TEIL 1 Das Papier
Die im DGB zusammengeschlossenen deutschen Gewerkschaften ignorieren die deutsche Staatsräson, wie sie von der jeweiligen Bundesregierung ausformuliert und durchgesetzt wird, sie nehmen jene als gegeben hin. Dies ist die Ausgangsposition, mit der sie sich als Funktionärsvereine, die sie sind, um ihre Interessen kümmern.
Diese Position hat ihren Grund darin, daß die Gewerkschaften, wiewohl sie als staatstragende Interessenvertretungen ganz prinzipiell anerkannt sind, versuchen, eben diese Anerkennung — und das ist ihr ganz spezielles Interesse — ein ums andere Mal zu manifestieren, so als ob in der Permanenz dieser Aktivität die Anerkennung selber begründet wäre. Und da ist ja auch etwas Wahres dran: Im Klassenstaat versteht es sich ja nicht von selbst, daß die in Abhängigkeit gehaltene Klasse, vertreten durch die Gewerkschaften, eben diese Abhängigkeit als etwas Positives und daher als annehmbar begreift und akzeptiert bekommt. Die Gewerkschaften müssen also die Arbeiterklasse bei staatstreuer Stange halten — auch in Verhandlungen mit der Kapitalseite — und diese ihre Leistung dem Staat dauerhaft vor Augen führen.
Zweifel auch nur leisester Art an der Staatsräson wollen und können die Gewerkvereine sich daher nicht leisten. Ganz im Gegenteil, das Vertrauen in und auf den Staat, der sie anerkennt, und in die Politik, die sie als ihre Gesprächspartner mit stets offenen Ohren kennt, bestätigen sie in ihrer Haltung und in ihrer Rolle, als Transmissionsriemen zwischen Arbeiterklasse und Staat zu wirken.
Es stellt sich die Frage, wie die Gewerkschaften das bewerkstelligen. Hierzu liegt ein Fall vor, der seine Brisanz darin hat, daß hier ein besonderes Kapital, das Rüstungskapital involviert ist. Es dreht sich um ein dreiparteiisches Papier: Der Staat, vertreten durch die in Regierungsverantwortung stehende Partei in Form des Wirtschaftsforums der SPD, das Kapital in Form des Bundesverbands der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) sowie der Industriegewerkschaft Metall (IGM). Diese 3 Fraktionen haben ein Papier verabschiedet unter dem Titel »Souveränität und Resilienz sichern — Industriepolitische Leitlinien und Instrumente für eine zukunftsfähige Sicherheits- und Verteidigungsindustrie«.
Der Titel »Souveränität und Resilienz [Unverwundbarkeit]« unterstellt den Anspruch der Politik, die staatliche Souveränität ins Spiel zu bringen, auszuweiten und sie dahingehend anzupassen, ansonsten könnte man sich solche Hervorhebung ja sparen. Wer einwendet, es gebe doch eine Bedrohung der Souveränität, der übersieht, daß die staatlichen Ambitionen allenthalben einer Rechtfertigung bedürfen, also eine Bedrohung suggerieren soll, die man wie im aktuellsten Fall schlechterdings nicht beweisen kann. Unterstellungen an andere staatliche Gewaltmonopole sind eben nichts anderes als Unterstellungen [dazu zum Fall Rußland].
Die deutschen außenpolitischen Ansprüche, die imperialisitschen Ansprüche Deutschlands werden dann auch gleich im ersten Satz des Papiers zur Sprache gebracht, nämlich so: Rußland habe die Ukraine überfallen und damit gleichsam einen ersten Angriff auf die BRD gestartet. Kein Wort über die Gründe der Geschehnisse; als selbstverständlich wird unterstellt, daß die Ukraine zu »uns« gehört und am besten am Hindukusch »verteidigt« wird. Ein aufmerksamer Leser beachtet, wie die IGM-Führung dieser Sichtweise umstandslos folgt!
Sodann erläutert das erwähnten Papier die Ansprüche des in der Rüstungssparte angelegten Kapitals, welches selbstverständlich bemerkt hat, daß der deutsche Staat Größeres, ja wirklich Großes auf seine Tagesordnung geschrieben hat. Das was explizit einigen anderen Staaten und Terrororganisationen nachgesagt wird, nämlich daß sie Gewalt als Mittel ihrer Politik begreifen, läßt sich ja den deutschen Heuchlern feinster Sorte wirklich nicht entgegenhalten: Die Rüstungsmagnaten tun so, als generierten die deutschen Waffenexportfirmen nicht von Jahr zu Jahr neue Höchstumsätze, sie tun so, als finanzierte die BRD keinerlei Stellvertreterkriege, sie tun so, als mischte die sich nicht mit ihrer Gewalt unmittelbar im Ausland ein, wenn sie die Bundeswehr in andere Staaten, ja Kontinente abkommandiert.
Nicht einmal ansatzweise tangiert diese exorbitante Heuchelei die Funktionäre der IG Metall (die hier stellvertretend für den DGB stehen kann, denn von dem ist auch nichts Gegenteiliges bekannt)! Konsequent ist diese an den Tag gelegte nationale Haltung allenthalben:
Von Seiten des Kapitals ist es ja einleuchtend, nämlich in seiner Lobbytätigkeit eine gehörige nationale Schmeichelei an den Tag zu legen, also den Staat in seinen dem Kapital lukrativen Ansprüchen zu bestärken: »Deutschland benötigt eine verläßliche und strategische Ausrichtung für seine Industrie, die deutlich über eine Legislaturperiode hinausgeht. Nur so kann Deutschland seine souveräne Handlungsfähigkeit … [usw. usf.]« Diese Anbiederei breitet sich im Detail über den allergrößten Teil des Papiers aus, apostrofiert vom staatsfanatischen SPD-Wirtschaftsforum und unwidersprochen von der Gewerkschaft.
Von Seiten der Gewerkschaft braucht jene Position im Namen der Arbeitklasse jedoch eine Rechtfertigung, die dem Staat wie dem Kapital zwar an sich einerlei ist, jedoch als Beitrag zur nationalen Gesinnungseinheit wertvoll erscheinen läßt und deshalb auch Aufnahme in das Papier findet. Die Gewerkschaft strapaziert in solchem Zusammenhang wichtigtuerisch den Begriff »Mehrwert« — was nun wirklich nichts mit dem Mehrwert zu tun hat, der in Form des Profits in den Taschen der Kapitaleigner landet.
Bezüglich des Lamentierens der Industrie, daß das Eurofighter-Programm schon 2027 ausläuft, führt die IGM eine Studie an, die folgende Punkte beinhaltet: »
→ mehr als 400 beteiligte Unternehmen
→ mehr als 100.000 hochqualifizierte Arbeitsplätze in der EU, davon 25.000 in Deutschland und größtenteils abseits der einschlägigen Ballungszentren angesiedelt
→ mehr als 120 deutsche Zulieferer + öffentliche Institutionen für F&T
→ +10% BIP: Für jeden Euro BIP, der durch die Eurofighter Tranche 4 erzeugt wird, werden weitere 10% an zusätzlichem Beitrag zum gesamten BIP geleistet
→ +26% Steuern: Für jeden Euro Steueraufkommen, der durch die Eurofighter Tranche 4 erzeugt wird, werden in Deutschland 26% zusätzliches Steueraufkommen generiert
→ +33% Arbeitsplätze: Für jeden Arbeitsplatz, der durch die Eurofighter Tranche 4 geschaffen wird, werden 33% zusätzliche Arbeitsplätze in der deutschen Wirtschaft geschaffen «
Wie man dem entnehmen kann, macht sich die Gewerkschaft wirklich Gedanken, kolossal konstruktive Gedanken, so konstruktiv, daß die Politik, welche Gewalt und Krieg als ihr Mittel begreift und dem nationalen Ansprüchen entsprechend anwendet, glatt in den Hintergrund rückt und gleichzeitig ihr auch noch wohltuende Wirkungen hinsichtlich dieser Mittel bescheinigt werden.
Teil 2: Der Einwand
Ein IGM-Mann hat — wohl stellvertretend für eine ganze Anzahl weiterer — in einem Schreiben an den Vorstand Vorbehalte gegen jenes dreiparteiische Papier angemeldet:
»… Hier wurden pionierhaft alternative Zukunftsentwürfe zu kapitalistischen Sackgassen entworfen. Dabei müssen wir [?] uns [?] auch [!] mit der Frage, was produziert und transformiert werden soll, befassen und es nicht den Unternehmern überlassen. Die Gewerkschaften müssen diejenigen sein, die die Transformation industrieller Fertigungsprozesse mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Produkte verknüpfen.« Er interpretiert die gewerkschaftlichen Aufgaben also anders als offenbar vorgesehen, zumindest sollten deshalb noch andere Überlegungen einfließen. Er schreibt weiter: »Gesellschaftliche Bedarfe jenseits von Krieg, Zerstörung und Tod zu definieren, ist daher [weil er sich die Gesellschaft so zurechtinterpretiert, damit sie in seinen deutschen Ordnungssinn paßt?] eine der zentralen Aufgaben der Gewerkschaften in der Transformation und in der Friedensbewegung. …. Der Kurs des Papiers … sichert die Dominanz des Militärs. Es folgt der Profitlogik der Aktionäre der Unternehmen des BDSV, doch nicht der einer Interessenorganisation von abhängig Beschäftigten. Diese sind ArbeiterInnen, die einen guten Job brauchen, um ohne Not zu überleben. Sie sind aber auch Eltern und BürgerInnen, die eine zukunftsfähige Gesellschaft und eine gesicherte Friedensordnung brauchen. …«
Daß jeder »gute Job« ein abhängiger ist, damit einer von der anderen Seite ausnutzbarer wäre nicht so schwer festzustellen, doch will er an dieser fundamentalen Abhängigkeit nicht rütteln. Und daß ein solcher Job eine unter Wert bezahlte, also im rein materiellen Verständnis Ausbeutung ist, daran will er ebenso wie seine Gewerkschaftsobrigkeit nicht denken: Ebensowenig verschwendet er einen Gedanken darüber, warum eine, seine Gesellschaft Rüstung offenbar braucht und die nicht zu knapp. Er möchte sich seinen Glauben an die schöne heile Welt einer kapitalistischen Klassengesellschaft nicht durch jenes Papier in Frage gestellt sehen.
Wenn er von »gesellschaftlichem Nutzen« spricht, dann rekurriert er darauf, daß alle, also Staat, Kapital und Arbeiterklasse, ihren Nutzen von und aus der Wirtschaft ziehen können. Dafür sei eine »Transformation« nötig: Vom Rüstungskapital sei außer für dieses selbst kaum ein Nutzen erkennbar. Er begründet dies nicht etwa ökonomisch, nämlich etwa so, daß die Ware Rüstung totes Kapital darstellt, weil sie nicht mehr in den Zirkulationsprozeß des Kapitals eingeht. Nein, er macht dies vorstellig aus purem Idealismus: Frieden versteht er nicht als eine Ideologie in dem Sinne, wie er vom Staat gemeint und praktisch mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt ist und wird. Ausdrücklich stellt er sich das so vor, nachdem er diplomatische Lösungen im Ukraine-Krieg gefordert hat:
»Eine dauerhafte Steigerung des Etats für Rüstung und Verteidigung auf ein willkürlich erscheinendes, an konjunkturelle Entwicklungen gekoppeltes Zwei-Prozent-Ziel oder darüber hinaus lehnen wir ab. Vielmehr muß sich der Verteidigungshaushalt danach bemessen, was zur Erfüllung der Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung erforderlich ist. Zudem sind die Mittel und Anstrengungen für zivile Konfliktprävention und Entwicklungszusammenarbeit deutlich zu erhöhen. Die verabredete Konvention … ist nicht geeignet, diesen Zielen auch nur einen Schritt näher zu kommen.
Das Dokument spricht sich für einen Kurs verstärkter Aufrüstung auf allen Feldern der Rüstungsproduktion und des Kriegs-Know-Hows aus und verbindet dies mit der Forderung nach staatlich garantierter Planungssicherheit für Rüstungsunternehmen, die so Langzeitrenditen erhalten, die sonst kaum zu erzielen sind.«
Die Feststellung, was Staat und Kapital vorhaben, beißt sich seiner Meinung zufolge einfach an seinen idealistischen Vorstellungen, die er hat und für die er einen Ankerpunkt in den Ideologien sieht, welche allenthalben verbreitet werden: Es ginge »bloß« um Verteidigung, es ginge »bloß« um zivile Regelungen im Sinne von »Freiheit & Demokratie«, es ginge »bloß« um für alle Seiten nutzbringendes Wirtschaften, ja es ginge auch »bloß« darum, dem Personal Gehör zu schenken, um seine Mitarbeit würdigen zu können.
Letzteren Punkt unterstreicht er eindringlich: »Wer weiterhin mahnt, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, und davor warnt, Waffen an die Ukraine zu liefern, die strategische Ziele weit im russische Hinterland treffen können, muß heute wieder damit rechnen, als 5. Kolonne Moskaus denunziert zu werden. Gerade Gewerkschaften, die ja auch immer wieder zu den größten 'Opferverbänden' werden, sollten das zuallerletzt vergessen. Es waren die Schrecken der beiden großen Kriegskatastrofen, die ein deutscher Imperialismus losgetreten hatte, die dazu führte, daß unser Grundsatzprogramm als Ziel festhält, 'für Frieden, Abrüstung und Völkerverständigung' zu kämpfen. So steht es auch immer noch in der aktualisierten Satzung.«
Sowohl in dem Dokument wie in der Antwort darauf hier merkt man deutlich, wie wenig die Gewerkschaft Subjekt in der Gesellschaft ist. Soll man sich gerade deshalb mit Fragen beschäftigen, die den Status der Gewerkschaft zumindest moralisch legitimieren? Denn eine Durchsetzung von Zukunftsentwürfen glaubt der besorgte Gewerkschaftler selber kaum. Aber Widerspruch und Widerstand zumindest artikulieren, dazu
sieht er sich mit seiner IGM moralisch verpflichtet. Man kann darüber rätseln, was der materielle Nutzen für die Arbeiterklasse sein soll, denn dieser ist mit diesem Standpunkt nicht absehbar, weder im Frieden noch im Krieg.
Teil 3: Die Klarstellung
Das wiederum macht die Antwort des Herrn Jürgen Kerner, Vorsitzender der IGM, der seine steile Funktionärslaufbahn an einem Rüstungsstandort, in der Stadt Augsburg — die sich gerade deshalb als »Friedensstadt« präsentiert (man sieht hier wie Wirklichkeit und Ideologie zusammengehören!) — die begonnen hat, einfach: Er bestätigt den besorgten Schreiber in seiner irren Auffassung der deutschen Gesellschaft, nach der die einzig dem Frieden dient:
»Auf den Punkt gebracht: Es geht nicht um Aufrüstung, sondern um Ausrüstung, nicht um die Normalisierung oder gar Verharmlosung von Krieg, sondern um industriepolitische Fragen im Kontext der verfassungsgemäßen Landes- und Bündnisverteidigung. ›Eine nicht unerhebliche Rolle (…) spielt eine auch sicherheits- und verteidigungspolitische Integration im Sinne der europäischen Souveränität. Das betrifft vor allem die Rüstungszusammenarbeit und die notwendige Ausrüstung der Bundeswehr, die ihren verfassungsgemäßen Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung erfüllen muß.‹ Nicht zuletzt auf der Grundlage dieses aktuellen Grundsatzbeschlusses des Gewerkschaftstags beteiligt sich die IG Metall an Debatten zur Industriepolitik der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie….«*
Alles klar?! An der Verfassung willst Du, kritischer Gewerkschaftsgenossse, doch ebensowenig rütteln wie an gewerkschaftlichen Grundsatzbeschlüssen! Und das ist kein Gegensatz zu dem Standpunkt der IGM, die Kerner so formuliert: »Die IG Metall steht ohne Wenn und Aber für Frieden, Abrüstung und Völkerverständigung…..«
Wo man keinen Widerspruch — und der ist bei einer gewissen Unschärfe zwischen Ideologie und Idealismus offenkundig nicht leicht wahrzunehmen! — entdecken will, kann man auch keinen entdecken. Das erschiene ja als spalterisch und damit gewerkschaftsschädigend. Und da »wir« ja alle an einem Strick ziehen, laß‘, lieber Kritiker, die Sache sich nun darauf beruhen. Glaube einfach an deine famose Gewerkschaft, die dich in ihrer Gesellschaft so schätzt, daß sie dir vermittels eines ihrer Bosse sogar einen Antwortbrief schreibt! Danke, danke, danke!
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* Bereits im März hatte Kerner den IGM-Standpunkt im Sinne der deutsch-imperialistischen Staatsräson präzisiert: »Für uns war immer klar, wir liefern keine Waffen in Kriegsgebiete. Jetzt liefern wir Waffen in ein Kriegsgebiet in der Ukraine, weil wir das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine auch akzeptieren. Wer das Selbstverteidigungsrecht eines Landes akzeptiert, muß auf der anderen Seite auch sagen: Verteidigen kann man sich nur, wenn man was zum Verteidigen hat. Das ist auch für uns die Argumentation von Waffenlieferungen.« Konkreter Nutzen für den Standort D: »Wenn es eine Bundeswehr gibt, die einen Verteidigungsauftrag hat, dann muß diese Bundeswehr auch vernünftig ausgestattet werden. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Man kauft diese Waffen im Ausland oder man produziert sie selber. Da sind wir der Ansicht, wir sollten diese Waffen selber produzieren. Da haben wir dann auch das Knowhow und die Eigenständigkeit.« (IG Metall-Website, 28.03.24)
09.09.2024
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Sozialstaat 2013
Die sachliche Darlegung der sozialen Lage im Deutschland des Jahres 2013, die Prof. Butterwege gibt, läßt nichts zu wünschen übrig. Es ist nicht verwunderlich, wenn die seitens der Politik gezielt weggeblendet wird und werden kann — die Koalitionsverhandlungen stellen den neuen Armutsbericht der Bundesregierung völlig ins Abseits —, da insbesondere die deutschen Gewerkschaften, nicht weniger aber die Öffentlichkeit dies zulassen. Sie sprechen ja selber nicht gern und daher nur am Rande davon. Die, welche am Rande leben, sollen auch nur am Rande vorkommen. Lieber sprechen sie von den Erfolgen und weiteren Herausforderungen der nationalen Politik, ihren Leistungsträgern, ihrer Ökonomie.
Butterwegge listet auf und ob dieser langen Liste geht fast die zentrale Frage unter, zu der er vorstößt [die Auflistung befindet sich deshalb in der Fußnote*]:
"Und es ist doch die Frage, warum eigentlich der riesige private Reichtum nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt werden sollte." (taz, Artikel von Gabriele Göttle über ihn und seine Vorstellungen, 25.11.2013)
Ausgerechnet an dem Punkt heute, wo der private Reichtum immer weniger für die Finanzierung herhalten muß und soll und kann, weil allerhand unabweisbare Sachzwänge der Kapitalverwertung dem im Wege stehen, an dem Punkt stellt der gute Mann Butterwegge diese Frage, als wäre die unabweisbar angebracht: Der private Reichtum wird immer weniger an den sozialen Sicherungssystemen beteiligt: Da läge doch eine ganz andere Frage angebracht: Warum ist das so? Gibt es dafür nicht eine Notwendigkeit, eine Notwendigkeit, die den Interessen des Staates und seiner (freien) Ökonomie geschuldet ist?
Ausgerechnet also dann, wenn einerseits vom notleidenden Kredit, vom notleidenden Kapital so penetrant die Rede ist, wo andererseits nach Butterwegges eigenen, geradezu irrelevanten Rede, das Elend der Lohnarbeiterklasse zum Himmel schreit, möchte er daran festhalten, die Verhältnisse anders interpretieren zu dürfen, ja diese seine Interpretation der Allgemeinheit zum unabweisbaren Anliegen machen zu müssen. Und je schlimmer die Zustände werden, desto mehr:
"Mein Resümee ist: Wenn hier der Neoliberalismus mit seiner marktradikalen Sozialfilosofie — von der ich sage, daß sie eine politische Zivilreligion ist, die im Grunde alle Poren der Gesellschaft bereits durchdringt [mit dieser Formulierung trifft er den Nagel auf den Punkt!]—, wenn die zur herrschenden Weltsicht wird, dann geht das einher mit einem rigiden Armutsregime, mit einer Kriminalisierung der Armen und Stigmatisierung der Überflüssigen." So recht er damit hat, so unverständlich ist sein Schluß: Er fährt nämlich so fort: "Ich halte nichts von einer Verelendungstheorie, deshalb sage ich, gegen eine solche Entwicklung müssen sich breite Bündnisse bilden zwischen Arbeitslosenforen, Gewerkschaften, Kirchen, Globalisierungskritikern wie attac und vielen anderen kritischen Organisationen und Initiativen, die ja zahlreich existieren in diesem Land. … Ich wünsche mir eine Renaissance des Solidaritätsgedankens…. Sicher, ich bin mir absolut bewußt darüber, mit einem inklusiven Sozialstaat ist noch lange nicht der Kapitalismus beseitigt, aber man hat ihn mit Sicherheit etwas erträglicher gemacht, fürs Erste. …"
Und für's Zweite: Er will gar nicht auf die Abschaffung dieser Verhältnisse hinarbeiten, wenn er ihr gutes Image als armutsbekämpfender Sozialsstaat retten möchte! Und er möchte mehr: er möchte, daß alle die vom gesellschaftlichen Reichtum Ausgeschlossenen ihren guten Glauben an den (allein) segenmachenden, weil segensreichen Kapitalismus nicht verlieren.
(26.11.13)
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"…An die traditionelle Vorstellung von Gerechtigkeit wird kaum noch angeknüpft. [KoKa wird sich dem Thema »Gerechtigkeit« noch extra widmen. Grundlage dafür wird das neu erschienene Buch von Prof. Elmar Treptow zu eben diesem Thema sein.]
Im politischen Raum sind das immer die Bedarfsgerechtigkeit und die Verteilungsgerechtigkeit gewesen. Bedarfsgerechtigkeit bedeutete, demjenigen, der durch Behinderung, Arbeitslosigkeit und ähnliche Zwangslagen Hilfe braucht, diese auch ausreichend zur Verfügung zu stellen. Aufgabe des Sozialstaats war es, die Armut zu bekämpfen und die Bürger vor bestimmten Lebensstandard… nein Standardlebensrisiken, zu schützen, Krankheit Unfall usw. — was bei uns durch die Sozialversicherungen geregelt ist.
Und daneben gab's die Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit, davon, daß die Aufgabe des Sozialstaats natürlich auch darin besteht — als dritte Hauptfunktion des Sozialstaats quasi —, für sozialen Ausgleich zu sorgen, dafür, daß die Kluft zwischen Arm und Reich nicht immer tiefer wird.
Das war bei den Vätern und wenigen Müttern unserer Verfassung eine ganz konkrete Absicht, daß sie in Artikel 20 und Artikel 28 deutlich reingeschrieben haben, die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Bundesstaat bzw. ein sozialer Rechtsstaat. So, das beruhte auf der Vorstellung, es muß Verteilungsgerechtigkeit geben, also es darf der Reichtum des Landes sich nicht in den Händen von wenigen konzentrieren, so daß für die große Masse der Bürger kaum Nennenswertes übrig bleibt.
Heute ist es aber genau so. Selbst der beschönigte 4. Armuts- und Reichtumsbericht [ARB] der Bundesregierung von 2013 sagt, daß die reichsten 10 Prozent der Haushalte über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens in Händen halten, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 50 Prozent, nur über 1 Prozent des Gesamtnettovermögens verfügen darf. Über 40 Millionen Menschen leben sozusagen von der Hand in den Mund.
Der Durchschnittsverdiener, der kein Vermögen besitzt, sondern lediglich nur seinen ungesicherten Arbeitsplatz, befindet sich in einer Art sozialem Schwebezustand zwischen Armut und Wohlstand, vom Absturz trennt ihn nur eine schwere Erkrankung oder die noch nicht ausgesprochene Kündigung.
Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Billionen Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staats laut 4. ARB in den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Milliarden Euro gesunken. Entsprechend sind die Auswirkungen. Es wird verkündet, man müsse »den Gürtel enger schnallen«.
Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten, sie umsorgen sich selbst, ihre Kinder besuchen Privatschulen und ausländische Universitäten, sie sind auf gute staatliche Schulen und Krankenhäuser, auf öffentliche Schwimmbäder, Bibliotheken und sonstige kommunale Einrichtungen nicht angewiesen. Aus ihrer Wahrnehmung fällt die Lebensrealität eines abhängig Beschäftigten vollkommen heraus. (Heute muß ein Arbeitnehmer 45 Jahre lang in Vollzeit arbeiten, und das zu einem Stundenlohn von über 10 Euro, damit er im Alter eine Rente knapp über dem Hartz-IV-Niveau erreicht. 4,7 Millionen Arbeitnehmer verdienen aber derzeit weniger. Anm. G.G.)
…
In der Zeit des »Wirtschaftswunders« in der Bundesrepublik gab es den Slogan »Wohlstand für Alle«, er stammt vom 1957 erschienenem gleichnamigen Buch von Ludwig Erhard. Heute ist nur noch »Bildung für alle« das Versprechen, das die Bundeskanzlerin gibt. Dieses Versprechen, die Armut mit Bildung zu bekämpfen, kann vielleicht für Einzelfälle funktionieren, es ist aber Bildung längst kein Garant mehr dafür, daß sie ein berufliches Fortkommen und gutes Einkommen sichert.
11 Prozent aller im Niedriglohnsektor Tätigen haben z. B. einen Hochschulabschluß. Selbst im öffentlichen Dienst an den Hochschulen sind es 80 Prozent inzwischen, die nur noch eine befristete Stelle haben. Also das ist ein Bereich, der ja allgemein als gesellschaftlich privilegiert gilt. Dennoch wird unverdrossen propagiert, es soll aus der Bundesrepublik eine Bildungsrepublik gemacht werden. Wer keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit hat, hat eben nicht genug Bildungsanstrengungen gemacht.
Tatsächlich ist es aber so, daß bei immer besserer Bildung die Jungen z. B. einfach nur auf höherem Niveau um die Arbeitsplätze konkurrieren, unbezahlte Praktika machen und daß noch mehr Taxifahrer mit Hochschulabschluß herumfahren.
Und an den Hochschulen selbst ist die Bildung ja auch »verschlankt« worden. Unter Bildung wird nur noch berufliche Qualifikation verstanden, die Hochschulen sollen in möglichst kurzen Studiengängen, sprich Bachelor-Studiengängen, für den Arbeitsmarkt die erforderlichen Kräfte produzieren. Ich habe natürlich Bachelorisierung, Masterisierung, Modularisierung und all das bekämpft, denn im Grunde wird die Universität dadurch reduziert auf eine akademische Berufsschule.
Zugleich wurde die Hochschule umstrukturiert, und ich muß mit ansehen, wie stark auch meine Universität hier immer mehr zu einem Unternehmen gemacht wird. Stichwort Exzellenzinitiative. Auf dem Einzelnen lastet ein immer stärker werdender Druck, nur noch das an Wissenschaft [Anm. KoKa: Wobei sich schon die Frage stellt, inwieweit das überhaupt mit »Wissenschaft « zu tun hat — im aristotelisch-ursprünglichen Sinne, eines auf Beweis beruhenden Schlusses jedenfalls nichts!] zu produzieren, was verwertbar ist und ökonomischen Gewinn abwirft. Der Konformismus in der Wissenschaft ist inzwischen so groß, wie er seit den 50er Jahren der bleiernen Adenauerzeit nicht mehr war.
Bildungsversprechen taugen nicht zur Armutsbekämfung. Und auch nicht Reichtumsförderung auf steuerpolitischem Gebiet. Was nötig wäre, ist eine Umverteilung nach unten, und zwar von Einkünften, Vermögen und auch von Arbeit. Arbeitszeitverkürzung wäre ein ganz wichtiger Ansatz und ebenso Lebensarbeitszeitverkürzung. Unabdingbar ist natürlich eine inhaltliche, organisatorische und strukturelle Erneuerung des sozialen Sicherungssystems.
Wobei ich Ihnen an dieser Stelle sagen muß, ich halte nichts vom »bedingungslosen Grundeinkommen«. Das wird Sie vielleicht wundern, aber ich will meine Gründe darlegen, vielleicht kann ich Sie ja überzeugen: Ins Gespräch gebracht wurde es als Alternative zum Sozialstaat, nach dem Motto, wir vertrauen jetzt nicht mehr auf unsere bisherigen sozialen Sicherungssysteme, sondern wir lösen das, was einstmals hart erkämpft wurde und wie es besteht seit Bismarck, ab und ersetzen es komplett durch ein steuerfinanziertes bedingungsloses Einkommen. Das ist für mich Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip, ein Grundeinkommen für alle Mitglieder der Gesellschaft, ob arm ob reich.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Falle
Hier wird das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit vollkommen auf den Kopf gestellt. Es gibt verschiedene Modelle, wobei das Konzept der Linken sich allerdings von dem der anderen unterscheidet [Anm. KoKa: Selbst die österreichischen Faschisten — die FPÖ — fordern ein solches: 1200 Euro netto im Monat! —Wenn genügend Ausländer in den Arbeitslagern umsonst arbeiten, dann ist das staatlicherseits locker finanzierbar.]. Einer der Hauptvertreter fürs bedingungslose Grundeinkommen ist Götz Werner, Milliardär und Gründer der DM-Drogeriemarkt-Kette, und der braucht nun wirklich kein bedingungsloses Grundeinkommen von 1.000 oder 1.500 Euro vom Staat. Ich als C4-Professor brauche es auch nicht.
Die andere Sache ist aber, daß es für die, die es brauchen, eine Falle ist. Es wäre im Grunde ein Kombi-Lohn für ALLE. Es wäre ein eindeutiges Signal an die Unternehmer, das als Lohnsubvention aufzufassen. Der ohnehin schon ausufernde Niedriglohnsektor, in dem jetzt schon fast alle Beschäftigten arbeiten — über 4 Millionen Menschen arbeiten für einen Bruttostundenlohn von unter 7 Euro —, der würde noch breiter.
Sehr deutlich ist das heute ja schon an der immer größer werdenden Zahl von »Aufstockern«. Hartz IV ist ja nicht nur für Langzeitarbeitslose, es werden auch 1,3 Millionen Erwerbstätige finanziert, weil ihre Einkommen so gering sind, daß sie ergänzend finanzielle Leistungen vom Jobcenter in Anspruch nehmen müssen.
Und wenn man das Grundeinkommen finanzieren will, so wie Götz Werner, nämlich über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, dann wird das Geld beim Einkauf ja schon wieder aufgezehrt. Dem hält er das Argument entgegen, daß durch den von ihm gewünschten vollkommenen Wegfall der Einkommens-, Gewerbe- und Körperschaftssteuer für Unternehmer diese dann, wegen der finanziellen Entlastung, ihre Preise senken würden. Das ist natürlich ein genialer Einfall, um auch noch die letzten Verpflichtungen loszuwerden.
Außerdem würde eine 50- oder 100-prozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer dazu führen, daß gerade diejenigen, die wenig haben, die sozial Benachteiligten, die jeden Cent in den notwendigen Alltagskonsum stecken müssen, ihr bedingungsloses Grundeinkommen auch noch selber finanzieren. Ich kann natürlich verstehen, daß viele, die durch Schikanen und Sanktionen der Jobcenter drangsaliert werden und keine ruhige Nacht mehr haben, nach diesem Strohhalm nur allzu gerne greifen würden.
Licht am Ende des Tunnels
Aber das Licht am Ende des Tunnels würde sich bald als Trugschluß erweisen, denn über das Grundeinkommen hinaus gibt es dann keinerlei verbürgten Rechtsanspruch mehr. Auf nichts! Es ist alles abgegolten. Die eigentlichen Gewinner sind wieder mal nur die Vermögenden und Unternehmen, die endlich von allen Abgaben befreit wären.
Es ist ja heute schon so, daß nur noch Rudimente der ehemaligen Ansprüche der Arbeitnehmer und Arbeitslosen übrig geblieben sind. Dahinter steckt die Absicht, daß der Sozialversicherungsstaat in der Tradition Bismarcks mehr und mehr zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat gemacht wird.
Im Resultat führt das zu einer »US-Amerikanisierung« unseres Sozialstaats. Und es führt dazu, daß den prestigebedachten Reichen die Möglichkeit eröffnet wird, zu spenden, zu stiften, als Mäzene aufzutreten und Almosen zu verteilen. Almosen übrigens, die verteilte der Sozialstaat vor seiner Demontage nämlich gerade nicht, weil er die Grundrechte beachten mußte und sein Handeln auf Rechtsansprüchen beruhte. Almosenempfänger hingegen haben keinen Rechtsanspruch. Sie sind der Bereitschaft der Reichen ausgeliefert, etwas abzugeben von ihrem Reichtum.
Das spiegelt auch genau dieses neoliberale und marktradikale Denken wider, daß das mündige Individuum im Sinne seiner Freiheit – jetzt nicht der Freiheit des Citoyens, sondern des Bourgeois, und diese Unterscheidung ist wesentlich – entscheidet, was und wofür und wem es gibt von seinem Reichtum. Die Bedürftigen hingegen haben die Freiheit, Wohlverhalten, Bescheidenheit, Fügsamkeit und natürlich auch Dankbarkeit an den Tag zu legen – oder auch nicht.
Nein! Wofür ich plädiere, ist etwas ganz anderes: eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung als eine konsequente Weiterentwicklung des von Bismarck begründeten Sozialversicherungssystems. Dazu ist ein Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Wohnbürgerinnen- und -bürger nötig. Und dadurch erfährt diese Bürgerversicherung auch ihre wichtigste Rechtfertigung, daß sie nämlich den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden solidarischen Sicherungssystem verwirklicht.
…. "