen. Es ist eine Schmach, denen zu Hilfe zu kommen, die im servilen Dienste egoistischer Gewalthaber auf die Fantasie unsrer Jugend irreführend, verrohend, bestialisierend einwirken. – (Orkanartiger Beifallsausbruch; achttausend Menschen jubeln dem Redner zu. Minutenlange Unterbrechung, da die begeisterte Zustimmung sich immer wieder in stürmischen Beifallskundgebungen Luft macht.)

Sie, Genosse Bebel, und alle, die dem Krieg als etwas Unabänderliches, als eine ewige menschliche Institution anzusehen scheinen, berufen sich immer auf den Verteidigungskrieg. Bei den Herren von Zedlitz, von Oldenburg, Paasche und den andern hochkonservativen und nationalliberalen Herren verstehe ich, wie sie zu diesem Argument kommen. Aber bei Ihnen, Genosse Bebel, der Sie doch das Proletariat vertreten, verstehe ich das nicht. Ist Ihnen, Genosse Bebel, denn nicht bekannt, daß wir, daß das Proletariat überhaupt nichts zu verteidigen hat, aus dem einfachen Grunde, weil es nichts besitzt?
(Gelächter. Stürmische Zustimmung.)
Wozu sollen wir denn in den Verteidigungskrieg ziehen, wozu uns nach allen Regeln der modernen Menschenvertilgungskunst en masse aus der Welt befördern lassen? Wir, der überwiegend größte Teil des Volkes, ja fast das gesamte Volk, wir haben nichts zu verteidigen. 65 von hundert Steuerzahlern der preußischen Bevölkerung sind auf ein unversteuerbares Jahreseinkommen von höchstens 900 Mark eingeschätzt. Was haben diese 65 Prozent zu verteidigen, Herr Bebel? Ihnen, diesen zwei Dritteln des Volkes, kann der Ausgang eines Krieges ganz gleichgültig sein; von der Kriegsbeute bekommt das Volk bestimmt nichts ab. Unser Leben ist Arbeit und Not, Unterdrückung und Knechtschaft. Haben wir Proletarier, wir Enterbten des Glücks, Grund auf unser Vaterland stolz zu sein, uns zu echauffieren für das Bewußtsein, preußische Heloten zu sein, die nicht mitreden, nicht mitzuraten haben, die still zusehen müssen, wie ihnen das Fell über die Ohren gezogen wird? (Stürmisches, zorniges: »Nein, nein!«)
Jawohl, wir Proletarier, wir Besitzlosen können kein nationales Gefühl haben, unsre Ausbeuter, unsre Unterdrücker sind selbst schuld daran. Wie sagten doch unsre Großmeister Marx und Engels im kommunistischen Manifest? ›Die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital, dieselbe in England wie in Frankreich, in Amerika wie in Deutschland hat ihm – dem Proletarier – allen nationalen Charakter abgestreift.‹ Jawohl, so ist es, Genossen, wir haben kein nationales, wir haben internationales Gefühl. Mit den Zedlitz, den Heyl von Hernsheim, den Stinnes und Thyssen haben wir nichts gemein, mit denen fühlen wir uns nicht eins. Wir fühlen uns eins mit unsern proletarischen Brüdern, die wie wir in Unfreiheit und hartem Frondienst schmachten, wir fühlen uns eins mit den Armen und Unterdrückten in der ganzen Welt! (Begeisterte Zustimmung.)
Die 2,99 Prozent der Steuerzahler, hört wohl, Genossen, die noch nicht ganz 3 Prozent, die ein Jahreseinkommen von 3000 bis 6000 Mark versteuern, die haben wenigstens etwas zu verlieren, etwas zu verteidigen. Und die kleine Schar von 3⁄4 Prozent der Gesamtbevölkerung, die über 9500 Mark Jahreseinkommen bis in die Millionen hinein besitzen, die Großkapitalisten, die Feudalherren, die sich den Klassenstaat als Zwingburg ihrer bevorrechteten Klasse halten, diese 2/3 prozentige Macht mag für ihr Besitztum zittern. Diese 2/3 Prozent sind die Interessenten der Flinte und des Säbels, für die das Blut im Kriege wieder einmal den Erdball färben wird. Im Interesse dieser 2/3 Prozent der Bevölkerung wird uns der sogenannte Patriotismus als Tugend gepriesen und unsern Kindern in der Schule eingebläut.
Und wenn sich auch unter unsern Brüdern und Genossen noch eine große Anzahl solcher befinden, denen immer noch nicht die Augen aufgegangen sind, die noch immer nicht wissen, wessen Geschäfte sie eigentlich besorgen, wenn sie in den Krieg ziehen, wenn es immer noch viele, viele in der Partei gibt, die sich den Patriotismus suggerieren lassen, die mit Begeisterung die Mordmaschinen bedienen und die wirklich glauben, einer heiligen Pflicht zu genügen, die sich als Helden dünken, so ist das Ihre Schuld mit, Genosse Bebel, Ihre und Ihrer Gesinnungsgenossen in der Partei und aller derer, die Ihnen zujubeln. Jawohl, Sie sind es, Genosse Bebel, der sich immer allen Bestrebungen in der Partei, die darauf hinzielten, eine zielbewußte, energische, antimilitaristische Propaganda zu machen, entgegenstellte. Sind sie nicht dem Genossen Karl Liebknecht, als er in Bremen und darauf wieder in Mannheim einen Antrag in dieser Richtung stellte, über den Mund gefahren wie einem dummen Jungen? Haben Sie sich nicht mit dem Gewicht Ihrer ganzen Persönlichkeit, Ihres Ansehens in der Partei gegen Antrag 114 des Wahlvereins Potsdam-Osthavelland gestemmt, der bezweckte, einen ständigen Ausschuß einzusetzen mit dem besonderen Auftrage, gegen den Militarismus, dieses stärkste Bollwerk des Kapitalismus, der unser Volk brutalisiert und barbarisiert, in jeder zulässigen Weise zu agitieren? Haben Sie nicht dagegen mit allem Aufgebot sittlicher Entrüstung gedonnert, als wäre die Partei in Gefahr? Unter den Gründen, mit denen Sie damals Ihren schroffen, erbitterten Widerstand gegen diesen Antrag bemäntelten, der die Aufklärung der Menge in einer der wichtigsten, nein, der wichtigsten Frage des öffentlichen Lebens überhaupt bezweckte, befand sich unter anderem dieses Argument: Ein besonderer Kampf gegen den Militarismus ist überflüssig. Auch mit unsern bisherigen Agitationen erreichen wir das, was erreicht werden muß. ›Allmählich, auf dem Wege der natürlichen Entwicklung‹, so sagten Sie einmal ungefähr, ›wachsen wir in den sozialen Staat hinein und dann gibt es keinen Militarismus mehr.‹
O, Genosse Bebel, sind Sie so kindlich anzunehmen, daß der Kapitalismus ruhig zusehen wird, wie wir in den sozialen Staat hineinwachsen? Und wie sollten wir den Kapitalismus überwinden und besiegen, solange er sich auf den Militarismus stützen kann? Nein, Genosse Bebel, solange wir nach Ihrem Wunsch den Militarismus ängstlich als ein Pflanze ›Rühr‘ mich nicht an‹ betrachten und behandeln, solange diese schneidige Waffe dem Kapitalismus zur Verfügung steht, solange ist auch dieser unbesieglich. Daß Sie das nicht erkannt hatten, Genosse Bebel, daß die Agitation gegen den Militarismus die brennendste Notwendigkeit für den endlichen Sieg des Sozialismus ist, unsre erste, höchste Aufgabe, das wiegt alle Ihre Verdienste um den Sozialismus auf. Soll ich Ihnen die Riesenentwicklung des Militarismus mit Zahlen beweisen? Sie kennen sie so gut, wie wir alle. Wohin soll es führen, wenn der Militarismus ungehindert fortfährt, die Produkte zu überwuchern und zu verdrängen, wenn alles, was der Fleiß des Volkes erwirbt, dazu dienen muß, den Militärmoloch zu füttern, wenn dem zerstörten Markte die zerstörte Justiz, das niedergetretene Recht als Begleiterscheinung der im Militarismus erdrückten Kultur folgen? Der Militarismus bringt schließlich alle Hände zur Strecke, er verschlingt zuletzt die letzte Frucht der Produktion, bis die Leiber der ausgemergelten, geknechteten, getretenen Proletarier das Massengrab unsrer zeitigen Kultur füllen. Mit Ihrer ängstlichen, opportunistischen Taktik, Genosse Bebel, wachsen wir nicht in die erstrebte Kultur hinein, wir sinken immer tiefer in das Völkergrab, das der Militarismus der Menschheit gräbt. Die Produktion, Recht und Kultur können nur im Rechtsstaatgedeihen. Ein bewaffneter Rechtsstaat ist ein Unding, eine Utopie; es hat in historischer Zeit noch nie einen Militärstaat gegeben, der zugleich Rechtsstaat war. Deshalb muß jeder, der den Rechtsstaat vertritt, zu allererst den Militarismus beseitigen. …..

Nun sehen Sie ja, Genosse Bebel, die Folge Ihrer Taktik, Ihrer zarten Rücksichtnahme auf die Gefühle unserer politischen Gegner, Ihrer ängstlichen Scheu, dem Militarismus zuleibe zu gehen, nun haben wir den Krieg. Sie, Genosse Bebel, Sie und alle, die sich in blindem Götzendienst Ihrer Autorität gefügt haben, sind Mitschuldige an diesem Kriege, an dem ungeheuren Blutvergießen, an dem namenlosen Elend und Jammer, an Verwüstung und Greuel allerart, die die Welt bald sehen wird, Sie sind mitschuldig an dem Tod der Hunderttausende, die bald in der gräßlichen Waffenschlächterei, die man Krieg nennt, zugrunde gehen werden.«
Starke anhaltende Bewegung. Bebel und die anderen anwesenden Abgeordneten springen entrüstet auf und protestieren durch Gebärden und Rufe, die in dem ungeheuren Tumulte niemand hört. Viele der Arbeiter unten im Saal stürzen in wildester Erregung gegen die Tribüne vor mit heftigen, wütenden Gebärden gegen die auf der Tribüne stehenden Abgeordneten. Der anwesende Polizeileutnant greift nach seinem Helm. Der Vorsitzende schwingt aus Leibeskräften die Klingel und macht durch eine bezeichnete Geste die Versammlung auf die Gebärde des Polizeibeamten, der mit der Auflösung der Versammlung droht, aufmerksam. Die Aufregung legt sich rasch und der Redner fährt fort.
»Jedenfalls, Genosse Bebel, haben Sie und Ihre Fraktionskollegen sich einer groben Pflichtversäumnis schuldig gemacht, ja, Sie haben Ihre Pflicht als Vertreter der Partei, als Vertreter des überwiegend größten Teiles des deutschen Volkes mit Füßen getreten. Wir haben von Ihnen nicht erwartet, daß Sie offnen Widerstand gegen Staatsgesetze proklamieren. Wir halten niemand ab, seiner gesetzlichen Dienstpflicht zu folgen. Aber, was Sie hätten tun können, ja, tun müssen, das wäre gewesen, der Regierung zu erklären, daß wir, daß unsere Genossen nur gezwungen in den Krieg gehen, nicht aus eigenem Verlangen, aus eigenem Empfinden, sondern nur weil sie müssen, weil sie nicht anders können. Mit aller Kraft und Entschiedenheit hätten Sie gegen den Krieg protestieren, hätten Sie die verlangten Mittel zur Kriegsführung ablehnen müssen, anstatt sich inkonsequent, in nichtsnutzigem Opportunismus der Abstimmung zu entziehen. Sie hätten der Regierung sagen müssen: Gut, wir gehen in den Krieg, wenn es sein muß, aber unlustig, widerwillig gehen wir. Das Volk verabscheut den Krieg, das Volk will keinen Krieg mehr. Und die Regierung, die sehr wohl weiß, daß sichmit einem Heer, das nicht mit Begeisterung, aus innerster Überzeugung in den Krieg zieht, keine siegreichen Schlachten schlagen lassen, wäre vielelicht wankend geworden und wäre im letzten Augenblick doch noch vielleicht vor dem Kriege zurückgeschreckt. Sie aber haben nicht nur gegen uns, das Volk, pflichtvergessen gehandelt, Sie haben auch die Regierung getäuscht, Sie haben sie getäuscht durch Ihr Verhalten, durch Ihre lahmen, lauen Erklärungen, Sie haben sie nicht aufgeklärt über die wahren Empfindungen des Volkes, Sie haben der Regierung nicht gezeigt wie tief in unseren Seelen der Abscheu vor dem Kriege ist, davon haben Sie die Regierung nicht überzeugt, weder im Reichstage, noch durch Ihr Verhalten auf den Parteitagen in Bremen und in Mannheim. Das ist Ihre Schuld, die Sie nicht mehr sühnen können, nie – nie! (Tosender, langanhaltender Beifall, der die Proteste der anwesenden Abgeordneten immer wieder erstickt.)
Und nun zuletzt muß ich Ihnen, Genosse Bebel, auch noch den Vorwurf machen, daß Sie sich gegen die Parteidisziplin, die Sie doch gegen Andersdenkende immer so streng gewahrt wissen wollen, schwer vergangen haben. Auf dem internationalen Sozialistenkongreß zu Paris im Jahre 1900 ist von den Legaten einstimmig, die deutschen Vertreter eingeschlossen, erklärt worden: 1. daß es nötig ist, daß die Arbeiterpartei in jedem Lande mit verdoppelter Macht und Energie gegen Militarismus und Kolonialpolitik auftrete; 2. daß es vor allem unbedingt notwendig ist, die weltpolitische Alliance der Bourgeoisie und Regierungen zur Verewigung des Krieges durch eine Alliance der Proletarier aller Länder zur Verewigung des Friedens zu beantworte. – Sie, Genosse Bebel, haben sich immer gegen die Ausführungen dieser Erklärungen gestemmt, indem Sie wiederholt behaupteten, daß in der Frage des Militarismus nicht in Übereinstimmung mit dem Proletariat andrer Nationen vorgegangen werden könne, daß sie vielmehr national in jedem Lande für sich gelöst werden müsse.
Der internationale Kongreß in Paris 1900 hat ferner einstimmig beschlossen: 1. daß die sozialistischen Parteien überall die Erziehung und Organisierung der Jugend zum Zweck der Bekämpfung des Militarismus in Angriff zu nehmen und mit größtem Eifer zu betreiben haben. Wie leidenschaftlich, ja, wie mit förmlich wütendem Eifer Sie, Genosse Bebel, jeden Versuch bekämpft haben, den Beschluß des internationalen sozialistischen Kongresses von 1900 in Deutschland zur Ausführung zu bringen, das habe ich schon vorhin dargelegt. Im Gegenteil, Sie, Genosse Bebel, Sie schwärmen ja für die allgemeine Volksbewaffnung, für eine Volkswehr und wollen, daß schon die Jugend in den Schulen militärisch gedrillt wird. (Brausendes Gelächter. Zuruf: »Das fehlte uns gerade noch!«)
Auf dem internationalen Kongreß in Paris wurde ferner beschlossen, daß die sozialistischen Vertreter in allen Parlamenten unbedingt gegen jede Ausgabe des Militarismus, Marinismus oder de Kolonialexpeditionen zu stimmen verpflichtet sind. Auch gegen diesen Beschluß haben Sie, Genosse Bebel, und Ihre Fraktionskollegen wiederholt, bei den Herero-Krediten und jetzt wieder, gehandelt. Und wegen dieser doppelten, schweren Verfehlung, in erster Linie wegen des schmachvollen, unentschuldbaren Versagens im Kampfe gegen den Militarismus beantrage ich, daß wir dem Genossen Bebel und den andern Mitgliedern unsrer Reichstagsfraktion unsre schärfste Mißbilligung aussprechen, daß wir ihnen ein Mißtrauensvotum erteilen.«
Ein ungeheurer Tumult entstand. Bebel sprang voll Entrüstung und Zorn auf. Noch nie, solange er in der Partei war, hatte man gewagt, ihm in dieser Wiese gegenüberzutreten, durch lange Jahre hindurch hatte er sich gewöhnt, sich gewissermaßen als Diktator der Partei zu fühlen, jedenfalls hatte er wieder und wieder den Beweis erhalten, daß ihn das Gros der Genossen geradezu vergötterte, daß er sicher sein konnte, bejubelt zu werden, sobald er nur den Mund auftat. Ja, er hatte wiederholt erlebt, daß, wenn auch gelegentlich einem seiner Widersacher unter den jüngeren radikaleren Elementen oder auch aus revisionistischen Kreisen von der Versammlung Beifall gespendet wurde, er nur persönlich aufzutreten brauchte, um allen Widerspruch zum Schweigen zu bringen. Noch immer war jeder Angriff gegen ihn aus Parteikreisen von ihm abgeschlagen worden, noch immer hatte zuletzt die Majorität der Genossen ihm zugejubelt und sich seiner Ansicht, seiner Autorität gefügt. Und so würde es auch diesmal sein. Wenn er nur erst zum Sprechen kam, er würde die Törichten, Irregeleiteten, Wankelmütigen durch die Macht seiner Rede, durch den nie versagenden Zauber seiner Persönlichkeit zu sich zurückzwingen.
Er winkte dem Vorsitzenden, daß er reden wollte. Der Genosse schwang auch aus Leibeskräften die Klingel, aber in dem Lärm der wild durcheinanderschreienden Genossen war es unmöglich, sich Gehör zu verschaffen.
Da trat der greise Volkstribun, der schon so manche wilde Aufregung durch seine bloße Erscheinung beschworen hatte, ganz dicht an die Rampe der Tribüne, beugte sich vor und blickte scharf, tadelnd zur Menge hinab und winkte mit beiden Armen, ihm das Wort zu erteilen.
Aber wunder, diesmal wirkte seine Popularität nicht, der Zauber schien gebrochen; die tobende Menge wollte seine Autorität, das gottähnliche Ansehen, das er immer genossen, nicht mehr anerkennen. Die Erbitterung, die sich im Laufe der Jahre doch bei vielen radikalen Elementen über seine schroffe Ablehnung der antimilitaristischen Anträge angesammelt hatte, der Unwille über die Abgötterei, die mit dem Führer in der Partei getrieben worden war, der ärger über den Autoritätsdünkel, den er manchmal in verletzender Weise hervorgekehrt hatte, brach mit elementarer Gewalt durch. Das Johlen und Schreien nahm kein Ende.

Da machte der überraschte, bitter enttäuschte greise Volkstribun eine heftige, zornige, verachtungsvolle Gebärde gegen die zu ihm Hinaufschreienden. Der Sturm der Entrüstung, zu der die scharfen Angriffe des Referenten die versammlung angestachelt hatten, wuchs zum Orkan. »Nieder mit Bebel! Volksverräter! Feigling!« und andere wilde Schreie flammender Empörung drangen zu dem entthronten Diktator hinauf.
Und mit wütender Gebärde drang man gegen die Tribüne, gegen den erbleicht Zurückwankenden vor.
Da griff der Polizeileutnant nach seinem Helm und stülpte ihn auf sein Haupt.
»Die Versammlung ist aufgelöst!« schnarrte er in dem üblichen Kommandoton. […]

[soweit der faszinierende Roman bis hierher auf Seite 104; er endet dann auf Seite 275]

13.05.2024 [Abbildungen: koka-augsburg: Archiv]
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Kampf gegen Umweltzerstörung

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Wie bekämpft man das Umweltdesaster?

 

„Manche sagen, ich solle lieber in die Schule gehen. Manche sagen, ich solle lernen und Klimaforscherin werden, damit ich »die Klimakrise lösen« kann. Aber die Klimakrise ist bereits gelöst. Alles, was wir tun müssen, ist, aufzuwachen und etwas zu ändern.“ (Greta Thunberg, 31.10.2018 in London)

Marx war zwar nicht der erste*, der die Natur unter gesellschaftwissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet hat, allenfalls der erste für das Zeitalter des Kapitalismus. Wie selbstverständlich hat er die natürliche Umgebung des Menschen und ihn selber dargestellt als von ihm selber gestaltet: Er, der Mensch, also nicht Spielball der Naturgewalten ist, sondern deren Beherrscher. Und es ist klar, daß heute bzw. eben auch schon zu Marx‘ Zeiten längst nicht der Mensch als solcher Beherrscher der Natur ist, sondern er selber ein Spielball, nämlich der von ihm ins Leben gerufenen »Sachzwänge«. Am Anfang der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften war es noch so wie Marx als Notwendigkeit eben solcher feststellt: »Nicht das tropische Klima mit seiner überwuchernden Vegetation, sondern die gemäßigte Zone ist das Mutterland des Kapitals.«**
Und Marx hat in seiner Analyse des Kapitals eine weitere Notwendigkeit des Interesses an Verwertung von Kapital herausgefunden: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«***  Die Sorge bezüglich der Untergrabung der Natur einschließlich des Klimas hat als solche etwas Ideologisches an sich, dann nämlich, wenn sie nicht auf die kapitalistische Produktionsweise zurückgeführt wird. Wenn es heißt »der Mensch — das Schwein«, der Mensch, der so rein biologisch ja gar nicht tätig ist. Er betätigt sich allenthalben als Charaktermaske (Marx) gesellschaftlich etablierter und institutionalisierter Interessen. Der Mensch ist eben Staatsmann (Politiker), Kapitalist, Lohnarbeiter oder in anderer Form Funktionsträger der Gesellschaft. Als solche dürfen und sollen »die Menschen« sich betätigen, ihre Dienste (am Sachzwang, versteht sich!) einbringen. Gegen den gesellschaftlich sachzwanghaften Zusammenhang — der einer der monopolisierten Gewalt, eben eines Staates, ist, — Einspruch zu erheben, ist weder vorgesehen noch erwünscht noch gar zugelassen.
Klimasorgen zu ventilieren muß, soll und kann kein Einspruch gegen die herrschenden Verhältnisse sein, sondern umgekehrt, Sorgen eben dieser Verhältnisse zur Aufrechterhaltung ihrer selbst ernst zu nehmen: Als ob es sich nicht von selber verstünde, daß die Verhinderung der Zerstörung nicht den Verursacher retten kann. Oder anders ausgedrückt: Wem es um die Rettung des Kapitalismus geht, der nimmt die Zerstörung unweigerlich in Kauf. Die Zerstörung der Natur ist dann nichts anderes als eine geheuchelte Sorge. Diese Sorge paßt zu den maßgebenden Charaktermasken kapitalistischer Dogmata allen voran dem der Freiheit des Kapitals. An Zynismus ist diese Heuchelei nicht zu überbieten. Ja, es ist wirklich geradezu unangenehm, feststellen zu müssen, daß Kritiker der Klimaveränderung und der sonstigen Umweltzerstörung so naiv sind, daß sie sich an solche dem kapitalistischen Zwang verpflichteten Figuren wenden und mitunter von jenen gar einladen lassen. Und man merkt, wie sie sich so gar nicht wohlfühlen, gar nicht wohlfühlen können in deren unheimlichen Gesellschaft, in dieser Gesellschaft von scheißfreundlich sich gebenden Funktionärstypen.

Und es ist nicht so, daß das kapitalistische Empire nicht »Mißvertändnisse« zu kreieren weiß, 1. Beispiel:
Unverdrossen wird daran festgehalten, daß das kapitalistische Management, die Resultate ihrer Wirtschaft in den Griff bekommen kann: So lobt Jason Clay vom World Wildlife Fund for Nature einen Konzern: »Mars hat sich in Sachen Nachhaltigkeit verpflichtet, im Bereich Meeresfrüchte nur zertifizierte Produkte zu kaufen. Erstaunlicherweise kauft Mars mehr Meeresfrüchte als Walmart, weil sie Tiernahrung herstellen. Und sie machen wirklich interessante Sachen im Bereich Schokolade. Und all das kommt daher, daß Mars auch in Zukunft im Geschäft bleiben will. Sie verstehen, daß sie die Schokoladenproduktion verbessern müssen. Deshalb sequenzieren sie das Genom der Kakaopflanze, zusammen mit IBM und dem US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium. Sie wollen, daß man ihnen hilft, nachhaltig zu werden. Jetzt ist ihnen klar geworden, daß sie 320 Prozent mehr Kakao auf 40 Prozent weniger Land erzeugen können, wenn sie die genetischen Merkmale für Wachstum und Dürretoleranz identifizieren können. Das übrige Land kann dann für etwas anderes benutzt werden. Das heißt: mehr mit weniger oder noch mal weniger. So muß die Zukunft aussehen!« Und Rob Wallace bemerkt dazu: »Keine Hilfe bei seinem Streben nach Nachhaltigkeit will Mars allerdings von den Tausenden von Kindern, die für seine Zulieferer in Ghana und der Elfenbeinküste unter sklavenartigen Bedingungen Monokultur-Kakao anbauen. Beziehungsweise von den Tausenden Vertragsbauern dort, die in bitterer Armut leben und von dem Unternehmen keine Fairtrade-Preise erhalten. Jason Clay verteidigt Cargill und Mars mit dem Argument, die Agrarindustrie sei am besten in der Lage, Effizienzgewinne in der landwirtschaftlichen Produktion zu erreichen, um den Ressourcenverbrauch zu senken. Diese Annahme ist das zentrale Glaubensbekenntnis des grünen Kapitalismus. Aber sie ist bestenfalls ahistorisch und läßt die umfassende Zerstörung außer acht, die die Monokulturen der Agrarindustrie hervorgebracht haben. Ihre Effizienzgewinne werden häufig mit Einbußen an anderer Stelle erkauft, darunter so sentimentale 'Fixkosten' wie Menschenrechte, Gesundheit, Löhne und, um einen reduktionistischen Begriff zu verwenden, Ökosystemdienstleistungen.«****
2. Beispiel:
Die in der G7 versammelten imperialistischen Staaten wissen, daß die Aufrechterhaltung zum einen auf (frei)willigen Mitmachern beruht, zum anderen dies durch einen einsatzbereiten Gewaltapparat abgesichert werden muß. Deshalb versuchen diese Staaten mit ihren Geheimdiensten und mit ihnen verpflichteten Nichtregierungsorganisationen (NGO) in den Staaten Einfluß zu nehmen, wo es ihnen gerade nötig erscheint. Da keinen sie kein Tabu. Sozial- und Ökoorganisationen werden unterstützt und gegen unerwünschte Regierungen aufgehetzt. In Nicaragua beispielsweise führte die Bewegung insbesondere
gegen das neue Kanalprojekt 2017 (finanziert von einem chinesischen Konsortium) zu Antiregierungsdemonstrationen, die dann 2018 anläßlich einer Rentenreform neu aufflammten. Die Demonstranten hatten sich dabei den falschen Adressat auserkoren: Jene anschließend zurückgenommene Reform war nämlich einem der berühmten IWF-Diktate geschuldet, womit die Vasallen des Imperialismus auf Kurs gehalten werden sollen. All diese Proteste führten dann zwar nicht zum Sturz der bei nachfolgenden Wahlen mit überwältigender Mehrheit bestätigten sandinistischen Regierung, wohl aber zu ihrer Diffamierung und Dämonisierung dieser durch die medialen Agenturen der Weltaufsichtsbehörden. Die FSLN weiß jedoch aus bitterer Erfahrung um die Verlogenheit der Behauptungen insbesondere aus den USA, die Umwelt und Mensch — gerade den nicht oder nicht länger ausbeutungsfähigen — als lästiges Vehikel ihrer Verwertungsmaschinerien betrachten. Für die Ortega-Regierung ergab sich freilich ein praktisches Problem beim Umgang mit den Demonstranten: Rädelsführer und naive Mitläufer mußten erst sortiert werden; letztere wurden freigelassen, erstere blieben inhaftiert und wurden später in ihr gelobtes Land ausgeflogen. Konsequenterweise wurden 2022 eine ganze Anzahl von NGOs verboten, Organisationen, die so »selbstständig« sind, daß sie vom imperialistischen Ausland finanziert werden.
3. Wie das imperialistische Vorgehen System hat, zeigt ein weiteres Beispiel:
In Tansania und Uganda soll eine neue Ölpipeline gebaut werden, um die Energieversorgung in küstenfernen Gebieten zu verbessern, ein Projekt, das von China mitfinanziert und -gebaut werden soll. Nun hat die Klimaorganisation »Letzte Generation« sich gegen dieses Projekt ausgesprochen*****, also ganz im Sinne der tonangebenden Staaten, die ihren Einfluß auf dem afrikanischen Kontinent schwinden sehen. Man muß nicht soweit gehen, um zu glauben, daß jene Organisation schon von staatlichen Stellen unterwandert ist. Doch umso schlimmer ist die schier unglaubliche Naivität, ihr offenbar völlig fehlendes poltisches Bewußtsein! Vom Zynismus, daß afrikanische Staaten das nicht haben sollen, was hierzulande selbstverständlich schon lange vorhanden ist, mal ganz abgesehen.
Und schließlich 4.
»Seit dem Beginn des Jahrhundert ist die Durchschnittstemperatur in meinem Land, dem Tschad, um mehr als 1,5° C angestiegen. Für die meisten Länder Afrikas gilt das gleiche. Unsere Bäume brennen. Unsere Wasservorkommen versiegen. Unsere fruchtbaren Äcker verwandeln sich in Wüste. Als indigene Frau lebte und arbeitete ich mit meiner Gemeinschaft stets im Einklang mit der Natur. Die Jahreszeiten, die Sonne, Wind und Wolken waren immer unsere Verbündeten. Inzwischen sind sie zu Feinden geworden,«******
Es liegt auf der Hand, daß die zerstörte Natur, die zerstörten Lebensbedingungen des Menschen selber zu den Fluchtursachen gehört, von denen die imperialistischen Staaten am liebsten nichts wissen wollen: So werden auch die restriktiven Maßnahmen begreifbar: Sie sind ihrer Ignoranz gegenüber den Ergebnissen ihrer eigenen Politik geschuldet. Der Rassismus, der mit den Flüchtlingen gefüttert wird, ist somit ein unabtrennbarer Teil der kapitalistischen Weltordnung und damit der Umweltzerstörung.  

Und wenn man dann folgendes liest,
»Wissenschaftler aller Disziplinen sind sich einig, daß die Menschheit vor einem Abgrund steht. Der Klimawandel, die Versauerung der Ozeane, die Wasser- und Luftverschmutzung, Nitrat- und Fosfatbelastung, Störungen der Ozeanströmungen, all diese Elemente des Erdsystems haben entweder Kippunkte bereits überschritten oder nahem sich ihnen rasch an. Die drängendsten ökologischen und sozioökologischen Probleme sind die Zerstörung der Habitate, der Verlust biologischer Vielfalt, kollabierende Ökosysteme, neue Krankheiten, die Erschöpfung von Ressourcen, Peak Oil und zunehmende Schwierigkeiten bei der Energiegewinnung insgesamt, die Eutrofierung. der Gewässer, der Kollaps der Ozeane, die Verschlechterung der Bodenqualität, die Anreicherung von Giftstoffen in der Umwelt und natürlich die Klimaveränderungen. All das bedroht viele Pflanzen und Tierpopulationen, ohne die unsere Gattung nicht überleben kann. Die Umweltschäden sind nicht auf einzelne Biome beschränkt, sie haben globale Ausmaße….«
fragt man sich dann etwa nicht: Weshalb? Wollen jene Wissenschaftler dem Kapitalismus partout kein Haar krümmen? Sind für sie die westlichen Industriestaaten nach wie vor die richtige Adresse, an die sie ihren Aufschrei richten? Hat die Feststellung eines Mißstandes auch schon irgendetwas mit Kritik zu tun? Oder ist es nicht viel mehr eine Bestätigung der Politik, die mit nicht enden wollenden der Umwelt geschuldeten Konferenzen den status quo perpetuiert? Wird in Afrika beispielsweise der Hunger nicht schon seit der Entkolonisierung um 1960 bekämpft, ohne daß er beendet wurde? Ist das Umweltdesaster nicht schon in den 1970er Jahren breit bekannt geworden, ohne das sich daran etwas geändert hätte? Zeigt sich jetzt etwa nicht, daß Marx mit der Analyse des Kapitals nicht schon einen ganzen Schritt weiter war, die Katastrofe und ihr Ausmaß in eben dieser seiner Schrift als notwendig antizipierend?

02.05.2024,
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__________
* »Er [(Karl Nikolaus) Fraas, 1847] behauptet, daß mit der Kultur – entsprechend ihrem Grad – die von den Bauern so sehr geliebte Feuchtigkeit verlorengeht (daher auch die Pflanzen von Süden nach Norden wandern) und endlich Steppenbildung eintritt. Die erste Wirkung der Kultur nützlich, schließlich verödend durch Entholzung etc. Dieser Mann ist ebensosehr grundgelehrter Filolog (er hat griechische Bücher geschrieben) als Chemiker, Agronom etc. Das Fazit ist, daß die Kultur – wenn naturwüchsig vorschreitend und nicht bewußt beherrscht (dazu kommt er natürlich als Bürger nicht) – Wüsten hinter sich zurückläßt. Persien, Mesopotamien etc., Griechenland.« [Marx an Engels, MEW 32, S. 52]
** Kapital, Band 1, MEW 23, S. 536
*** Kapital, Band 1, MEW 23, S. 529. Das Wörtchen »daher« verweist auf Marx' ausführliche Begründung dieser Notwendigkeit!
**** in: Rob Wallace, Was Covid-19 mit der ökologischen Krise , dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat, 2021 (2. A.), S. 125
***** (Pressemitteilung vom 18.03.24)
****** Hindou Oumarou Ibrahim, in: Carola Rackete, Handeln statt Hoffen, 2019, S. 10

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journalismus heute

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Journalismus heute eine Säule des Staates:
Der Erfolg der Nation ist unser Anliegen und unser Maßstab!

 

Die deutschen Massenmedien zeichnen sich durch eine perfekte Mischung von Fakten mit den Grundlagen der deutschen Staatsinteressen und der daran geknüpften Staatsräson aus. Und zwar so: Einerseits besteht ja ihre Hauptfunktion darin, die Staatsräson mit Fakten anzureichern. Das erklärt die entsprechende Auswahl dieser.
Andererseits werden, so man an unpäßlichen Fakten nicht vorbeikommt, diese entsprechend klassifiziert: Entweder werden sie als nicht »unabhängig« überprüfbar eingeordnet, oder sie werden dis- und abqualifiziert, als Feindpropaganda, als Verschwörungstheorie, als Absurdität; kurz, sie werden keiner weiteren Befassung oder gar Prüfung für wert erachtet.

Verschwörungstheorien, faschistische Tendenzen kein brisantes Thema, das nicht angesprochen wird: Doch wie? Der Grund interessiert überhaupt nicht! Wenn Klage darüber geführt wird, dann allein über etwaige Folgen und ansonsten hat es sein Bewenden. Es entsteht ein Schein völliger Grundlosigkeit, welcher aufgrund der Voreingenommenheit zwangsläufig zutage treten muß. Folgen sollen und dürfen solcherlei unerwünschte Tendenzen natürlich nicht zeitigen. Wobei ein Vorteil der Demokratie zum Tragen kommt: Solche sind in der Opposition und sind dazu verdammt, dort und unter Kontrolle zu bleiben. Und als eben solche beweisen sie die Toleranz der machthabenden Elite: Sie droht Widersachern einerseits Maßnahmen an, so jene es mit ihren Praktiken für den Geschmack der politischen Elite zu weit treiben, andrerseits lobt sie sich selber für die Lebendigkeit und unvergleichlichen Offenheit ihrer Demokratie, die solches erlaubt. Eine Wahlbeteiligung von Faschisten ist zugelassen, vorausgesetzt, daß sie dann brav die ihnen zugewiesenen Oppositionsbänke einnehmen und auf diese Weise Staatsform und herrschende Staatsräson bestätigen.

Das Wunderbare am etablierten Journalismus ist, daß er sich als »objektiv« geben kann, indem er die herrschende Staatsräson und die von ihr geschaffenen Verhältnisse als unumstößlich zu propagieren beliebt und gerade auf dieser Grundlage gleichzeitig total kritisch mit der Staatsräson und Unternehmungen anderer Staaten sowie mit anders gearteten Vorstellungen im eigenen Land umzugehen pflegt. Es liegt somit eine gezielte Verwechselung von Parteinahme mit Objektivität vor.

Innerstaatliche Kritik beschränkt sich seitens des Journalismus hauptsächlich auf die Personen, denen die Staatsräson und damit die Staatsgeschäfte obliegen: Erfüllen jene diese anspruchs- und verantwortungsvolle Aufgabe, den Staat in der Hierarchie der Staaten aufsteigen zu lassen oder versagen sie darin. In dieser Hinsicht werden regelmäßig Wahlen und Wahlkämpfe zu einem Tages- und Titelthema, dem sich niemand verschließen können soll, so wenig einer auch ansonsten mit Politik befaßt ist.

Wie man sieht, ist Journalismus nur in einer Hinsicht schwer, nämlich das immer gleiche Thema erneut breit auszuwälzen und mit »Hintergrundberichten« aus dem alltäglichen Leben sowie mit Bonmots aus der Westentasche zu würzen. Unabdingbare Voraussetzung ist allerdings, die Staatsräson wie Muttermilch eingesogen zu haben, so daß es unmöglich ist, auch nur einen Augenblick an ihr irre zu werden. Der Blödsinn kann zum Himmel stinken, wenn er nur ins Weltbild so verantwortungsvoller Journalisten paßt.

Mittlerweile sind Zeiten angebrochen, in denen dem »freien Wort« das »agenda setting« etwas abhanden gekommen ist: Die feinen Propagandaagenturen sehen sich gezwungen, auf Fakten zu re-agieren, die vor allem andere Staaten setzen. Eine etwas ungewohnte Position sicherlich, aber kein Grund zum Zweifeln oder gar zum Verzweifeln. Im Gegenteil: Jetzt ist Härte gefragt, standhalten, die politischen Instanzen zu eben dieser Unnachgiebigkeit aufzufordern, deren Inkarnation sie selber als 4. Macht im Staate sind. Die Affronts insbesondere gegenüber Rußland, China und dem Iran zeugen davon. Im Falle Rußland ließ nach jahrelanger Vorarbeit endlich ein Stellvertreterkrieg als unumgänglich lancieren, so als hätten Politik und Journaille aus dem 3. Reich gelernt, daß man nicht alles selber machen muß, was andere für einen erledigen können. Was ja auch den Vorteil hat, daß das eigene Land als quasi unbeteiligt nicht bombardiert wird. Natürlich verlangt eine solche Aktion jede Menge Propagandaarbeit. Hat der damalige Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, in seiner geschichtsträchtigen Rede vom 18.02.1943, in der er die Zustimmung des Volkes zum totalen Krieg einforderte, hat eben dieser damals vom »Angriffskrieg der Bolschewisten« gesprochen — und damit (soweit bekannt) erstmals den Begriff Angriffskrieg in die Welt gesetzt —, so spricht man auch heute wieder von einem Angriffskrieg, dem der Russen selbstredend. Diese Sprachregelung wurde landesweit ganz freiwillig zur Rechtfertigung eines Krieges durchgesetzt. Wie hätten Hitler, Heß, Himmler und ihre Horden sich gefreut, könnten sie sehen, wie ihr antirussisches Feindbild nach wie vor so tief in den deutschen Eliten verankert ist – noch dazu ganz ohne sozialistische Verschleierung des »slawischen Untermenschentums«!

Der Dreh der Propganda dabei hat System: Man abstrahiert ein Ereignis von all seiner Vorgeschichte und seinen zugrundeliegenden Interessen. Anders sind moralische, rechtfertigende Urteile, Verurteilungen ja schwerlich zu haben. Das gilt für den 7. Oktober 2023 wie für den 24. Februar 2022 wie auch für viele frühere.

Der demokratische Journalismus kann also ganz unbekümmert den staatlichen Ansprüchen Genüge tun. Die Einteilung der Welt in Gut & Böse ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wobei »Wir« natürlich immer die Guten sind und das Gute wollen, während die anderen »uns« aufgrund ihrer Natur oft nichts als Schwierigkeiten machen, wenn sie nicht kapieren wollen, was »wir« von ihnen wollen und welchen Platz in »unserer« Welt »wir« ihnen zugewiesen haben. So werden die anderen Staaten eingeteilt: Einerseits in mehr oder weniger nützliche Vasallenstaaten, bei denen es erwiesenermaßen unerheblich ist, ob sie eine demokratische Staatsform aufweisen oder nicht. Auf der anderen Seite Staaten, die sich mit eigenen Interessen uns widersetzen, wobei sie noch so demokratisch sein können, wie sie wollen, es nützt ihnen gar nichts, sie gelten von vorneherein als Diktatur. In jenen Staaten wird dann nach »unseren« Leuten gesucht, Führerpersönlichkeiten, denen man zutraut, eine »Revolution« zu vollbringen. Eine wahrlich anspruchsvolle Aufgabe, wie man an den wenigen Typen sieht, die dann »investigativ« gefunden werden: ein Nawalny, ein Guaidó und ähnliche, die man, kennt man deren Äußerungen, bestenfalls als Wirrköpfe bezeichnen kann. Bisweilen gelingt es den USA und ihrem Anhang, einen solchen als Staatschef auch zu etablieren wie zum Beispiel den Fernsehkomiker in Kiew.

Nunmehr stellt sich die Frage, für wen diese Sorte »Aufklärung« gedacht ist. Unterschiedslos für alle Klassen der Bevölkerung, wenngleich dosiert nach Verträglichkeit, da gibt es eben kurz gehaltene Nachrichten für die einfachen Massen und ausführlichere, mit »Hintergründen« beleuchtete für die besseren Schichten; mittlerweile werden Zeitungen gar in die Schulen getragen, damit die gewünschte Art Bildung vorankommt.
Unterschiedliche Formate von Zeitungen, Magazinen und Sendungen ergeben dann das, was nach allgemeiner Ansicht als »Meinungspluralismus« in hohen Ehren steht. Schwarz-rot-golden sind sie, so bunt sie sich geben, hierzulande alle. In dieser Hinsicht radikal trachten sie danach, sich gegenseitig in ihren Vorurteilen, Verurteilungen wie hoffnungsvollen Vorhersagen zu überbieten.

Der sich allenthalben ergebende interessierte Ausblick auf die zukünftige Entwicklung des umsorgten Staates inklusive seiner Wirtschaft ist so erfolgsorientiert wie daher auch radikal: Was für den Erfolg von Staat und seiner Wirtschaft getan werden muß, duldet weder Aufschub noch Widerrede, erfordert vielmehr eine total konstruktive Diskussion: Deshalb die schier endlosen Interviews und Talkshows mit Politikern und anderen Größen der Gesellschaft: Das ist sich die Meinungsbildner einfach schuldig.

Völlig klar dabei ist, wer die Kosten des anspruchsvollen Staatsprogramms zu tragen hat. Die arbeitende Klasse kommt daher nur sehr am Rande zu Wort und auch nur dann werden Leserbriefe abgedruckt, wenn sie einen konstruktiven Beitrag für die Debatte der maßgebenden Elite vorstellig machen, was selbstredend im Ermessen der Redaktionen liegt.

Die ständigen Anspruchssteller sind nicht die »kleinen Leute«, sondern stets die Vertreter des Kapitals. Die müssen keine Leserbriefe schreiben, um zu Wort zu kommen. Die werden in großen Artikeln und Interviews regelmäßig präsentiert als die, auf die es ankommt. Wenn es freilich um die nationalen Belange schlechthin geht, wenn die in ein Desaster zu geraten drohen (wie etwa im Falle des Vietnam-Krieges), dann muß auf das viel umworbene Investorengeschmeiß auch mal geschissen sein, wie es der Film von Steven Spielberg »Die Verlegerin« (2017) so schön vorführte. Allerdings ist die Washington Post seit 2013 in Besitz des Börsenlieblings Bezos, womit sie sicherlich nicht in ein solches Dilemma geraten wird. [Jener jeden national begeisterrten Demokraten schier zu Tränen rührende Film wurde übrigens völlig kritiklos von der staatsaffinen deutschen Presse — Springer, Spiegel, FAZ, WAZ, taz, Süddeutsche etc. — einhellig beklatscht.] Julian Assange und Edward Snowden hingegen wird eine staatsdienliche Rolle abgesprochen.

Die »kleinen Leute«, die Arbeiterklasse ist daran gewöhnt worden, alles zu schlucken, was ihr an Belastungen aufgebürdet wird. Die Medien werden in dieser Hinsicht ihrer Vermittlungsaufgabe gerecht. Bei allen für dringend notwendig erachteten Belastungen, sollen sie an die Nöte des Staates denken und die eigenen hintanstellen. Darüber hinaus sorgen die Meinungsmacher für die gute Stimmung und den Optimismus, der die Leute, die notgedrungen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen — und sei es auch als »Selbständige« ausgelagert an sich selber —, in der Tretmühle der Arbeit hält.

Noch was: Was hat den Staat getrieben, als er die »Pressefreiheit« in seiner Verfassung verankert hat? Vom heutigen Standpunkt aus, hätte er das sicher nicht tun müssen, wirft man einen Blick auf die Säule der Republik, die sich selber tagaus tagein gerade deshalb als »Qualitätspresse« lobt. Der Staat hätte noch nicht einmal zusätzlich staatliche Verlautbarungskanäle, sogenannte öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten einrichten müssen. Damals freilich, wenige Jahre nach Ende der faschistischen Herrschaft war eine solch positive Entwicklung nicht abzusehen. Im Gegenteil wurde nicht ohne Grund befürchtet, daß es einen Rückfall in ein erfolgloses Staatsprogramm geben könnte, denn zweifellos spukte Diesbezügliches noch in allzu vielen deutschen Köpfen herum. Heute entsprechen sich Pressefreiheit und Journalismus so, daß sie sich wechselseitig aufeinander berufen können. 

27.01.2024
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herbert marcuse interview

koka
 

Interview mit Herbert Marcuse 1968

aus: Pardon, 12/1968
 

PARDON: Herr Marcuse, Sie sind durch Ihre Bücher und Stellungnahmen einer der geistigen Väter der »Neuen Linken« geworden, für viele sogar der profilierteste, um nicht zu sagen der Profet. Fühlen Sie sich in Ihren Prognosen und Analysen durch die Mai-Unruhen dieses Jahres in Frankreich bestätigt?

MARCUSE: Ich habe seit 1964 auf die Bedeutung der Studentenbewegung hingewiesen und gesagt, daß nach meiner Meinung da viel mehr und ganz anderes vorliegt als ein Generationskonflikt, wie er aus der Tradition ja nur zu gut bekannt ist; daß hier wirklich politische Momente aktiviert werden, die gerade deswegen, weil sie in keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse aktiviert sind, gerade deswegen, weil eine wirklich organisierte Opposition auf der Linken fehlt, in der Studentenbewegung konzentriert sind. Ich habe außerdem darauf verwiesen, daß die Integration der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten am meisten fortgeschritten ist, während sie in Frankreich und Italien immer noch zu einem großen Teil aussteht. In dieser Beziehung also war ich nicht überrascht, daß gerade in Frankreich diese Studentenbewegung nun wirklich zu einer großen politischen Bewegung geführt hat. Vorausgesehen habe ich sie natürlich nicht, und ich glaube, es hat sie niemand vorausgesehen. Nicht einmal die Führer der Studentenbewegung konnten oder haben vorausgesehen, daß nach einer Woche 10 Millionen Arbeiter sich im Streik befinden würden.

PARDON: Welche Folgerung ziehen Sie aus der schließlichen Niederlage oder sagen wir Abwürgung dieser Bewegung, wie sie spätestens mit den Wahlen eintrat?

MARCUSE: Ich würde es nicht als Niederlage bezeichnen, und zwar deswegen nicht, weil der Stellenwert dieser Bewegung ungeheuer groß ist. Und ich möchte sogar behaupten, daß die Mai- und Juni-Tage einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der Opposition im Kapitalismus darstellen. Weil sie gezeigt haben, daß eine potentiell revolutionäre Bewegung auch außerhalb der Arbeiterschaft anfangen kann und die Arbeiterschaft, oder sagen wir mal sehr vorsichtig, einen Teil der Arbeiterschaft, dann mit sich zu ziehen vermag. Sie haben außerdem gezeigt, daß ganz neue Formen der Demonstration einen solchen weitgehenden Erfolg haben können.

Es war eine Niederlage in dem Sinne, daß sich diese Studentenbewegung nicht geradlinig fortgesetzt hat in eine Opposition der Arbeiterklasse: aber wir wissen ja, warum das nicht geschehen ist.

PARDON: Ja, wissen wir es wirklich? Hier in Korčula gab es ja gerade darüber einen Streit.

MARCUSE: Die Antwort, die natürlich immer gegeben wird, ist: die Kommunistische Partei und die kommunistischen Gewerkschaften hätten die Bewegung eben abgefangen, sobald sie sahen, daß sie sie nicht mehr kontrollieren konnten und sie wirklich zu großen politischen Veränderungen führen könnte; d. h. in dem Augenblick, wo wirklich nicht die ökonomischen, sondern die politischen Forderungen der Arbeiter im Vordergrund standen, nicht nur Fabrikbesetzung, sondern auch Selbstverwaltung, ökonomisch wie politisch. Das ist zweifellos richtig. Aber wir müssen uns doch fragen, ob die Kommunistische Partei nicht als Entschuldigung oder Rechtfertigung anführen kann, daß die Arbeiterschaft eben nicht reif und nicht willens war, die Bewegung weiterzutreiben bis zum Umsturz der Regierung. Weiter wäre sie sowieso nicht gegangen, wenn wir uns die Politik der kommunistischen Partei und der Gewerkschaft ansehen.

PARDON: Also der Vorwurf gegen die KPF (Kommunistische Partei Frankreichs) bleibt durchaus bestehen. Aber Sie würden nicht soweit gehen wie gewisse französische Teilnehmer, daß die objektive revolutionäre Situation verfälscht worden wäre durch die Partei, die sich statt als Avantgarde als Notbremse der Reaktion bestätigte …?

MARCUSE: Das würde zu weit führen. Andererseits müssen wir uns den Begriff der objektiven revolutionären Situation sehr genau ansehen. Was ist das eigentlich? Ich glaube, es macht guten Sinn zu behaupten, daß in der heutigen Periode überall und jederzeit eine objektive (d. h. den gesellschaftlichen Gegensätzen nach) revolutionäre Situation vorliegt, das Problem ist gerade, daß sie subjektiv (d. h. bewußtheitsmäßig) nicht vorliegt.

PARDON: Würden Sie sagen, daß man gewisse Verallgemeinerungen aus diesem »Auffangen« der revolutionären Aktion ziehen könnte? Gibt es so etwas wie ein Wiedereinsetzen eines Machtmechanismus? Läßt sich ein Gesetz behaupten, daß bei nachlassendem Erfolg der revolutionären Bewegung die Unentschlossenen unabänderlich wieder auf die Seite einer noch so schwachen Legalität gezogen werden, aus Angst vor der Anarchie?

MARCUSE: Sie meinen, man sollte solche »Niederlagen« vermeiden, weil sie zum Defätismus führen. Ich glaube, man kann Niederlagen solcher Art nicht vermeiden. Die Idee, daß ein zu einer entscheidenden Veränderung führender Prozeß eine Kette von Erfolgen ist, ist ganz unsinnig. Gerade in einer Situation, in der die Gesellschaft gegen eine radikale Veränderung so bewaffnet ist wie nie zuvor, sind Niederlagen natürlich unvermeidlich. Wichtig ist nur einzuschätzen, wann man solche Niederlagen riskieren kann und wann nicht.

PARDON: Hätte eine stärkere Beachtung der Leninschen Idee der Doppelherrschaft — ich würde nach heutigen Begebenheiten lieber Zweitgewalt sagen —, also etwa der Versuch, sich außerhalb der bestehenden Organe wie CGT-Gewerkschaft und kommunistischer Partei zu organisieren, Ihrer Meinung nach eine wesentliche Veränderung des Ausgangs bedeuten können?

MARCUSE: Sie meinen z. B. die Einsetzung irgendeines Komitees, Rats, bestehend aus Studenten und Arbeitern …?

PARDON: Ja, nur eben ohne die vorgesetztenten Kader der KP, die nicht mitspielten. Also im Grunde eine ad hoc-Organisation schaffen aus der Situation, die dann evtl. ein Verhandlungspartner oder Motor zum Weitertreiben des Generalstreiks hätte sein können …

MARCUSE: Ja, ohne eine solche, wie Sie sagen, Zweitgewalt geht es nicht. Aber auch hier die Frage, warum ist es nicht dazu gekommen? Wir können nicht einfach sagen, man hätte sie einsetzen sollen. Jedenfalls aber sollte die Arbeit dahin gehen, daß, wenn sich eine solche Situation wiederholt, auf anderer Stufenleiter, für eine solche Zweitgewalt wenigstens Vorsorge, Aufklärungsarbeit getroffen wird.

PARDON: Die Arbeitswoche hier in Korčula, Herr Marcuse, zum Thema »Marx und die Revolution« war die vorläufig letzte Veranstaltung einer ganzen Reihe von Konferenzen und Tagungen aus Anlaß von Karl Marx‘ 150. Geburtstag. Man darf die Analysen sowohl der liberalen wie der marxistischen Theoretiker wohl dahin zusammenfassen, daß Revolution wünschenswert, ja notwendig erscheint, ihre Durchführbarkeit jedoch mehr und mehr fragwürdig. Alle Einwände bedenkend, die Sie hier und vorher zu dieser Frage gehört und gelesen haben, würden Sie trotzdem darauf beharren, daß es künftig Revolutionen geben wird?

MARCUSE: Ich glaube, ich müßte ein geradezu miserabler Marxist und nicht nur ein miserabler Marxist, auch ein miserabler Intellektueller sein, wenn ich annehmen würde, daß in Zukunft Revolutionen nicht mehr möglich sind. Im Gegenteil, ich habe gesagt und geschrieben, daß in der gegenwärtigen Periode die Widersprüche des Kapitalismus vielleicht größer sind als je zuvor, daß sie zwar suspendiert und verwaltet werden, daß dieser Suspendierung und Verwaltung aber wesentliche Grenzen gezogen sind. So glaube ich, daß unsere Periode in der Tat eine objektiv revolutionäre Periode ist. Und ich wiederhole: gerade deswegen sind die bestehenden Systeme bis an die Zähne gegen eine solche Möglichkeit bewaffnet.

PARDON: Nun kamen hier auf dieser Tagung verschiedene Einwände, andere sind vorher schon formuliert worden: Ist z. B. in der hochzivilisierten kapitalistischen Gesellschaft, die einerseits arbeitsteilig zergliedert, andererseits durch Kommunikationsmittel systematisch entpolitisiert wird, der Unterschied zwischen Reform und Revolution nicht überhaupt hinfällig geworden? Setzt der von Ihnen dargestellte Mangel an revolutionärem Bewußtsein gerade bei den notwendigen Trägern dieser Revolution, den Arbeitern, nicht in jedem Falle Reformarbeit voraus? Vor allem Arbeit an Bildung und Erziehung?

MARCUSE: Aufklärung allein vermag jenes Bewußtsein zu schaffen, das den Umsturz betreiben könnte. Der Unterschied zwischen Reform und Revolution ist keineswegs veraltet. Es gibt Reformen, von denen kein Mensch behaupten würde, daß sie Revolutionen einleiten. Nehmen wir‘ wieder Frankreich: die Reformen, die das gaullistische Regime jetzt einführen wird als Reaktion auf die Mai-Juni-Ereignisse, sind weiß Gott keine revolutionären Reformen. Selbst angenommen, daß sie durchführbar wären, sind sie wahrscheinlich technokratische Reformen. Es gibt Reformen — der politische Prozeß kann ohne solche nicht auskommen — die in der Tat zu einer zunehmenden Radikalisierung führen können, selbst innerhalb des ökonomischen Bereichs.

PARDON: Wie aber können die Machthaber, die diesen Trend der Integration natürlich weiterhin manipulieren, vermutlich sogar voll bewußt herbeigeführt haben — wie können sie bewegt werden, anti-autoritär zu erziehen, d. h. ihren eigenen Untergang einzuleiten?

MARCUSE: Sie können die Machthaber niemals dazu überreden, Selbstmord zu verüben oder vorzubereiten.

PARDON: Überreden haben S i e jetzt eingeschoben!

MARCUSE: Was hatten Sie gesagt?

PARDON: Dazu bewegen…

MARCUSE: Dazu bewegen, d. h. auch mit Gewalt?

PARDON: Gegebenenfalls ja.

MARCUSE: Ich würde sagen, daß solche Erziehung zur radikalen Veränderung heute im Wesentlichen eben die Aufgabe der Studenten ist. Und die Aufgabe aller Intellektuellen, die sich mit der Bewegung solidarisieren. Es geht um Erziehung in einem ganz anderen, neuen Sinn. Eine Erziehung, die nicht im Klassenraum bleibt, nicht in den Mauern der Universität, sondern die spontan übergreift auf die Straße, in Aktionen, in Praxis und sich gleichzeitig ausdehnt auf die Gemeinschaft sozialer Gruppen außerhalb der Universität.

PARDON: Vorerst also ganz allgemein außerhalb bestehender Organisationen.

MARCUSE: Ja, aber keineswegs nur außerhalb. In den Universitäten z. B. kann eine strukturelle Reform weitgehend durchgeführt werden, so daß diesem technokratischen Erziehungssystem, das einfach zur Ausbildung und nicht zur Bildung führt, weitgehend entgegengearbeitet wird. Das kann im Rahmen der bereits bestehenden Universitäten geschehen, bei zunehmendem Druck der Studentenopposition. Ich sehe keinen anderen Weg, die Herrschaft eines falschen Bewußtseins zu brechen.

Sofort kommt natürlich die Anklage, man sei undemokratisch, wolle eine intellektuelle Elite aufbauen, eine Art platonischer Erziehungsdiktatur oder dergleichen. Nun, da muß ich Ihnen ganz offen gestehen, daß ich nichts Falsches in intellektueller Führerschaft sehe. Ich glaube sogar, daß die weit verbreiteten Ressentiments gegen Intellektuelle in breiten Teilen der Arbeiterbewegung einer der Gründe sind, warum wir uns in den traurigen Bedingungen befinden, in denen wir jetzt eben stehen.

PARDON: Hat für Ihre Prognosen die Marxsche Krisentheorie noch eine Bedeutung? Offenbar hat sich ja der Pionierkapitalismus heutzutage in einen salonfähigen aufgeklärten Neokapitalismus verwandelt und dabei selbst eine Fülle von Regulativinstrumenten entwickelt, welche die Mechanik des Marxschen Modells eingrenzen, zumindestens zu überspielen trachten.

MARCUSE: Solche Regulierungen und Mechanismen sind da, aber wenn damit gemeint sein soll, daß der gegenwärtige Kapitalismus krisenfest ist — das würde ich natürlich verneinen. Ein krisenfester Kapitalismus ist kein Kapitalismus mehr. Die Gegensätze sind heute da. Anzeichen für eine Krise haben Sie bereits in dem letzten Jahr gesehen. Ich erinnere nur an die internationale monetary crisis (Währungskrise), die keineswegs behoben ist. Devaluation, wie heißt das?, Abwertung, wird wahrscheinlich in absehbarer Zukunft erfolgen. Das ist ein Krisenfaktor. Der andere ist: falls in Vietnam wirklich Frieden geschlossen werden sollte, falls die amerikanische Kolonie sich wirklich auf Frieden umstellen sollte, würde das in der Tat zu schweren Unterbrechungen, vielleicht sogar nicht nur zu Rezession und Depression, sondern zu einer Krise in der amerikanischen Ökonomie führen. Der dritte Faktor sind die Entwicklungen in der Dritten Welt, die auch eine schwere Belastung des Systems darstellen. Gerade die jetzigen Ereignisse in der Tschechoslowakei, die äußerst gefährliche Koexistenz der beiden Supermächte und die Einwirkung Chinas, alle diese Dinge deuten meiner Meinung darauf hin, daß der Kapitalismus durchaus nicht krisenfest geworden ist.

Ein Wort zu Kollege Habermas, der davon sprach, daß der Kapitalismus nicht länger an den traditionellen Schwierigkeiten der Kapitalverwertung leidet. Ich kann ihm nicht zustimmen. Ich meine, daß wir gerade in den letzten Jahren Zeuge der wachsenden Schwierigkeit der Kapitalverwertung und der Profiterhöhung wurden, besonders in den USA. Es gibt schließlich gute Gründe, warum die Vereinigten Staaten die Hälfte der französischen Wirtschaft aufkaufen, warum sie sich schnell in alle Aras und Gebiete der Welt ausdehnen: weil nämlich Gewinne, die aus auswärtigen Unternehmungen einkommen, beträchtlich höher liegen als in den USA selbst.

Dieser Imperialismus ist nach meiner Ansicht der mächtigste, den die Welt je erlebt hat. Er kann nicht allein durch die Entwicklung der Dritten Welt gebrochen werden. Aber diese ist ein entscheidender Faktor im Zusammenhang mit der inneren Schwächung der imperialistischen Mächte, die meiner Überzeugung nach die Vorbedingung für eine globale Revolution bleibt.

PARDON: Kann eigentlich für erwiesen gelten, daß »ein kausaler Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Stabilität der entwickelten kapitalistischen Länder und der katastrofalen wirtschaftlichen Situation in den Ländern der Dritten Welt besteht«? In Deutschland hat u. a. Jürgen Habermas gerade diese Setzung, auf der die studentische Strategie ja überhaupt fußt, in Zweifel gezogen.

MARCUSE: Daß ein geradezu fürchterlicher Kausalzusammenhang besteht zwischen dem, was heute im Kongo vorgeht und dem, was in Nigerien vorgeht und in Bolivien und in vielen anderen südamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern vorgeht, daran kann ja wohl kaum ein Zweifel sein. Das ist eins der größten Verbrechen der Ersten Welt, des alten und des neuen Imperialismus, und ich sehe nicht ein, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, daß dieser Zusammenhang nicht besteht.

PARDON: Die Kernfrage dabei lautet wohl: hat der Imperialismus es rein wirtschaftlich gesehen, nötig, Verschleißpraktiken durch Kriege einzuführen? Könnte er sich nicht auch friedlich so organisieren, daß ihm ähnliche Vernichtungsmöglichkeiten geboten wären, die er ja braucht, um seine Dynamik aufrecht zu erhalten?

MARCUSE: Den Ausdruck »rein wirtschaftlich« halte ich heute für untragbar: wenn meine Tante Räder hätte, wäre sie ein Autobus. Ich meine: wenn der Imperialismus nicht Imperialismus wäre, wäre eben alles anders. Es ist natürlich eine Friedensökonomie heute möglich und besser als je zuvor. Aber das verlangt eben eine radikale Veränderung und — vielleicht — sogar eine Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Rein wirtschaftlich hat der Imperialismus heute in der Tat in Vietnam nichts zu suchen. Nur, rein wirtschaftlich gibt es nicht mehr. Es gibt so etwas wie eine vorbeugende Sicherung von Wirtschaftsräumen, Rohstoffquellen, auch politische Sicherung. Einfach das vitale Interesse des Kapitalismus, daß potentiell reiche Rohstoffländer — und nicht nur Rohstoffländer — dem Kommunismus nicht in die Hände fallen. Das will man unter allen Umständen verhindern. Hier gehen also militärische, politische und wirtschaftliche Momente so eng zusammen, daß der Ausdruck ,rein wirtschaftlich‘ nicht mehr anwendbar ist.

PARDON: Jürgen Habermas hatte in seinem Referat hier in Korčula die Aufhebung der Leistungsideologie in der zukünftigen Gesellschaft gefordert. Deckt sich das mit Ihren Zielvorstellungen? Ist das nur ein Wunschtraum, der sich jedoch mit der gegenwärtigen Lage in den Entwicklungsländern, aber auch den hochzivilisierten Ländern nicht übereinbringen läßt? Selbst Che Guevara hält ja Disziplin und (Arbeits-)Moral für die unerläßlichen Grundzüge revolutionären Bewußtseins.

MARCUSE: Die Forderung nach Aufhebung des Leistungsprinzips ist allerdings ein Desiderat, soweit sie mit dem Leistungsprinzip meint, die Aufrechterhaltung des Konkurrenzkampfes als Existenzkampf unter Bedingungen, unter denen das Leistungsprinzip nicht mehr nötig ist und nur der Aufrechterhaltung eines repressiven Systems dient. Das ist allerdings einer der wesentlichen Unterschiede einer wirklich sozialistischen Gesellschaft von allen Klassengesellschaften. Daß diese Forderung heute nicht durchgeführt ist, erklärt sich größtenteils wiederum aus der Tatsache der Ko-Existenz der beiden Supermächte, die eben eine dauernde Aufrüstung in beiden Lagern erfordert und jede Transformation der sozialistischen Gesellschaft in freie Gesellschaften unmöglich zu machen scheint. Ich betone: unmöglich zu machen scheint. Daß es auch anders geht, jedenfalls der Versuch, es anders zu machen, durchführbar ist, hat meiner Meinung nach die kubanische Revolution gezeigt und wahrscheinlich sogar die Kultur-Revolution in China. Sogar sollte man nicht sagen; ich sage wahrscheinlich sogar, weil wir in Amerika eben sehr wenig unterrichtet sind über das, was in China eigentlich vorgeht.

PARDON: Der autoritäre, repressive Charakter der Wirtschaft führt selbst also zur Militarisierung des Budget? Den berühmten dreißig bis vierzig Prozent …?

MARCUSE: Nicht nur zur Militarisierung des Budget, zur Disziplinierung der Bevölkerung, die dieser internationale Konkurrenzkampf mit sich bringt, ja.

PARDON: Herr Marcuse, läßt sich beim derzeitigen zur ‚Unterhaltung` der Gesellschaft notwendigen Stand der Technik verhindern, daß der Abbau autoritärer Strukturen auch einen Verlust an Rationalität und Effektivität zur Folge hat?

MARCUSE: Rationalität und Effektivität, das wissen wir heute, sind keine absoluten Begriffe, sondern bedeuten zunächst einmal Rationalität und Effektivität im Rahmen des bestehenden Systems. Jede radikale Veränderung würde natürlich diese Rationalität und Effektivität verletzen. Es fragt sich nur, und für mich ist das keine Frage, ob solche Verletzung dieser repressiven Rationalität und Effektivität nicht wirklicher Fortschritt ist.

PARDON: Gerade in den sozialistischen Ländern, einschließlich Kuba, hat allerdings die Sozialisierung nach einer kurzen Zeit des revolutionären Impulses bisher immer einen wirtschaftlichen Rückschlag bedeutet. In der DDR etwa hat das zu dem großen Neuansatz mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) geführt, dem Versuch, das Element »individueller Interessiertheit« wieder ins Spiel zu bringen. Halten Sie das noch für Übergangserscheinungen?

MARCUSE: Das Moment »individueller Interessiertheit« ist mir wiederum zu abstrakt. Individuelle Interessiertheit kann hervorgerufen werden durch das Prämiensystem, durch die sog. »incentifs«, wie sie in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern eingeführt worden sind; sie kann aber auch die Folge einer wirklichen Solidarität sein, die Zusammenarbeit freier Menschen, von denen jeder ein Interesse hat, das zum Interesse des andern eben nicht antagonistisch steht. Eine solche Solidarität, glaube ich, ist immer noch in der Entwicklung in Kuba heute zu sehen.
PARDON: Herr Marcuse, die Studentenbewegung hatte sich weitgehend an den Problemen der Dritten Welt entzündet, der Kettenreaktion von Gewalt und Gegengewalt in China, Indochina, Algerien, Kuba, Vietnam, Angola, Biafra und Lateinamerika. Unterstützt Ihrer Meinung nach die Dritte Welt die heutige internationale Protestbewegung in optimaler Weise?

MARCUSE: Ich finde, daß die Dritte Welt so unmittelbar mit dem brutalen Problem, einfach das Leben, wenn nicht die Unabhängigkeit zu behalten, beschäftigt ist, daß wir nicht fragen sollten, ob sie genug tut, um die Protestbewegung in der Ersten Welt zu unterstützen. Wir sollten vielmehr alles tun, was wir können, um die Opposition in der Dritten Welt zu unterstützen.

PARDON: Aber es ist natürlich bitter, teilweise ansehen zu müssen, wie die Dritte Welt Investitionskapital verschleißt, wo wir darum kämpfen, daß sie überhaupt erst einmal das Lebensminimum im Zuge der Entwicklungspolitik zugestanden bekommt.

MARCUSE: Gewiß, aber alle diese Dinge sind eine Folge der konkurrierenden Ko-Existenz der beiden Supermächte. Daher: bevor nicht etwas in diesen Mächten geschieht, wird es auch in der Dritten Welt nicht anders aussehen. In diesem Sinn hat der Marx auch wieder recht, auf einem ganz anderen Wege: daß die entscheidende Veränderung nämlich in den entwickelten Ländern zum Ausbruch und Ausdruck kommen muß. Nur dann ist eine wirkliche dauernde und erfolgreiche Unabhängigkeit der Dritten Welt vorstellbar. Ich meine: so lange die großen Mächte Waffen und finanzielle und technische Mittel scheinbar ohne Grenze in die Dritte Welt zu Ausrüstungszwecken hineinpumpen können, so lange sind allerdings die Chancen der Dritten Welt außerordentlich gering.

PARDON: Damit schränken Sie die Auswirkung und den Schock des Rückschlages, den die Revolutionsbewegung als Guerilla in Lateinamerika, anscheinend selbst im Krieg in Vietnam gegenwärtig erleidet, ein und setzen den Akzent hier nach Europa und USA. Sie sind also nicht bedrückt, daß es nach Guevaras Ermordung fast keine Guerilla in Lateinamerika mehr gibt?

MARCUSE: Nein, das ist wiederum eine der Niederlagen, die, ich möchte beinahe sagen, selbstverständlich sind, und die eben zu einer Neubesinnung und zu einer besseren Vorbereitung führen werden. Es handelt sich nicht so sehr um Akzentverschiebung, als darum, einzusehen, daß nur aus einem Zusammenwirken der in der Dritten Welt bestehenden Oppositionskräfte mit denen der Ersten Welt etwas herauskommen kann.

PARDON: Herr Marcuse, nach dieser »tour d‘horizont« eine ganz persönliche, uns sehr betreffende Frage: In der Außerparlamentarischen Opposition hält sich das Gerücht, Sie hätten Ihre Einladung an Rudi Dutschke, bei Ihnen in Kalifornien seine Dissertation jetzt in Ruhe fertigzustellen, aufgrund von Presseattacken und Drohbriefen zurückgezogen?

MARCUSE: Das ist nicht richtig. Das Gerücht, daß ich mich in irgendeiner Weise nicht mehr mit Rudi Dutschke solidarisch erkläre, ist meiner Meinung nach ein gemeiner journalistischer Trick. Die Tatsachen sind, daß sobald in Kalifornien die Nachricht auftauchte, daß Rudi Dutschke vielleicht nach San Diego kommen könnte, um dort eine Dissertation fertigzumachen, eine systematische Hetze eingesetzt hat, Drohbriefe, Todesdrohungen, Abschneiden des Telefons usw., mit anderen Worten eine Stimmung geschaffen worden ist, in der dem Rudi das Leben in Kalifornien zur Hölle gemacht werden konnte. Ich habe damals — ich war nicht in Kalifornien, sondern in Boston —, der Zeitung erklärt, daß ich nach wie vor sehr glücklich wäre, wenn Rudi Dutschke mit mir studieren und seine Dissertation fertigmachen würde, daß ich es aber nicht verantworten könne, sein Leben noch einmal zu riskieren und ihm zuzureden, nach Kalifornien zu kommen. Er hätte in Kalifornien keine ruhige Minute. Ich möchte diese Gelegenheit benutzen, um nochmal ausdrücklich zu erklären, daß alle Versuche, zwischen Rudi Dutschke und mir irgendwelche Differenzen oder Entfremdungen oder was es auch sein möge von meiner Seite zu konstruieren, reine Unwahrheiten sind.

PARDON: Daran anschließend: Wie beurteilen Sie nach den Vorkommnissen bei der Belagerung der für Springer arbeitenden Druckhäuser und der Pariser Barrikadenschlachten die Notwendigkeit und den Erfolg von Gegengewalt?

MARCUSE: Ich glaube, ich kann mich hier auf den alten Satz zurückziehen — ich weiß nicht genau, ob er von Marx oder Engels stammt: daß Revolutionen immer genauso gewalttätig sind, wie die Gewalt, der sie begegnen.

Die Gewalt ist heute zu einer ganz gefährlichen semantischen Ideologie geworden. Man nennt nicht Gewalt, was in Vietnam geschieht; man nennt nicht Gewalt, was von der Polizei ausgeübt wird, man nennt nicht Gewalt die Verheerungen, die Folterungen, die Erniedrigungen, die Vergiftungen, die täglich im bereich des Kapitalismus vorkommen; man nennt Gewalt, beschränkt den Ausdruck Gewalt auf die Opposition. Für mich ist es jedenfalls eines der heuchlerischsten, hypokritischsten Sprachwendungen, zu beklagen, daß in Paris ein paar Automobile verbrannten, während z. B. auf den Straßen der entwickelten Industrieländer Tausende von Automobilen im Verkehr vernichtet werden; daß man die Gewalt der Verteidigung mit der Gewalt der Aggression in einem Atem nennt. Die beiden sind völlig verschieden.

PARDON: Es bleibt also bei der Beurteilung, die Sie in Ihrer Schrift oder Ihrem Beitrag zur »Kritik der reinen Toleranz« gegeben haben? Daran hat sich nichts geändert?

MARCUSE: Ich stehe dazu, was ich in diesem Essay geschrieben habe, ja.

PARDON: Eine abschließende Frage noch, Herr Marcuse: Wie kann die revolutionäre Bewegung dem wirtschaftlichen Trend vom Arbeiter zum Angestellten Rechnung tragen? Sind die Angestellten, trotz ihrer immer wieder analysierten stärkeren Integrierung, ein denkbares revolutionäres Potential oder stirbt die Revolution mit dem letzten Arbeiter?

MARCUSE: Ich glaube nicht, daß die Revolution stirbt, solange es noch eine Klassengesellschaft gibt. Und ich glaube bestimmt nicht, daß sie mit dem letzten Arbeiter stirbt. Ich glaube noch nicht einmal, daß der letzte Arbeiter stirbt. Ich habe schon im Lauf dieser Unterhaltung gesagt, eigentlich ist a 11 e s heute potentiell ein revolutionärer Faktor. Die Angestellten — vielleicht — am wenigsten. Die Techniker, Wissenschaftler, Ingenieure, hochqualifizierte Arbeiter, die im Produktionsprozeß gebraucht werden, ja — doch muß ich gerade mit Bezug auf den gefährlichen Begriff der »neuen Arbeiterklasse« betonen, daß in der heutigen Situation diese technische Intelligenzia aktiv sicher keine revolutionäre Gruppe darstellt. In den Vereinigten Staaten jedenfalls gehört sie zu den sehr gut bezahlten gesellschaftlichen Gruppen, die ihre Dienste sehr gerne dem bestehenden System zur Verfügung stellen.

PARDON: Welches Leitwort würden Sie der außerparlamentarischen Bewegung für die nächste Fase des Auf- und Widerstandes mitgeben?
MARCUSE: Ich würde überhaupt kein Leitwort geben. Es ist eines der schönsten und der versprechendsten Anzeichen dieser neuen Bewegung, daß sie nicht auf andere angewiesen ist, nicht auf Autoritäten, die ihr »mots d‘ordre« geben, sondern daß sie ihre »mots d‘ordre« selbst und im Kampf allein herausfindet. Ich finde, diese ausgezeichnete Konstellation sollte man bewahren. Diese »organisierte Spontanität« erscheint mir der beste Ausweg.

PARDON: Herr Marcuse, wir danken Ihnen für dieses Gespräch — in dem der Vorläufer sich sogar überflüssig zu machen versuchte.PARDON: Herr Marcuse, Sie sind durch Ihre Bücher und Stellungnahmen einer der geistigen Väter der »Neuen Linken« geworden, für viele sogar der profilierteste, um nicht zu sagen der Profet. Fühlen Sie sich in Ihren Prognosen und Analysen durch die Mai-Unruhen dieses Jahres in Frankreich bestätigt?

MARCUSE: Ich habe seit 1964 auf die Bedeutung der Studentenbewegung hingewiesen und gesagt, daß nach meiner Meinung da viel mehr und ganz anderes vorliegt als ein Generationskonflikt, wie er aus der Tradition ja nur zu gut bekannt ist; daß hier wirklich politische Momente aktiviert werden, die gerade deswegen, weil sie in keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse aktiviert sind, gerade deswegen, weil eine wirklich organisierte Opposition auf der Linken fehlt, in der Studentenbewegung konzentriert sind. Ich habe außerdem darauf verwiesen, daß die Integration der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten am meisten fortgeschritten ist, während sie in Frankreich und Italien immer noch zu einem großen Teil aussteht. In dieser Beziehung also war ich nicht überrascht, daß gerade in Frankreich diese Studentenbewegung nun wirklich zu einer großen politischen Bewegung geführt hat. Vorausgesehen habe ich sie natürlich nicht, und ich glaube, es hat sie niemand vorausgesehen. Nicht einmal die Führer der Studentenbewegung konnten oder haben vorausgesehen, daß nach einer Woche 10 Millionen Arbeiter sich im Streik befinden würden.

PARDON: Welche Folgerung ziehen Sie aus der schließlichen Niederlage oder sagen wir Abwürgung dieser Bewegung, wie sie spätestens mit den Wahlen eintrat?

MARCUSE: Ich würde es nicht als Niederlage bezeichnen, und zwar deswegen nicht, weil der Stellenwert dieser Bewegung ungeheuer groß ist. Und ich möchte sogar behaupten, daß die Mai- und Juni-Tage einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der Opposition im Kapitalismus darstellen. Weil sie gezeigt haben, daß eine potentiell revolutionäre Bewegung auch außerhalb der Arbeiterschaft anfangen kann und die Arbeiterschaft, oder sagen wir mal sehr vorsichtig, einen Teil der Arbeiterschaft, dann mit sich zu ziehen vermag. Sie haben außerdem gezeigt, daß ganz neue Formen der Demonstration einen solchen weitgehenden Erfolg haben können.

Es war eine Niederlage in dem Sinne, daß sich diese Studentenbewegung nicht geradlinig fortgesetzt hat in eine Opposition der Arbeiterklasse: aber wir wissen ja, warum das nicht geschehen ist.

PARDON: Ja, wissen wir es wirklich? Hier in Korčula gab es ja gerade darüber einen Streit.

MARCUSE: Die Antwort, die natürlich immer gegeben wird, ist: die Kommunistische Partei und die kommunistischen Gewerkschaften hätten die Bewegung eben abgefangen, sobald sie sahen, daß sie sie nicht mehr kontrollieren konnten und sie wirklich zu großen politischen Veränderungen führen könnte; d. h. in dem Augenblick, wo wirklich nicht die ökonomischen, sondern die politischen Forderungen der Arbeiter im Vordergrund standen, nicht nur Fabrikbesetzung, sondern auch Selbstverwaltung, ökonomisch wie politisch. Das ist zweifellos richtig. Aber wir müssen uns doch fragen, ob die Kommunistische Partei nicht als Entschuldigung oder Rechtfertigung anführen kann, daß die Arbeiterschaft eben nicht reif und nicht willens war, die Bewegung weiterzutreiben bis zum Umsturz der Regierung. Weiter wäre sie sowieso nicht gegangen, wenn wir uns die Politik der kommunistischen Partei und der Gewerkschaft ansehen.

PARDON: Also der Vorwurf gegen die KPF (Kommunistische Partei Frankreichs) bleibt durchaus bestehen. Aber Sie würden nicht soweit gehen wie gewisse französische Teilnehmer, daß die objektive revolutionäre Situation verfälscht worden wäre durch die Partei, die sich statt als Avantgarde als Notbremse der Reaktion bestätigte …?

MARCUSE: Das würde zu weit führen. Andererseits müssen wir uns den Begriff der objektiven revolutionären Situation sehr genau ansehen. Was ist das eigentlich? Ich glaube, es macht guten Sinn zu behaupten, daß in der heutigen Periode überall und jederzeit eine objektive (d. h. den gesellschaftlichen Gegensätzen nach) revolutionäre Situation vorliegt, das Problem ist gerade, daß sie subjektiv (d. h. bewußtheitsmäßig) nicht vorliegt.

PARDON: Würden Sie sagen, daß man gewisse Verallgemeinerungen aus diesem »Auffangen« der revolutionären Aktion ziehen könnte? Gibt es so etwas wie ein Wiedereinsetzen eines Machtmechanismus? Läßt sich ein Gesetz behaupten, daß bei nachlassendem Erfolg der revolutionären Bewegung die Unentschlossenen unabänderlich wieder auf die Seite einer noch so schwachen Legalität gezogen werden, aus Angst vor der Anarchie?

MARCUSE: Sie meinen, man sollte solche »Niederlagen« vermeiden, weil sie zum Defätismus führen. Ich glaube, man kann Niederlagen solcher Art nicht vermeiden. Die Idee, daß ein zu einer entscheidenden Veränderung führender Prozeß eine Kette von Erfolgen ist, ist ganz unsinnig. Gerade in einer Situation, in der die Gesellschaft gegen eine radikale Veränderung so bewaffnet ist wie nie zuvor, sind Niederlagen natürlich unvermeidlich. Wichtig ist nur einzuschätzen, wann man solche Niederlagen riskieren kann und wann nicht.

PARDON: Hätte eine stärkere Beachtung der Leninschen Idee der Doppelherrschaft — ich würde nach heutigen Begebenheiten lieber Zweitgewalt sagen —, also etwa der Versuch, sich außerhalb der bestehenden Organe wie CGT-Gewerkschaft und kommunistischer Partei zu organisieren, Ihrer Meinung nach eine wesentliche Veränderung des Ausgangs bedeuten können?

MARCUSE: Sie meinen z. B. die Einsetzung irgendeines Komitees, Rats, bestehend aus Studenten und Arbeitern …?

PARDON: Ja, nur eben ohne die vorgesetztenten Kader der KP, die nicht mitspielten. Also im Grunde eine ad hoc-Organisation schaffen aus der Situation, die dann evtl. ein Verhandlungspartner oder Motor zum Weitertreiben des Generalstreiks hätte sein können …

MARCUSE: Ja, ohne eine solche, wie Sie sagen, Zweitgewalt geht es nicht. Aber auch hier die Frage, warum ist es nicht dazu gekommen? Wir können nicht einfach sagen, man hätte sie einsetzen sollen. Jedenfalls aber sollte die Arbeit dahin gehen, daß, wenn sich eine solche Situation wiederholt, auf anderer Stufenleiter, für eine solche Zweitgewalt wenigstens Vorsorge, Aufklärungsarbeit getroffen wird.

PARDON: Die Arbeitswoche hier in Korčula, Herr Marcuse, zum Thema »Marx und die Revolution« war die vorläufig letzte Veranstaltung einer ganzen Reihe von Konferenzen und Tagungen aus Anlaß von Karl Marx‘ 150. Geburtstag. Man darf die Analysen sowohl der liberalen wie der marxistischen Theoretiker wohl dahin zusammenfassen, daß Revolution wünschenswert, ja notwendig erscheint, ihre Durchführbarkeit jedoch mehr und mehr fragwürdig. Alle Einwände bedenkend, die Sie hier und vorher zu dieser Frage gehört und gelesen haben, würden Sie trotzdem darauf beharren, daß es künftig Revolutionen geben wird?

MARCUSE: Ich glaube, ich müßte ein geradezu miserabler Marxist und nicht nur ein miserabler Marxist, auch ein miserabler Intellektueller sein, wenn ich annehmen würde, daß in Zukunft Revolutionen nicht mehr möglich sind. Im Gegenteil, ich habe gesagt und geschrieben, daß in der gegenwärtigen Periode die Widersprüche des Kapitalismus vielleicht größer sind als je zuvor, daß sie zwar suspendiert und verwaltet werden, daß dieser Suspendierung und Verwaltung aber wesentliche Grenzen gezogen sind. So glaube ich, daß unsere Periode in der Tat eine objektiv revolutionäre Periode ist. Und ich wiederhole: gerade deswegen sind die bestehenden Systeme bis an die Zähne gegen eine solche Möglichkeit bewaffnet.

PARDON: Nun kamen hier auf dieser Tagung verschiedene Einwände, andere sind vorher schon formuliert worden: Ist z. B. in der hochzivilisierten kapitalistischen Gesellschaft, die einerseits arbeitsteilig zergliedert, andererseits durch Kommunikationsmittel systematisch entpolitisiert wird, der Unterschied zwischen Reform und Revolution nicht überhaupt hinfällig geworden? Setzt der von Ihnen dargestellte Mangel an revolutionärem Bewußtsein gerade bei den notwendigen Trägern dieser Revolution, den Arbeitern, nicht in jedem Falle Reformarbeit voraus? Vor allem Arbeit an Bildung und Erziehung?

MARCUSE: Aufklärung allein vermag jenes Bewußtsein zu schaffen, das den Umsturz betreiben könnte. Der Unterschied zwischen Reform und Revolution ist keineswegs veraltet. Es gibt Reformen, von denen kein Mensch behaupten würde, daß sie Revolutionen einleiten. Nehmen wir‘ wieder Frankreich: die Reformen, die das gaullistische Regime jetzt einführen wird als Reaktion auf die Mai-Juni-Ereignisse, sind weiß Gott keine revolutionären Reformen. Selbst angenommen, daß sie durchführbar wären, sind sie wahrscheinlich technokratische Reformen. Es gibt Reformen — der politische Prozeß kann ohne solche nicht auskommen — die in der Tat zu einer zunehmenden Radikalisierung führen können, selbst innerhalb des ökonomischen Bereichs.

PARDON: Wie aber können die Machthaber, die diesen Trend der Integration natürlich weiterhin manipulieren, vermutlich sogar voll bewußt herbeigeführt haben — wie können sie bewegt werden, anti-autoritär zu erziehen, d. h. ihren eigenen Untergang einzuleiten?

MARCUSE: Sie können die Machthaber niemals dazu überreden, Selbstmord zu verüben oder vorzubereiten.

PARDON: Überreden haben S i e jetzt eingeschoben!

MARCUSE: Was hatten Sie gesagt?

PARDON: Dazu bewegen…

MARCUSE: Dazu bewegen, d. h. auch mit Gewalt?

PARDON: Gegebenenfalls ja.

MARCUSE: Ich würde sagen, daß solche Erziehung zur radikalen Veränderung heute im Wesentlichen eben die Aufgabe der Studenten ist. Und die Aufgabe aller Intellektuellen, die sich mit der Bewegung solidarisieren. Es geht um Erziehung in einem ganz anderen, neuen Sinn. Eine Erziehung, die nicht im Klassenraum bleibt, nicht in den Mauern der Universität, sondern die spontan übergreift auf die Straße, in Aktionen, in Praxis und sich gleichzeitig ausdehnt auf die Gemeinschaft sozialer Gruppen außerhalb der Universität.

PARDON: Vorerst also ganz allgemein außerhalb bestehender Organisationen.

MARCUSE: Ja, aber keineswegs nur außerhalb. In den Universitäten z. B. kann eine strukturelle Reform weitgehend durchgeführt werden, so daß diesem technokratischen Erziehungssystem, das einfach zur Ausbildung und nicht zur Bildung führt, weitgehend entgegengearbeitet wird. Das kann im Rahmen der bereits bestehenden Universitäten geschehen, bei zunehmendem Druck der Studentenopposition. Ich sehe keinen anderen Weg, die Herrschaft eines falschen Bewußtseins zu brechen.

Sofort kommt natürlich die Anklage, man sei undemokratisch, wolle eine intellektuelle Elite aufbauen, eine Art platonischer Erziehungsdiktatur oder dergleichen. Nun, da muß ich Ihnen ganz offen gestehen, daß ich nichts Falsches in intellektueller Führerschaft sehe. Ich glaube sogar, daß die weit verbreiteten Ressentiments gegen Intellektuelle in breiten Teilen der Arbeiterbewegung einer der Gründe sind, warum wir uns in den traurigen Bedingungen befinden, in denen wir jetzt eben stehen.

PARDON: Hat für Ihre Prognosen die Marxsche Krisentheorie noch eine Bedeutung? Offenbar hat sich ja der Pionierkapitalismus heutzutage in einen salonfähigen aufgeklärten Neokapitalismus verwandelt und dabei selbst eine Fülle von Regulativinstrumenten entwickelt, welche die Mechanik des Marxschen Modells eingrenzen, zumindestens zu überspielen trachten.

MARCUSE: Solche Regulierungen und Mechanismen sind da, aber wenn damit gemeint sein soll, daß der gegenwärtige Kapitalismus krisenfest ist — das würde ich natürlich verneinen. Ein krisenfester Kapitalismus ist kein Kapitalismus mehr. Die Gegensätze sind heute da. Anzeichen für eine Krise haben Sie bereits in dem letzten Jahr gesehen. Ich erinnere nur an die internationale monetary crisis (Währungskrise), die keineswegs behoben ist. Devaluation, wie heißt das?, Abwertung, wird wahrscheinlich in absehbarer Zukunft erfolgen. Das ist ein Krisenfaktor. Der andere ist: falls in Vietnam wirklich Frieden geschlossen werden sollte, falls die amerikanische Kolonie sich wirklich auf Frieden umstellen sollte, würde das in der Tat zu schweren Unterbrechungen, vielleicht sogar nicht nur zu Rezession und Depression, sondern zu einer Krise in der amerikanischen Ökonomie führen. Der dritte Faktor sind die Entwicklungen in der Dritten Welt, die auch eine schwere Belastung des Systems darstellen. Gerade die jetzigen Ereignisse in der Tschechoslowakei, die äußerst gefährliche Koexistenz der beiden Supermächte und die Einwirkung Chinas, alle diese Dinge deuten meiner Meinung darauf hin, daß der Kapitalismus durchaus nicht krisenfest geworden ist.

Ein Wort zu Kollege Habermas, der davon sprach, daß der Kapitalismus nicht länger an den traditionellen Schwierigkeiten der Kapitalverwertung leidet. Ich kann ihm nicht zustimmen. Ich meine, daß wir gerade in den letzten Jahren Zeuge der wachsenden Schwierigkeit der Kapitalverwertung und der Profiterhöhung wurden, besonders in den USA. Es gibt schließlich gute Gründe, warum die Vereinigten Staaten die Hälfte der französischen Wirtschaft aufkaufen, warum sie sich schnell in alle Aras und Gebiete der Welt ausdehnen: weil nämlich Gewinne, die aus auswärtigen Unternehmungen einkommen, beträchtlich höher liegen als in den USA selbst.

Dieser Imperialismus ist nach meiner Ansicht der mächtigste, den die Welt je erlebt hat. Er kann nicht allein durch die Entwicklung der Dritten Welt gebrochen werden. Aber diese ist ein entscheidender Faktor im Zusammenhang mit der inneren Schwächung der imperialistischen Mächte, die meiner Überzeugung nach die Vorbedingung für eine globale Revolution bleibt.

PARDON: Kann eigentlich für erwiesen gelten, daß »ein kausaler Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Stabilität der entwickelten kapitalistischen Länder und der katastrofalen wirtschaftlichen Situation in den Ländern der Dritten Welt besteht«? In Deutschland hat u. a. Jürgen Habermas gerade diese Setzung, auf der die studentische Strategie ja überhaupt fußt, in Zweifel gezogen.

MARCUSE: Daß ein geradezu fürchterlicher Kausalzusammenhang besteht zwischen dem, was heute im Kongo vorgeht und dem, was in Nigerien vorgeht und in Bolivien und in vielen anderen südamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern vorgeht, daran kann ja wohl kaum ein Zweifel sein. Das ist eins der größten Verbrechen der Ersten Welt, des alten und des neuen Imperialismus, und ich sehe nicht ein, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, daß dieser Zusammenhang nicht besteht.

PARDON: Die Kernfrage dabei lautet wohl: hat der Imperialismus es rein wirtschaftlich gesehen, nötig, Verschleißpraktiken durch Kriege einzuführen? Könnte er sich nicht auch friedlich so organisieren, daß ihm ähnliche Vernichtungsmöglichkeiten geboten wären, die er ja braucht, um seine Dynamik aufrecht zu erhalten?

MARCUSE: Den Ausdruck »rein wirtschaftlich« halte ich heute für untragbar: wenn meine Tante Räder hätte, wäre sie ein Autobus. Ich meine: wenn der Imperialismus nicht Imperialismus wäre, wäre eben alles anders. Es ist natürlich eine Friedensökonomie heute möglich und besser als je zuvor. Aber das verlangt eben eine radikale Veränderung und — vielleicht — sogar eine Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Rein wirtschaftlich hat der Imperialismus heute in der Tat in Vietnam nichts zu suchen. Nur, rein wirtschaftlich gibt es nicht mehr. Es gibt so etwas wie eine vorbeugende Sicherung von Wirtschaftsräumen, Rohstoffquellen, auch politische Sicherung. Einfach das vitale Interesse des Kapitalismus, daß potentiell reiche Rohstoffländer — und nicht nur Rohstoffländer — dem Kommunismus nicht in die Hände fallen. Das will man unter allen Umständen verhindern. Hier gehen also militärische, politische und wirtschaftliche Momente so eng zusammen, daß der Ausdruck ,rein wirtschaftlich‘ nicht mehr anwendbar ist.

PARDON: Jürgen Habermas hatte in seinem Referat hier in Korčula die Aufhebung der Leistungsideologie in der zukünftigen Gesellschaft gefordert. Deckt sich das mit Ihren Zielvorstellungen? Ist das nur ein Wunschtraum, der sich jedoch mit der gegenwärtigen Lage in den Entwicklungsländern, aber auch den hochzivilisierten Ländern nicht übereinbringen läßt? Selbst Che Guevara hält ja Disziplin und (Arbeits-)Moral für die unerläßlichen Grundzüge revolutionären Bewußtseins.

MARCUSE: Die Forderung nach Aufhebung des Leistungsprinzips ist allerdings ein Desiderat, soweit sie mit dem Leistungsprinzip meint, die Aufrechterhaltung des Konkurrenzkampfes als Existenzkampf unter Bedingungen, unter denen das Leistungsprinzip nicht mehr nötig ist und nur der Aufrechterhaltung eines repressiven Systems dient. Das ist allerdings einer der wesentlichen Unterschiede einer wirklich sozialistischen Gesellschaft von allen Klassengesellschaften. Daß diese Forderung heute nicht durchgeführt ist, erklärt sich größtenteils wiederum aus der Tatsache der Ko-Existenz der beiden Supermächte, die eben eine dauernde Aufrüstung in beiden Lagern erfordert und jede Transformation der sozialistischen Gesellschaft in freie Gesellschaften unmöglich zu machen scheint. Ich betone: unmöglich zu machen scheint. Daß es auch anders geht, jedenfalls der Versuch, es anders zu machen, durchführbar ist, hat meiner Meinung nach die kubanische Revolution gezeigt und wahrscheinlich sogar die Kultur-Revolution in China. Sogar sollte man nicht sagen; ich sage wahrscheinlich sogar, weil wir in Amerika eben sehr wenig unterrichtet sind über das, was in China eigentlich vorgeht.

PARDON: Der autoritäre, repressive Charakter der Wirtschaft führt selbst also zur Militarisierung des Budget? Den berühmten dreißig bis vierzig Prozent …?

MARCUSE: Nicht nur zur Militarisierung des Budget, zur Disziplinierung der Bevölkerung, die dieser internationale Konkurrenzkampf mit sich bringt, ja.

PARDON: Herr Marcuse, läßt sich beim derzeitigen zur ‚Unterhaltung` der Gesellschaft notwendigen Stand der Technik verhindern, daß der Abbau autoritärer Strukturen auch einen Verlust an Rationalität und Effektivität zur Folge hat?

MARCUSE: Rationalität und Effektivität, das wissen wir heute, sind keine absoluten Begriffe, sondern bedeuten zunächst einmal Rationalität und Effektivität im Rahmen des bestehenden Systems. Jede radikale Veränderung würde natürlich diese Rationalität und Effektivität verletzen. Es fragt sich nur, und für mich ist das keine Frage, ob solche Verletzung dieser repressiven Rationalität und Effektivität nicht wirklicher Fortschritt ist.

PARDON: Gerade in den sozialistischen Ländern, einschließlich Kuba, hat allerdings die Sozialisierung nach einer kurzen Zeit des revolutionären Impulses bisher immer einen wirtschaftlichen Rückschlag bedeutet. In der DDR etwa hat das zu dem großen Neuansatz mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) geführt, dem Versuch, das Element »individueller Interessiertheit« wieder ins Spiel zu bringen. Halten Sie das noch für Übergangserscheinungen?

MARCUSE: Das Moment »individueller Interessiertheit« ist mir wiederum zu abstrakt. Individuelle Interessiertheit kann hervorgerufen werden durch das Prämiensystem, durch die sog. »incentifs«, wie sie in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern eingeführt worden sind; sie kann aber auch die Folge einer wirklichen Solidarität sein, die Zusammenarbeit freier Menschen, von denen jeder ein Interesse hat, das zum Interesse des andern eben nicht antagonistisch steht. Eine solche Solidarität, glaube ich, ist immer noch in der Entwicklung in Kuba heute zu sehen.
PARDON: Herr Marcuse, die Studentenbewegung hatte sich weitgehend an den Problemen der Dritten Welt entzündet, der Kettenreaktion von Gewalt und Gegengewalt in China, Indochina, Algerien, Kuba, Vietnam, Angola, Biafra und Lateinamerika. Unterstützt Ihrer Meinung nach die Dritte Welt die heutige internationale Protestbewegung in optimaler Weise?

MARCUSE: Ich finde, daß die Dritte Welt so unmittelbar mit dem brutalen Problem, einfach das Leben, wenn nicht die Unabhängigkeit zu behalten, beschäftigt ist, daß wir nicht fragen sollten, ob sie genug tut, um die Protestbewegung in der Ersten Welt zu unterstützen. Wir sollten vielmehr alles tun, was wir können, um die Opposition in der Dritten Welt zu unterstützen.

PARDON: Aber es ist natürlich bitter, teilweise ansehen zu müssen, wie die Dritte Welt Investitionskapital verschleißt, wo wir darum kämpfen, daß sie überhaupt erst einmal das Lebensminimum im Zuge der Entwicklungspolitik zugestanden bekommt.

MARCUSE: Gewiß, aber alle diese Dinge sind eine Folge der konkurrierenden Ko-Existenz der beiden Supermächte. Daher: bevor nicht etwas in diesen Mächten geschieht, wird es auch in der Dritten Welt nicht anders aussehen. In diesem Sinn hat der Marx auch wieder recht, auf einem ganz anderen Wege: daß die entscheidende Veränderung nämlich in den entwickelten Ländern zum Ausbruch und Ausdruck kommen muß. Nur dann ist eine wirkliche dauernde und erfolgreiche Unabhängigkeit der Dritten Welt vorstellbar. Ich meine: so lange die großen Mächte Waffen und finanzielle und technische Mittel scheinbar ohne Grenze in die Dritte Welt zu Ausrüstungszwecken hineinpumpen können, so lange sind allerdings die Chancen der Dritten Welt außerordentlich gering.

PARDON: Damit schränken Sie die Auswirkung und den Schock des Rückschlages, den die Revolutionsbewegung als Guerilla in Lateinamerika, anscheinend selbst im Krieg in Vietnam gegenwärtig erleidet, ein und setzen den Akzent hier nach Europa und USA. Sie sind also nicht bedrückt, daß es nach Guevaras Ermordung fast keine Guerilla in Lateinamerika mehr gibt?

MARCUSE: Nein, das ist wiederum eine der Niederlagen, die, ich möchte beinahe sagen, selbstverständlich sind, und die eben zu einer Neubesinnung und zu einer besseren Vorbereitung führen werden. Es handelt sich nicht so sehr um Akzentverschiebung, als darum, einzusehen, daß nur aus einem Zusammenwirken der in der Dritten Welt bestehenden Oppositionskräfte mit denen der Ersten Welt etwas herauskommen kann.

PARDON: Herr Marcuse, nach dieser »tour d‘horizont« eine ganz persönliche, uns sehr betreffende Frage: In der Außerparlamentarischen Opposition hält sich das Gerücht, Sie hätten Ihre Einladung an Rudi Dutschke, bei Ihnen in Kalifornien seine Dissertation jetzt in Ruhe fertigzustellen, aufgrund von Presseattacken und Drohbriefen zurückgezogen?

MARCUSE: Das ist nicht richtig. Das Gerücht, daß ich mich in irgendeiner Weise nicht mehr mit Rudi Dutschke solidarisch erkläre, ist meiner Meinung nach ein gemeiner journalistischer Trick. Die Tatsachen sind, daß sobald in Kalifornien die Nachricht auftauchte, daß Rudi Dutschke vielleicht nach San Diego kommen könnte, um dort eine Dissertation fertigzumachen, eine systematische Hetze eingesetzt hat, Drohbriefe, Todesdrohungen, Abschneiden des Telefons usw., mit anderen Worten eine Stimmung geschaffen worden ist, in der dem Rudi das Leben in Kalifornien zur Hölle gemacht werden konnte. Ich habe damals — ich war nicht in Kalifornien, sondern in Boston —, der Zeitung erklärt, daß ich nach wie vor sehr glücklich wäre, wenn Rudi Dutschke mit mir studieren und seine Dissertation fertigmachen würde, daß ich es aber nicht verantworten könne, sein Leben noch einmal zu riskieren und ihm zuzureden, nach Kalifornien zu kommen. Er hätte in Kalifornien keine ruhige Minute. Ich möchte diese Gelegenheit benutzen, um nochmal ausdrücklich zu erklären, daß alle Versuche, zwischen Rudi Dutschke und mir irgendwelche Differenzen oder Entfremdungen oder was es auch sein möge von meiner Seite zu konstruieren, reine Unwahrheiten sind.

PARDON: Daran anschließend: Wie beurteilen Sie nach den Vorkommnissen bei der Belagerung der für Springer arbeitenden Druckhäuser und der Pariser Barrikadenschlachten die Notwendigkeit und den Erfolg von Gegengewalt?

MARCUSE: Ich glaube, ich kann mich hier auf den alten Satz zurückziehen — ich weiß nicht genau, ob er von Marx oder Engels stammt: daß Revolutionen immer genauso gewalttätig sind, wie die Gewalt, der sie begegnen.

Die Gewalt ist heute zu einer ganz gefährlichen semantischen Ideologie geworden. Man nennt nicht Gewalt, was in Vietnam geschieht; man nennt nicht Gewalt, was von der Polizei ausgeübt wird, man nennt nicht Gewalt die Verheerungen, die Folterungen, die Erniedrigungen, die Vergiftungen, die täglich im bereich des Kapitalismus vorkommen; man nennt Gewalt, beschränkt den Ausdruck Gewalt auf die Opposition. Für mich ist es jedenfalls eines der heuchlerischsten, hypokritischsten Sprachwendungen, zu beklagen, daß in Paris ein paar Automobile verbrannten, während z. B. auf den Straßen der entwickelten Industrieländer Tausende von Automobilen im Verkehr vernichtet werden; daß man die Gewalt der Verteidigung mit der Gewalt der Aggression in einem Atem nennt. Die beiden sind völlig verschieden.

PARDON: Es bleibt also bei der Beurteilung, die Sie in Ihrer Schrift oder Ihrem Beitrag zur »Kritik der reinen Toleranz« gegeben haben? Daran hat sich nichts geändert?

MARCUSE: Ich stehe dazu, was ich in diesem Essay geschrieben habe, ja.

PARDON: Eine abschließende Frage noch, Herr Marcuse: Wie kann die revolutionäre Bewegung dem wirtschaftlichen Trend vom Arbeiter zum Angestellten Rechnung tragen? Sind die Angestellten, trotz ihrer immer wieder analysierten stärkeren Integrierung, ein denkbares revolutionäres Potential oder stirbt die Revolution mit dem letzten Arbeiter?

MARCUSE: Ich glaube nicht, daß die Revolution stirbt, solange es noch eine Klassengesellschaft gibt. Und ich glaube bestimmt nicht, daß sie mit dem letzten Arbeiter stirbt. Ich glaube noch nicht einmal, daß der letzte Arbeiter stirbt. Ich habe schon im Lauf dieser Unterhaltung gesagt, eigentlich ist a 11 e s heute potentiell ein revolutionärer Faktor. Die Angestellten — vielleicht — am wenigsten. Die Techniker, Wissenschaftler, Ingenieure, hochqualifizierte Arbeiter, die im Produktionsprozeß gebraucht werden, ja — doch muß ich gerade mit Bezug auf den gefährlichen Begriff der »neuen Arbeiterklasse« betonen, daß in der heutigen Situation diese technische Intelligenzia aktiv sicher keine revolutionäre Gruppe darstellt. In den Vereinigten Staaten jedenfalls gehört sie zu den sehr gut bezahlten gesellschaftlichen Gruppen, die ihre Dienste sehr gerne dem bestehenden System zur Verfügung stellen.

PARDON: Welches Leitwort würden Sie der außerparlamentarischen Bewegung für die nächste Fase des Auf- und Widerstandes mitgeben?
MARCUSE: Ich würde überhaupt kein Leitwort geben. Es ist eines der schönsten und der versprechendsten Anzeichen dieser neuen Bewegung, daß sie nicht auf andere angewiesen ist, nicht auf Autoritäten, die ihr »mots d‘ordre« geben, sondern daß sie ihre »mots d‘ordre« selbst und im Kampf allein herausfindet. Ich finde, diese ausgezeichnete Konstellation sollte man bewahren. Diese »organisierte Spontanität« erscheint mir der beste Ausweg.

PARDON: Herr Marcuse, wir danken Ihnen für dieses Gespräch — in dem der Vorläufer sich sogar überflüssig zu machen versuchten.

bluete