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»Der Papst und der Kapitalismus« (Kommentar von Walter Roller, AZ, 24.12.2013)
»Der Papst und das Kapital« (Kommentar von Ulrike Herrmann, taz, 20.12.2013) [alle weiteren Zitate in eben jenen Artikeln]

Hermann zitiert ihn: "Es ist unglaublich, daß es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht." und "Diese Wirtschaft tötet." (taz, 20.12.13, zitiert aus dem Papst-Pamflet »Die Freude des Evangeliums«)

Den Verdacht, der sich aufgrund dieser und anderer Anklagepunkte ergibt, er, der Papst sei Marxist, den hat er höchstselbst in einem Interview mit la stampa zurückgewiesen. Und sowohl Roller wie Herrmann betonen nochmal ausdrücklich, dem sei nicht so. Auch sie können allen Anklagepunkten zum Trotz nicht umhin, den Verdacht zu dementieren. Und zwar aufgrund der Widersprüchlichkeit, in die der Papst sich begibt: Schließlich will er ja keine Ursachenforschung für die zum Himmel schreiende Armut in aller Welt betreiben, jedenfalls beläßt er den Zusammenhang zwischen Armut und Kapital, den er vorstellig macht, in mystischen Sfären. Das ist Herrmann klar geworden: "Der Papst interessiert sich zwar für die Armut, aber offenbar nicht für die gesellschaftlichen Zusammenhänge." und Roller sekundiert wenige Tage später: "…die Abrechnung des Papstes mit einer Wirtschaftsordnung, die auf Profitmaximierung zielt und keine Moral kennt, zählt zum bekannten Repertoire der Zivilisationskritik." Doch was den Papst an der Armut so interessiert, das wird mit dem Neuen in seiner Anklage klar. Offenbar vermeint er nicht länger umhin zu können — gerade um die Armen für sich und seinen Glauben zu vereinnahmen! —, den Kapitalismus radikal an den Pranger zu stellen; oder wie es Roller formuliert: "Neu sind die radikalen und antikapitalistischen Töne, die das Oberhaupt in seinem jüngsten Lehrschreiben anschlägt. Ein Papst, der den Kapitalismus zum Urquell allen Übels erklärt und damit den Beifall der Linksparteien in aller Welt findet: Das ist ein Novum in der modernen Geschichte der Kapitalismuskritik." Offenbar hat der Papst eine Marktlücke für seine Botschaft entdeckt, welche die Linksparteien in ihrem weltweiten Niedergang hinterlassen haben: Eine Marktlücke für seinen Glauben. (Daß jene Linksparteien auch nichts anderes als Glaubensbotschaften vertreten, ist übrigens ihr Armutszeugnis.) Einerseits. Andrerseits: Seine Kapitalismuskritik ist dadurch nicht weniger ernstzunehmen. Was ist ihre Substanz? Der Kapitalismus, der sich mit der Ideologie rechtfertigt, Armut zu bekämpfen und letztendlich zu beseitigen [die Armut, die er selber schafft! — aber darauf wird noch eingegangen werden], funktioniert nicht so, wie er sollte, wenn man ihm diese seine Ideologie als veritablen Zweck abnehmen soll. Und daß er dem Kapitalismus eben diese Ideologie als Zweck abzunehmen gewillt ist, darauf weist Roller dann ausdrücklich hin. Roller will für die Leser seines Tagesorgans klarstellen, daß diese Rechtfertigung ihren guten Grund hat. Was Roller zu dem Konstrukt verleitet, Ideologie mit Fakten zu beteuern: Roller. "Er [Franziskus] bekennt sich ja zum Privateigentum, zur Freiheit des Unternehmertums und zu den Prinzipien der Marktwirtschaft, die letztlich auch dem Gemeinwohl zugutekommen. …. Doch der Befund des Papstes, wonach die Armen im Zuge der Globalisierung immer ärmer würden, trifft ebenso wenig zu wie die Behauptung, wonach die ungleiche Verteilung von Einkommen »an sich ungerecht« sei. Laut einer Studie der Weltbank [der Roller mehr glaubt als dem Papst!]  ist in den vergangenen 30 Jahren die Zahl der sehr armen Menschen [man beachte die feine Unterscheidung zwischen »arm« und »sehr arm«!] um 700 Millionen auf 1,2 Milliarden gesunken. Überall dort, wo marktwirtschaftliche Elemente eingeführt wurden, geht es voran. [gemeint ist: bei der Armutsbekämpfung als Zweck der Kapitalisierung aller Lebensbereiche]" Daß es mit der Armut selbst in den Zentren des Kapitalismus bergauf geht — man schaue auf die USA und auf die BRD, man schaue auf ihre Periferien, Mexiko dort, Griechenland, Spanien, Italien, Portugal hier, von den weiter entfernten Regionen wie Osteuropa und Afrika gar nicht zu reden —, braucht einen ja nicht zu stören, wenn die einzig zu einem diesbezüglichen Urteil für befähigt erachtete Weltbank das Gegenteil behauptet. Man weiß ja, daß die Armutsgrenze für die sehr Armen immerzu angepaßt wird, mal ist es ein Dollar pro Tag, dann ein Euro, dann wieder zwei Dollar oder 1,50 Euro pro Monat… Als ob so eine Statistik nicht ein geistiges Armutszeugnis an sich ist! Vom Zynismus gar nicht zu reden, wenn ein Mensch mit solchen Beträgen am Tag auskommen muß, während ein Löscher oder Fitschen zig Millionen einstreichen und jeden Tag in einem Nobelhotel und/oder einem Nobelpuff verbringen können, ohne je befürchten zu müssen, arm zu werden. Der Papst und seine Bischöfe können sich übrigens kaum weniger an protzendem Luxus erlauben, wovon über 95% der Weltbevölkerung allenfalls träumen können. Aber das sei nur am Rande erwähnt, weil es Walter Roller offenbar so sehr darauf ankommt, die päpstliche Kapitalismuskritik zu entkräften***.

Der Witz der Armut ist nämlich ganz ein anderer: Wir haben gesehen, daß der Papst uns sagen will, daß der Kapitalismus nicht so funktioniert, wie er sollte, also sehr »ungerecht« funktioniert. Das ist offensichtlich und das kann auch Roller nicht wirklich dementieren. Weshalb Roller dann einen Übergang** drechselt: Das Finanzkapital habe den gesamten Kapitalismus in Verruf gebracht und müsse deshalb von der Politik entsprechend, wie versprochen, reguliert werden. Kein Gedanke — für einen Parteigänger des Kapitalismus nur zu natürlich — daran, was das Geldkapital dazu ge- bzw. verführt hat, auf diese »Abwege« zu geraten.

Ulrike Herrmann verfällt vom Verdikt des Papst, der Kapitalismus funktioniere nicht so, wie er sollte, auf einen anderen Gedanken: Hat da nicht mal wer untersucht, wie der Kapitalismus denn funktioniert: "Da war Marx anders. Nicht alle seine ökonomischen Theorien waren richtig*, aber er wollte verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert. In diesem Sinne ist es bedauerlich, daß der Papst kein Marxist ist. Mehr Neugier hätte nicht geschadet."
Schade, weil eine in jeder Hinsicht falsche Feststellung. Das Funktionieren des Kapitalismus hat Marx mitnichten interessiert. Er hat es einfach angesichts der Tatsachen seinem Vorhaben unterstellt, ganz abgesehen davon, daß er auf das Funktionieren desselben eh keinen Einfluß sich — vermessener Weise — zumaß. Was Marx interessiert war, war ein Rätsel bzw. die Auflösung desselben: Wie kommt es, daß auf der einen Seite immer größerer Reichtum entsteht — Reichtum sowohl in konkreter Form als Ware wie in abstrakter Form als Geld — und auf der anderen Seite immer größere Armut entsteht, es immer mehr Leute gibt, die von eben diesen Reichtümern ausgeschlossen sind, auch immer mehr, die sich nicht einmal das Lebensnotwendige kaufen können, weil sie eben nicht über das dafür nötige Geld verfügen? Das war die Frage, deren Beantwortung er drei wissenschaftliche Bände gewidmet hat (von den extrigen Würdigung seinerzeitiger Theoretiker wie Ricardo und Adam Smith mal ganz abgesehen).

Und Marx hat darin folgendes nachgewiesen: Der Reichtum der kapitalistischen (mittlerweile: Welt-)Gesellschaft beruht auf einer produktiv gemachten Armut, er beruht auf Lohnarbeit. Marx geht nicht von den Klassen aus, die Klassen sind das Ergebnis seines Beweises, sein letztes Kapitel. Die Klassen unterscheiden sich fundamental darin, worüber sie ihre Revenuen erhalten, sich bzw. ihr Kapital reproduzieren können: Blöd ist es allenthalben, wenn das einzige Kapital, über das einer verfügt, seine ureigene Arbeitskraft ist… Das ist der Witz der Armut im Kapitalismus. Denn diese Notlage wird gnadenlos ausgenutzt. Und zwar überhaupt nicht dazu, Armut zu bekämpfen. Damit würde sich der Kapitalismus ja nun wirklich seiner eigenen Grundlage berauben.

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*Anstatt Plattitüden breitzutreten, sollte Herrmann doch mal ausführen, wo Marx ihrer Meinung zufolge im »Kapital« — und um das geht es ja wohl — falsch lag.
** Die Notwendigkeit des Finanzkapitals aus dem stets zunehmenden Kreditbedarf des produktiven Kapitals, die damit verbundene Notwendigkeit des Finanzkapitals sich auch jenseits der Rückflüsse aus dem kreditierten produktiven und Handels-Kapital refinanzieren zu müssen und die Verselbstständigung des Zwecks aus Geld mehr Geld zu machen, ganz ohne daß dazwischen eine Warenproduktin stattfinden muß, all das hat Marx aus der einfachen Ware, wie sie zu Abertausenden gerade zur Weihnachtszeit uns allen und besonders den Kindern mit den großen Augen in den Schaufenstern des Kapitalismus präsentiert wird, ent-wickelt und erklärt. Dennoch müssen wir bei KoKa nicht befürchten, daß Walter Roller zum — im Januar 2014 neu beginnenden Kapitallesekreis in Augsburg — stoßen wird. [Unser Zielpublikum ist eh ein ganz anderes.]
*** Da darf der Hinweis nicht fehlen, daß es sich beim Kapitalismus "wie die Geschichte lehrt, um die produktivste Form des Wirtschaftens, die Wohlstand schafft und soziale Leistungen erst ermöglicht" (Roller) handelt. Produktivst sowohl hinsichtlich der Schaffung von Reichtum wie von Armut. Die sozialen »Leistungen« sind einigermaßen notwendig, einer rationellen Verwertung der Lohnarbeiterklasse geschuldet: Dafür werden — das die Errungenschaft — die Reproduktionsbedürfnisse dieser Klasse — eben bedingt — berücksichtigt. Das wird zusätzlich dadurch anschaulich, wenn man die Arbeiterreservearmee, also die Arbeitslosen und den staatlichen Umgang mit ihnen betrachtet: Die Arbeitslosen werden vorsätzlich kurzgehalten und so unter Druck gesetzt, Verwertbarkeit an sich herzustellen und sich, koste sie, was es wolle, auf dem Arbeitsmarkt zu verdingen. Das ist die Wahrheit über das »unschlagbare Modell: Demokratie plus soziale Marktwirtschaft«, auf das Roller nichts kommen lassen möchte und der Papst im Prinzip auch nicht.

(24.12.13)

bluete