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Eine realistisch erdachte Antizipation der kapitalistischen Entwicklung

Die Zentralisation des Kapitals und die Zertrümmerung des Proletariats

 

Claude Farrère¹ schrieb 1921 einen Zukunftsroman, der möglichst realistisch wirken sollte, dessen Geschehnisse heute allerdings schon wieder rund 30 Jahre zurückliegen. Indessen war dieser Roman selbst der heutigen Zeit in mancherlei Hinsicht um das ein oder andere voraus.
Die Zentralisation des Kapitals war weit fortgeschritten. In einer einzigen Fabrik, gelegen auf einer Insel im Mississippi-Delta, wurde das gesamte Brot für den amerikanischen Doppelkontinent hergestellt. Selbstredend war auch die Technik atemberaubend. Kleine Flugzeuge, landbar auf Flachdächern, eröffneten zumindest den Wohlhabenden bislang ungeahnte Mobilität. Nicht in dieses epochale Bild paßte da ein nach wie vor existentes Proletariat. Doch die Besitzer der Brotfabrik zeigten Herz und setzten es nicht einfach außer Brot². Das wäre nämlich möglich gewesen, da schon neueste Maschinerie eingetroffen war, die dies ermöglicht hätte. Die Schiffe mit dieser beladen wurden der Arbeiterschaft zuliebe und für sie außer Sichtweite weitab bei New Orleans verankert. Kurzum, die Arbeiter wußten davon nichts. Sie lebten in einer standardisierten Mustersiedlung mit mehrstöckigen Blocks, von der Firma für sie errichtet. In dieser gab es das für ihre Reproduktion nötige, Lebensmittelläden, Kneipen, Kinos, Kindergärten etc. Viele der Arbeiter fühlten sich durch die Eintönigkeit in dieser Wohngegend ebenso wie von der stumpfsinnigen Fabrikarbeit borniert und niedergedrückt. Manch einer versuchte sich durch Sabotage an den Backmaschinen Luft zu verschaffen, allenthalben erfolglos. Doch es gab auch einen, der den großen Aufstand plante. Dieser wurde ins Werk gesetzt, die Fabrik zu stürmen versucht. Mit brutaler Polizeigewalt wurde die Revolte niedergeschlagen. Schon anderntags langten die Schiffe mit den – den allergrößten Teil der Arbeiter ersetzenden – Maschinen an und so konnte die Produktion geradezu verzögerungslos fortgesetzt werden.

Aus Farrères Zeit heraus verständlich: Seinerzeit gab es noch eine Arbeiterbewegung. Die Arbeiterbewegung wurde über die Jahre vom demokratischen Staat, von seiner Bildungspolitik und den auf ihn verpflichteten Gewerkschaften sang- und klanglos abgewickelt. Ebensowenig konnte sich Farrère vorstellen, wieviele Arbeitskräfte als Selbstständige ausgelagert werden würden beziehungsweise zunehmend von vorneherein sind, Arbeitskräfte, die für das Kapital de facto zum Stücklohn – also jenseits einer geregelten Arbeitszeit – produzieren oder ihm anderweitig dienstbar sind.
Der Aktionismus der Arbeiterklasse, der – wie der Autor zeigt – an und für sich der Blindheit bedarf, wird im fatalen finalen Ansturm auf die Fabrik vorgeführt. Aktivisten handeln aufgrund einer rein moralischen Gesinnung. Wissen erübrigt sich für sie in aller Regel – nach der Devise: Man sieht doch, was Sache ist, und die ist zutiefst ungerecht. Diejenigen³ jedoch, die, wie sie glauben, mit Wissen unterwegs sind, behaupten gerne, daß Klassenbewußtsein und -kampf in Aktionen entwickelt werden können, diese also Voraussetzungen seien, die schließlich in einer grundsätzlichen Umwälzung der Verhältnisse münden sollten und müßten. Aber: So ein angedachter Übergang entbehrt der Logik, entbehrt jeder zwangsläufigen Notwendigkeit! Solch in Aktionismus resultierendes Klassenbewußtsein zeigt nur eines: Es ist ein beschränktes, die Kritik der Ökonomie ist nur eine sehr oberflächliche, obendrein fehlt überhaupt die Kritik der politischen Ökonomie, der Staatskritik. Schließlich ist es ja die Wirtschaft des Staates, der hat sie mit seiner puren Gewalt als private freigesetzt, ent- und beschränkt sie, kontrolliert sie also, er steht ihr ja vor.
Die kapitalistische Ökonomie hat sich für den Staat letzthin als die ihm zweckdienlichste und zuträglichste für die Schaffung nationalen Reichtums erwiesen. Die kapitalistische Wirtschaftsform verdankt sich.gewissermaßen der Ökonomisierung des Staates. Ebenso wie die Staatsform namens Demokratie sich für die Staat zu seiner Rechtfertigung und Legitimation sich als probateste erwiesen hat.⁴
Der Anspruch auf Profit wird aufgrund der im Kapital liegenden Notwendigkeit seiner permanenten Verwertung immer maßloser, entfernt sich immer weiter von seiner ökonomischen Grundlage. Auf diese Weise wird die Welt zugrunde gerichtet, ganz ohne Kriege, die.zu allem Überfluß keineswegs fehlen, ist der globale Kapitalismus doch in Form konkurrierender Nationen organisiert. Die versuchen ihre ökonomische Grundlage durch den Zugriff auf und gegen andere Staaten zu erweitern.

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¹ Claude Farrère (1876-1957) in seinem Roman »Die Todgeweihten« [»Les condamnés à mort«], Drei Masken Verlag, 1922. Farrère war insbesondere an moderner Technik wie an der Psyche der Individuen interessiert.
² Sicher hat sich Farrère wohlwollend darin getäuscht, daß die Kapitalistenklasse gerade nach dem 1. Weltkrieg ein Mitgefühl für die Arbeiterklasse haben könnte oder aber einen blassen Schimmer, worauf ihr Profit beruht. Daß das Kapital auf die Gewalt des Staates zählen kann, war Farrère natürlich umso klarer.
³ Konsequenterweise führte das zu all den Beispielen in Sachen Ökonomie, die in der Sowjetunion und ihren Anhängerstaaten zu dem schnöden Nationalismus – und damit zur Westorientierung – geführt hat, an dem die Nachfolgestaaten bis heute zu ihrem eigenen Ruin leiden; in China zu einer Rekapitalisierung der Gesellschaft im Namen der Arbeiterklasse, des Sozialismus. Der Übergang von einer Teilrepublik der UdSSR zu einem heutigen faschistischen, pardon: demokratischen Staat wie der Ukraine ist nicht weit – deren Nationalismus hatte Chrustschow, zuvor Republikchef, mit der Angliederung der Ukraine gar noch honoriert.
⁴ Die Unklarheiten bezüglich des Klassenbewußtseins haben freilich schon ihren Anfang bei Lenin: »Der Staat ist eine Maschine zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Klasse über eine andere.« [»Über den Staat«, Vorlesung an der Swerdlow-Universität, 11.07.1919] Er definiert den Staat als Mittel der Ausbeuterklasse. Er sieht den Staat nicht als Souverän an, der sich selber seine Zwecke setzt, eben auch und gerade in seiner Ökonomie. Lenin legt den Fehlschluß nahe, daß der Staat befreit werden müsse, aus den Händen der Bourgeoisie und in die des Proletariats überführt werden müsse. Der Staat ist nach Lenin also nicht ein Klassenstaat, ein Staat, der über den Klassen steht, sondern der Staat einer Klasse. Aus diesem Dogma heraus erschließen die Revisionisten, daß mit dem Klassenkampf der Staat von der Besetzung durch eine Klasse in die Besetzung der bisher unterdrückten überzugehen hat. Es handelt sich also um eine brutale Affirmation staatlicher Gewalt!
 

24.10.2025
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