koka

Die Türkei unter Erdoğan und seiner AKP
Kapitalisierung für den EU-Beitritt!

Das Grubenunglück von Soma und die nachfolgenden Reaktionen des türkischen Staates auf die Empörung seiner Untertanen hat einmal mehr ein Schlaglicht auf eben diesen Staat geworfen. Ein negatives Schlaglicht, das denen in die Hände spielt, die die Türkei nicht in der EU haben wollen. Dies sind bekanntermaßen die maßgeblichen politischen und publizistischen Kräfte der BRD.

Und so sieht sie denn auch aus, die Betrachtung der Türkei: Alles, was dort geschieht, hat seine Ursache in einer Regierung, die nach Meinung genannter Kräfte »die Zeichen der Zeit« nicht erkannt habe. Also demokratische Defizite an den Tag legt, die es unmöglich machen, sie ernstzunehmen, solange diese Zustände andauern. Und daß sie noch andauern, dagegen hat man deutscherseits im Grunde gar nichts, denn dann bleibt die Frage einer EU-Mitgliedschaft allen Beitrittsverhandlungen zum Hohn in weiter Ferne.

Die wirklichen Leistungen der Türkei rücken dabei in den Hintergrund. Denn ohne die zu betrachten, kommt man auch zu keinem richtigen Urteil über deren Kosten, die selbstverständlich auch in Kleinasien der »kleine Mann« zu tragen hat.

Diese Leistungen sind den Ambitionen des türkischen Staates geschuldet, der im Konzert der Großen, in dessen Staatenbund EU gerne mitspielen möchte. Dafür hat er sich den europäischen Erpressungen zu stellen nicht gescheut, die im Oktober 2005 mit den Beitrittsverhandlungen eröffnet wurden, also schon eine ganze Weile andauern, ohne abgeschlossen zu werden. Und das liegt nicht an den mannigfaltigen Bemühungen der Türkei, den Forderungen der EU nachzukommen. Bemühungen, die die AKP-Regierung schon seit ihrer Machtübernahme 2002 anstrengte, um sich die Verhandlungen überhaupt zu verdienen.

Insbesondere in den für die EU so wichtigen ökonomischen Fragen — die machen fast allein die 33 relevanten Verhandlungskapitel aus — hat die Türkei sich tüchtig ins Zeug gelegt.
So wurden seit 2002* "kontinuierlich gesetzliche Schranken abgebaut, die der Privatisierung öffentlicher Güter im Wege standen. Insbesondere nach dem Verfassungsreferendum von 2010 bekam die AKP-Regierung Instrumente an die Hand, mit denen sie die örtlichen Verwaltungsgerichte handlungsunfähig machen konnte, die zuvor auf Anrufung von Bürgerinitiativen zum größten Teil solche Privatisierungsmaßnahmen stoppen konnten. Mit Dekreten mit Gesetzeskraft verfügte die Regierung die Privatisierung von Wald- und Weideflächen, Flüssen und Bächen sowie größerer Areale in Staatsbesitz, womit zusätzlich die Binnenmigration der ländlichen Bevölkerung verschärft wurde. Dies hatte zur Folge, daß die früheren Binnenmigranten, die seit Jahren am Rande der Großstädte in verarmten Stadtteilen leben und sich über ihre Familienangehörigen in den Dörfern mit Lebensmitteln versorgten, diese Möglichkeit … nach und nach verloren." (Murat Cakır, Der Juni-Aufstand in der Türkei – Aufbegehren gegen die Hegemonie der AKP-Regierung, in: emanzipation – zeitschrift für sozialistische theorie und praxis, Nr. 6, Winter 2013)**

"Die AKP setzte den neoliberalen Umbau und die Marktorientierung stärker durch als ihre Vorgänger und schaffte das, was die bisherigen Regierungen nicht leisten konnten: Während in den Jahren 1985 – 2002 durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen gerade mal 8 Mrd. Dollar eingenommen werden konnten, erzielte die AKP zwischen 2003 und 2010 fast 48 Mrd. Dollar an Einnahmen aus Privatisierungen. So konnte sich die Türkei auf den internationalen Finanzmärkten als aufstrebendes Schwellenland präsentieren." (ebenda) Die Wachstumsschübe des Bruttoinlandsprodukts von 2002 bis 2008 von durchschnittlich 5,9% und von 9,2% im Jahre 2010 und 8,8% 2011 werden so verständlich [nur 2009 ein Ausreißer mit -4,7%, die Weltfinanzkrise erwischte die Türkei durchaus; auf sie wurde mit niederen Zinsen auf Zentralbankkredite und Steuers(ch)enkungen für’s Kapital reagiert].

Zwischen 2002 und 2012, so berichten die Zeitungen nach dem Unglück von Soma, kamen in der Türkei mehr als 1000 Bergarbeiter ums Leben. "2005 wurden die Bergwerke von der AKP-Regierung privatisiert — offensichtlich mit dem Ziel, Kosten zu drücken. Bis dahin kostete eine Tonne [Braun-]Kohle aus Soma rund 190 Dollar. Ein privater Betreiber, Alp Gürkan, bot an, die Tonne künftig für 25 Dollar zu produzieren. Die gesamte in Soma geförderte Kohle wird an den Staat verkauft. Gürkan hat sich laut Gewerkschaftskreisen verpflichtet, 6 Millionen Tonnen im Jahr zu liefern." (taz, 15.05.14)

Mit ihrem radikalen Kapitalisierungsprogramm gewann die AKP nicht nur die Bourgeoisie laizistischer Kreise für sich. Auch die Vorbehalte des Militärs konnten ausgeräumt werden; letzte Widerständler und unliebsame Personen im Militär, welche immer noch nicht vom faszinierenden Erfolg der kapitalistischen Staatsräson der muslimischen AKP überzeugt waren, konnten so verhältnismäßig leicht abgesägt werden. Die zwar nicht mehr ganz neue, so doch nun unschlagbar erfolgreich sich präsentierende Staatsräson war nun unangefochten etabliert.***

Daß es in den letzten beiden Jahren mit dem Boom vorbei sein mußte, macht ein Blick auf die gleichzeitig stetig angewachsene Auslandsverschuldung deutlich. Mit einem Wachstum von nur noch etwa 2% 2012 und etwa 3 % 2013 war die kaum noch zu bedienen.**** Eine wesentliche Ursache für dieses Leistungsbilanzdefizit ist in der Energiefrage zu finden. Die Türkei muß jährlich etwa 60 Mrd. Dollar für Energieimporte ausgeben; der teuerste Spritpreis weltweit muß (so der oben zitierte Cakır) in der Türkei gezahlt werden. Nun kann man den politischen Verantwortungsträgern nicht vorwerfen, dieses Problem übersehen zu haben. Einen Gutteil der Energie versucht der Staat daher mit heimischen Ressourcen abzudecken. Unter diesen spielt zweifellos die Braunkohle die Hauptrolle. Die Staudammprojekte in Südostanatolien gehören zu den nicht weniger ehrgeizigen Energieprojekten. Einer der Dämme, der Ilisu-Staudamm am Tigris, erregt bis heute die Gemüter von Umweltschützern. Im Jahr 2017 soll mit dem Bau eines AKWs bei Sinop am Schwarzen Meer begonnen werden.

So weit, so stinknormaler Kapitalismus.

Ein besonders unsachliches Bonmot in der Betrachtung der Grubenkatastrofe gelang allerdings der taz (16.05.14). Ihre Reporterin Ulrike Winkelmann stellte doch tatsächlich die Frage (an einen deutschen IG BCE-Gewerkschaftsfunktionär), ob das Grubenunglück passiert wäre, wäre die Türkei in der EU! Da stehen die Vorbehalte gegen eine Mitgliedschaft der Türkei auf dem Kopf: Die EU ist doch am allerwenigsten den Bedürfnissen der Arbeitklasse verpflichtet! Daß die EU-Richtlinie 89/391 — welche die Türkei 2012 übernommen hat — »zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit« nichts als heiße Luft ist, gibt doch jeder Arbeiter hierzulande dadurch zu erkennen, daß er sie nicht mal dem Namen nach kennt und zu kennen braucht. Denn was sollte sich auch an den Ausbeutungsbedingungen, unter die er gestellt ist, ändern, wenn er sie denn kennen würde?
Tatsache ist im übrigen, daß die Arbeitsbedingungen gerade hierzulande sich auf türkisches Niveau zubewegen und nicht umgekehrt. Das sieht man an den neueren östlichen EU-Mitgliedsstaaten von Polen bis Bulgarien, die mit ihren Billiglöhnen und radikal deregulierten Arbeitsbedingungen die Meßlatte für ein angestrebtes allgemeines Niveau abgeben. Und es ist ja wohl ebensowenig ein Wunder, wenn die Löhne in der deutschen Ostzone nach 25 Jahren Westzugehörigkeit nicht dem Weststandard entsprechen. Ganz im Gegenteil, die dortigen Billiglöhne üben den durchaus erwünschten Druck auf die Westlöhne aus, diese abzusenken.

Die früher hierzulande unter Tage abgebaute Steinkohle wird übrigens nunmehr importiert — aus Staaten, die froh sein können, wenn ihnen die BRD etwas abkauft, also auch an den Gesundheits- und Lohnkosten ihrer Arbeiterklasse sparen müssen und können, ganz ohne daß die EU dagegen je Einwände erhoben oder gar mit einem Einfuhrstop gedroht hätte. Soviel Einmischung in fremde Angelegenheiten wäre eines Exportweltmeisters ja zutiefst unwürdig. Ein Beispiel:

"… Gerne stellen sich führende Politiker und Konzerne aus Deutschland als Klimaschützer dar, als Vorreiter in der »sauberen« Energieversorgung. Paul Corbit Brown, Naturschützer und Sprecher von Keepers of the Mountains, einer Umweltorganisation aus den USA, widerspricht dieser Darstellung: »Unsere Kohlekonzerne lachen sich kaputt darüber. Ausgerechnet die Kohleexporte nach Deutschland sichern ihr Geschäft, während sie zu Hause wegen des Fracking-Booms immer weniger verkaufen können.«
Er berichtet von den Appalachen, weite, von Wald bedeckte Berglandschaften eines der artenreichsten Gebiete Nordamerikas. Bergflüsse auf einer Länge von 2.000 Meilen wurden verschüttet und 6.500 Quadratkilometer Wald sind für die Kohleförderung vernichtet worden. 500 Bergspitzen sind zerstört, weggesprengt, nur noch gelbe, staubige Löcher, um an die Kohle heranzukommen. Der Abraum aus den gesprengten Bergspitzen wird in die Täler gekippt. Dort verseuchen Schwermetalle und andere Schadstoffe Flüsse und Grundwasser. Der Staub aus den Sprengungen bleibt in der Luft. Beides macht die Menschen krank: Krebserkrankungen, Herzleiden und Fehlbildungen bei Säuglingen nehmen zu; die Lebenserwartung sinkt. »Es ist die schrecklichste Form des Bergbaus, die man sich vorstellen kann«, sagt Corbit Brown. »Die Menschen in den Appalachen zahlen mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben. Die Kohle bringt uns um. Mit einer sauberen Energieversorgung hat das nichts zu tun.«
Die Kohle aus den Appalachen ist vor allem für Deutschland bestimmt. E.on kauft 28 Prozent seiner Kohle in den USA, EnBW rund 24 Prozent, Vattenfall sogar 40 Prozent. …"
(entnommen der MLPD-Website, 2013, Kalenderwoche 17)*****

Kurzum, gesünder als der »kranke Mann vom Bospurus« ist die deutsche Politik samt ihrer Wirtschaft wirklich nicht! Was ein Herr Erdoğan für die Türkei ist, ist eine Frau Merkel für Deutschland: Charaktermasken einer wahnsinnig erfolgreichen Staatsräson, einer kapitalistischen Staatsräson. Allein die Grundlagen erfolgreicher Verwertung, basierend auf den Erfolgen bereits erfolgter Verwertung, unterscheiden die beiden Staaten.

_______________________________________________
* Nov. 2002: Wahlsieg der AKP, absolute Mehrheit im Parlament: Vorausgegangen die Finanzkrise 2000/2001: Unter IWF-Auflagen wurde das »Programm zur Übergang in eine starke Ökonomie« aufgelegt, an das die neue Regierung bruchlos anknüpfte (siehe auch: Ilker Ataç: Politische und ökonomische Krisen in der Türkei, 2013). Schon nach wenigen Jahren galt die Türkei als Musterschüler des IWF.
** Nur jeder 4. Staatsbürger der Türkei erfreut sich eines festen Jobs, davon wiederum nur die Hälfte eines mit Sozialversicherung. Die Massen, die unter der offiziellen Armutsgrenze leben, ist erheblich (mindestens 13 Millionen, siehe: Jürgen Gottschlich: Türkei – ein Land jenseits der Klischees, 2008, S. 48) und steigt.
*** Umso störender dann die Proteste der Jugend und anderer Nichtprofiteure 2013.
**** Nichtsdestotrotz konnten die Schulden beim IWF 2013 restlos beglichen werden. Damit stiegen zwar die internationalen Ratings wieder. Doch jene Schuldentilgung verdankt sich allein anderweitig eingegangener neuer Kreditaufnahme, die Auslandsverschuldung erreicht 2013 mit über 410 Mrd. Dollar erneut einen Rekordwert (nicht einmal ein Drittel ist von eigenen Währungsreserven gedeckt). Schon seit April 2014 drohen die einschlägigen Agenturen wieder mit einer Herabstufung der Türkei auf Ramschniveau.
***** Während die ML-Ideologen die zitierte Passage zur moralischen Verurteilung einer für sie inadäquaten Staatsräson darreichen, dient sie uns lediglich zur Bebilderung der notwendigen Resultate der — von den maßgeblichen politischen Gewalten, den Staaten des »freien Westens«, etablierten — Diktatur des Tauschwerts. Von einer Verheizung der Arbeiterklasse unter einer adäquaten Staatsräson halten wir nämlich genauso wenig.

(08.06.14) 

bluete