Vietnam Juli '72
Die kommunistische Offensive im April/Mai hat deutlicher als erwartet gezeigt, daß auch die nordvietnamesischen Mittel nicht ausreichen, um diesen grausamen Krieg zu beenden, solange die Amerikaner gewillt sind, ihre absolute Luftüberlegenheit skrupellos auszunützen, um die südvietnamesische Pseudo-Demokratie, sprich das Regime Van Thieu, zu retten. Der Versuch der Kommunisten Südvietnam, selbst unter großen eigenen Verlusten, zu überrennen schlug fehl, darüber können auch die Erfolge zu Beginn nicht hinwegtäuschen. Ihr Eroberungsfeldzug mit dem Ziel, das zentrale Hochland einzunehmen und von da aus das Land zu teilen, scheiterte in der Schlacht um Kontum, einer strategisch äußerst wichtigen Stadt nahe der Grenze nach Laos, die sich jetzt wieder, wenn auch größtenteils zerstört, völlig in der Hand südvietnamesischer Truppen befindet. Auch die Angriffe auf Pleiku und Hue wurden abgeschlagen und weitere Versuche zur Eroberung dieser Städte sind während der gegenwärtigen Monsunzeit, die bis zum Herbst dauert, nicht zu erwarten, da alle Nachschubwege aus Nordvietnam durch die anhaltenden Regenfälle in Schlammpfade verwandelt wurden.
Die zweite Hauptstoßrichtung der "Befreiungskämpfer", nämlich entlang der Nationalstraße 3 auf Saigon zu, wurde mit der gewaltigen, Monate dauernden Materialschlacht von An Loc blockiert. Diese Stadt, mehr von psychologischem als militärischem Wert, wurde zu über 90% zerstört, aber in das 100 km entfernte Saigon ist mit dem Pyrrussieg bei An Loc wieder Ruhe und relative Gefahrlosigkeit eingekehrt.
Die Nordvietnamesen, die bei dieser Offensive gewaltige Verluste erlitten und zunächst am Ende ihrer Kraft sind, haben dazu auch Sorgen um das eigene Land. Die amerikanische Seeblockade seit dem 12. Mai, die mit der Verminung der wichtigsten Seehäfen und Binnenkanäle am 10. Mai eingeleitet wurde, schnitt den Nachschub an Munition, insbesondere für die Raketenstellungen, aus der UdSSR ab. Zum zweiten fliegen amerikanische Langstrecken- und Jagdbomber wieder schwere Angriffe u. a. auf die Dämme des Roten Flusses, auf Kraftwerke (das größte ist bereits zerstört), auf Eisenbahnlinien (besonders nach China) und andere "militärische" Ziele. Auch der Hafen von Haiphong wurde mit Bombenteppichen belegt. Aber die Monsunregen behindern in zunehmender Weise auch die Einsatzmöglichkeiten der Flugzeuge. Von den militärischen Fronten sind also bis frühestens Spätherbst keine Überraschungen mehr zu erwarten.
Bis dahin hat sich, vielleicht, auf der politischen Bühne etwas getan. Der Nixon-Besuch in Peking und der Besuch des sowjetischen Staatsoberhauptes Podgorny in Hanoi haben unter Umständen einem kleinen Schritt in Richtung Frieden den Weg geebnet. Vielleicht kann die nordvietnamesische Regierung von Peking und Moskau zu ernsthaften Friedensverhandlungen bewegt werden, wenn es auch sehr schwer ist, da die Herren in Hanoi sich beinahe unabhängig fühlen und für die Sache des Weltkommunismus bis zum "Endsieg" zu kämpfen bereit sind. Das Regime in Saigon könnte von den USA zur Teilnahme an einer Friedenskonferenz gezwungen werden. Sollte etwas in dieser Richtung zustandekommen, so könnte sich doch in Südostasien in der 2. Jahreshälfte etwas verändern; auch wenn dann nicht viel mehr als ein größerer Funken Hoffnung wahrzunehmen ist, so wäre dies bei der verzwickten Lage schon ein Riesenerfolg. Die endgültige Lösung des Problems kann auf jeden Fall nur eine politische sein, denn wer auch immer Herr im Weißen Haus in Washington ist, ob Nixon oder McGovern, er wird nicht als erster Präsident der Vereinigten Staaten einen Krieg, wenn er auch nie erklärt wurde, mit einer totalen Niederlage und ohne jeglichen Erfolg beenden wollen und können.
Doch ob die politische Lösung dieses gordischen Knotens noch 2, 5 oder 15 Jahre auf sich warten läßt, das kann niemand sagen, auch der nicht, der mit der für uns Europäer so seltsam anmutenden Mentalität der Vietnamesen noch so vertraut ist. Die Chancen für eine Beendigung dieses entsetzlichen Kriegs waren schon geringer.
(cpk)
[aus »Realist«, Schülerzeitung des Peutingergymnasiums (früherer Name: Realgymnasium) Augsburg, Ausgabe Sommer 1972]