Der Funktionalismus — eine ebenso famose wie monumentale Abstraktion
Die Frage ist nicht, was und wofür etwas funktioniert. Allein die Tatsache, daß etwas funktioniert beziehungsweise nicht funktioniert, spielt heutzutage in unzähligen Diskussionen eine richtungweisende Rolle.
So wird der Abgang der Sowjetunion von der politischen Weltbühne mit samt deren merkwürdigen Verständnisses von Sozialismus als Staatsideologie in dem Grund gesehen, nicht nur diese Sorte Sozialismus, vielmehr Sozialismus überhaupt habe eben nicht funktioniert und könne auch nicht funktionieren. Umgekehrt wird der kampflos errungene Sieg des »freien Westens« eben damit begründet, daß sein System, der Kapitalismus, funktioniert. Das Funktionieren gilt also als Qualitätsmerkmal. Ein Merkmal, an dem selbst Marx nicht gerüttelt hat, allen Krisen zum Trotz, die er aus seiner Analyse des Kapitals und in bemerkenswerter Übereinstimmung mit der ökonomischen Realität abgeleitet hat. Der Versuch, Marx zu widerlegen, ist, sofern er überhaupt versucht wurde, jämmerlich gescheitert — ganz im Gegensatz zum realen Sozialismus im Osten Europas.¹
Der Westen weist sich also selber das Gütesiegel, zu funktionieren, zu. Und er wirft einiges dafür in die Bresche, damit er funktioniert, allen Krisen und Kriegen geradezu zum Trotz: Mit der Anwendung staatlicher Gewalt funktioniert ja so einiges oder zumindest soll es so funktionieren. Beim Kapitalismus freilich ist die Gewalt bisweilen mitunter, so man will, leicht zu übersehen, denn die staatlich freigesetzte Ökonomie übt einer stummen Zwang aus, dem sich die ökonomischen Subjekte, Kapital und Lohnarbeiterschaft, unterworfen sind. Die Arbeiter ganz einfach dadurch, daß sie lebensnotwendigerweise ihre Arbeitskraft bar sonstigen Einkommens verkaufen müssen. Die Kapitaleigentümer dadurch, daß sie den Notwendigkeiten der Kapitalverwertung unterworfen sind, um ihr Kapital als Kapital aufrechtzuerhalten (was ohne dessen Vermehrung nicht erreicht werden kann).
Das war in der Sowjetunion und ihren Bündnisstaaten anders, da war die Ökonomie nicht von Staats wegen freigesetzt, vielmehr unmittelbar staatlich. Also gab es auch keinen »stummen« Zwang; der Staat zwang unmittelbar seine Vorstellungen seiner Ökonomie auf. Funktioniert hat auch das. Allerdings nur so lange, bis der Staat seine Räson geändert hat. Seine Räson bestand in der Kalkulation, den Westen mit einer zentralisierten Wirtschaft aus- und niederkonkurrieren zu können. Er verglich mittels der ökonomische Produktivität. Ganz so, als ob diese Zweck der kapitalistischen Produktionsweise wäre! Die Produktivität ergibt sich nämlich ganz automatisch aus den Verwertungsbedingungen des Kapitals. Aber so, den Vergleich aushaltend, seine Arbeiterschaft auszubeuten war letzthin nicht der Zweck des realsozialistischen Staates. Daher sahen Gorbatschow und seine Experten den Ausweg darin, sich ökonomisch dem Westen anzupassen, ihre Wirtschaft schrittweise freizusetzen und damit in einem letzten Schritt ihre sozialistische Staatsräson ganz fallen zu lassen. Die Meinung mit einer kapitalistischen Staatsräson funktioniere der Staat besser hat sich bis heute in Moskau erhalten. Rußland funktioniert trotz dem vom Westen an es herangetragenen Krieg sogar zum Leidwesen des Westen so gut, daß ihm mit Sanktionen nicht beizukommen ist. Im Gegenteil, diese schlagen auf ihn selber zurück und beeinträchtigen sein Funktionieren erheblich. Kein Wunder, daß die G7-Staaten sich ihrer Gewalt mehr denn je besinnen!
Blickt man heute auf die allüberall herrschende kapitalistische Weltordnung, einer Ordnung unter der Regie des Westens, angeführt von den USA, dann ist auffällig, wie sehr das »Funktionieren« der Maßstab geworden ist. Die ganze Ent-Kolonialisierung, die in Afrika und Asien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stattgefunden hat, ist der Einsicht zu verdanken, daß die dortigen Staaten ähnlich den süd- und mittelamerikanische Staaten, die schon viel früher »souverän« geworden waren, viel besser im Interesse der Kolonialmächte funktionieren, wenn sie von einheimischen Herrschern regiert werden. Mehr oder weniger demokratisch das spielt dabei keine Rolle, Hauptsache diese Länder dienen dem Westen als Rohstofflieferanten, halten ihm nicht verwertbare Menschenmassen vom Hals und dienen selbstverständlich in Sachen Gewalt — eigener wie in Form zugelassener ausländischer Militärbasen — ganz der globalen Freiheit des Kapitals.
Nun schreiben wir das Jahr 2025 und allem Anschein nach, wacht allmählich die Bevölkerung im globalen Süden aus ihren Träumen auf, erkennend das üble Spiel, das die imperialistischen Mächte nach der Entkolonialisierung mit ihnen gespielt haben. Sie wollen nicht länger die Verfügungsmasse jener abgeben. Sie stellen die Frage, wofür und wozu. Sie kommen zum Ergebnis, daß ihre Souveränität eine Betrug war. Vielerorts wurden daher Statthalter der G7-Staaten weggeputscht. Sehr zum Verdruß der USA, Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und ihrer europäischen Trittbrettfahrer. Das alles geschieht unter dem Eindruck, daß es durchaus Alternativen zur bisherigen Abhängigkeit gibt. Weder Rußland noch China mitsamt den BRICS-Staaten streben solch ungleiche Verträge mit dem globalen Süden an, wie das Usus der Imperialisten war und nach wie vor ist. Kein Zweifel, daß der globale Kapitalismus auch anders funktionieren kann als bislang, wenn nur eine alternative Staatsräson vorherrscht. Jedenfalls müssen die imperialistischen Staaten feststellen, daß ihr Empire nicht mehr so glatt funktioniert wie bisher. Das hat schon seit geraumer Zeit — die Überakkumulationskrise des Kapitals im Jahres 2008 war hierbei ein deutlicher Einschnitt — dazu geführt, daß die Imperialisten anderen Staaten mehr denn je ans Leder wollen². Die Staaten des früheren Warschauer Pakts wurden buchstäblich einkassiert, selbst an den Einflußbreich Rußlands, an die GUS-Staaten, machten sie sich nun entschlossener denn je heran, hoffend auch hier leichtes Spiel zu haben, indem sie der dortigen Bevölkerung weiszumachen versuchten, nur dann in einem funktionierenden Staate leben zu können, wenn solcher nach und am Westen ausgerichtet sei. Blöderweise hat das nun aus westlicher Sicht einen Krieg gegen Rußland nötig gemacht³. Und noch blöder ist, daß man den Krieg ganz offensichtlich nicht gewinnen kann, je mehr man auch seine soooo geliebte Ukraine bluten läßt. Auch das gehört freilich zum Funktionieren. Und eines muß man zugeben: Die auf SS-Bandera verpflichtete Führerschaft der Ukraine läßt es am Funktionieren nicht mangeln! Respekt! Auch anderswo existieren Fachkundige, die aufs Funktionieren abgerichtet sind, in Argentinien beispielsweise.
Nichtsdestotrotz gibt es Orte der Dysfunktion. So wie es aussieht, werden Bestandteile des »freien Westen« selbst der kapitalistischen Sache abträglich⁴. Offenkundiges Zeichen dafür sind die stark zunehmende Staatsverschuldung und die ebenso stark zunehmende Militarisierung mit dem Zweck, einen funktionalen Zustand quasi künstlich, d.h. mit allen Mitteln inklusive Gewalt, aufrechtzuerhalten. Diesen Scharfsinn beweisen die führenden Politikerköpfe, schließlich sind sie Funktionsträger, als solche sich der Verantwortung bewußt, Staat und Wirtschaft am Laufen zu halten. Und natürlich werden dabei die imperialen Ansprüche nicht einen Augenblick außer Acht gelassen. Speziell die deutschen Imperialisten haben nebst ihren aktuellen Belangen der transstaatlichen Verwertung von Kapital eine historische Rechnung noch nicht vergessen, welche sie sich offenkundig schuldig sind: Ihr Name ist Stalingrad.
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¹ Hier ist nicht der Platz, auf die mannigfaltigen Fehler der UdSSR und ihrer Bündnisstaaten, die von Stalin bis Gorbatschow begangen wurden, näher einzugehen. Dazu der Hinweis auf das Buch: »Von der Reform des 'realen Sozialismus' zur Zerstörung der Sowjetunion«, GegenStandpunkt-Verlag, 1992.
² Wegen den Rohstoffen, die zu Kapital werden sollen, ganz bestimmt, nur dafür ist ja erst eine strategische Sicherung notwendig, also bevor überhaupt feststeht, ob sich eine Erschließung und Schürfung mehr oder weniger seltener Mineralien überhaupt lohnt. Gleichzeitig bedeutet diese Sicherung den Ausschluß anderer Nationen von diesem Reichtum, in diesem Falle eben hauptsächlich den Ausschluß Rußlands.
³ Der Leser soll an dieser Stelle nicht annehmen, im Westen würde nicht längerfristig gedacht. Hier ein Ausschnitt eines Artikels von dem damaligen stellvertretenden US-Außenminister Strobe Talbott: »Postkommunistische Staaten stehen einem Dilemma gegenüber: Als Ökonomien im Übergang von zentraler Planung zu offenen Märkten müssen sie massive Defizite und Staatssubventionen an ineffizienten Industrien drastisch zurückschneiden. Und als junge Demokratien sind ihre Bürger frei, ihre politischen Führer zu wählen, oft erstmals in ihrem Leben. So spiegeln Wahlen nicht nur die Bestrebungen der Bürgerschaft auf eine bessere Zukunft wider, sondern auch ihre Unzufriedenheit mit dem naheliegendem, befristeten Schmerz, der die Reformen unvermeidlich begleitet. Das Ergebnis ist in der Tat oftmals eine Wiederkehr derzeitiger oder früherer Kommunisten.
In jüngeren Jahren haben sich Versionen dieses Szenarios in Polen, Litauen, Rußland und Ungarn abgespielt. Das letzte Beispiel ist die Ukraine, ein Land, dessen Stabilität und Sicherheit für Europa und die USA eine grundlegende Angelegenheit ist. Bei den kürzlichen Wahlen am 30. März führte die Kommunistische Partei die Abstimmung in einer Mehrheit von Orten an und gewann den breitesten Block an Sitzen im Parlament. Ihre erklärten Politikziele beinhalten die Umkehrung einiger Schlüsselelemente des ukrainischen Privatisierungsprogramms ebenso wie die teilweise Wiederverstaatlichung der Industrie und des Bankwesens.
Die USA haben die politische und wirtschaftliche Reform in der Ukraine unterstützt, seit das Land die Unabhängigkeit erlangte, und sie betrachten das Wahlergebnis mit Sorge. Jedoch ist die Fähigkeit der Kommunistischen Partei, die Uhr zurückzudrehen, ernstlich begrenzt.. Die Notwendigkeit des Zuflusses internationalen Investmentkapitals und Entwicklungsunterstützung erweist sich für die Ukraine wahrscheinlich als stärker als der Alarmgesang einer bankrotten Ideologie.
Der IWF und die Weltbank haben klargestellt, daß sie weitere Unterstützung solange zurückhalten werden, bis die Ukraine bezüglich einiger lang aufgeschobener Reformen Fortschritte macht. (…) Die Ukaine ist in gewisser Beziehung ein zerbrechlicher Staat. Die größte Quelle ihrer Zerbrechlichkeit ist ihre Ökonomie, die ausländisches Investment mehr zurückweist als anzieht und die insoweit gescheitert ist, die Art von Wohltaten hervorzubringen, die man in anderen postkommunistischen Staaten für gewährleistet zu halten begonnen hat. (…)« (Washington Post, 14.04.1998)
⁴ Gedacht ist hier an entwertetes Kapital, mitverursacht zum Beispiel durch den politischen Verzicht auf günstige, direkte Öl- und Gaslieferungen aus Rußland.
© KoKa Augsburg, 24.03.2025
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