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Lew Tolstoj [Leo Tolstoi]

 

Lew Tolstoj (Лев Николаевич Толстой): Wie seinem Werk und im Werk manifestiert sich ja die Person gerecht werden gerade angesichts der überaus zahlreichen Be- und Verurteilungen, die es erfahren hat?

Hervorzuheben ist die Studie von Henri Troyat: Tolstoi Widerspruch eines Lebens (hier vorliegend: Heyne Verlag, 1977; zuvor ECON Verlag 1966). Die Empfehlung auf dem Buchumschlag hierzu lautet: »Kaum ein Leben ist so in sich widersprüchlich, von Verzweiflung und Hoffnung gleichermaßen getragen, wie das des russischen Schriftstellers Leo Tolststoi (1828-1910). Der wortgewaltige Schöpfer von 'Krieg und Frieden', 'Anna Karenina' und unzähligen anderen Romanen hat ein literarisches Werk geschaffen, in dem sich die ständige Suche nach Wahrheit, die Anprangerung aller verlogenen gesellschaftlichen Konvention und dazu eine unglaubliche Vitalität darstellen.«

Die Einleitung, die Eberhard Dieckmann zu dem Buch "Russische Zeitgenossen über Tolstoi" (Aufbau-Verlag, 1990) verfaßt hat, gibt einen so fundierten Überblick, daß sie hier auszugsweise übernommen sei. Die ins Buch aufgenommenen Rezensenten sind: Nikolai Tschernyschewski, Alexej Chomjakow, Apollon Grigorjew, Dmitri Pissarew, Pawel Annenkow, Nikolai Schelgunow, Nikolai Strachow, Nikolai Michailowski, Fjodor Dostojewski, Pjotr Kropotkin, Alexander Block, Wassili Rosanow, Ljubow Axelrod-Orthodox, Nikolai Jordanski, Pjotr Struwe, Georgi Plechanow, Lenin. Mereschkowskij hat er (unter anderen) ausdrücklich ausgeklammert, denn dessen Werk »Tolstoi und Dostojewski« würde den Rahmen sprengen. Und in der Tat ist dieses Buch die wohl beachtenswerteste Beurteilung der Zeitgenossen Tolstois, welches übrigens ebenfalls rund 400 Seiten hat wie eben das der in Dieckmanns Buch versammelten Autoren. Dieses bahnbrechende Werk Mereschkowskijs gliedert sich in zwei Abschnitte: »Tolstoi und Dostojewski« als Menschen sowie »Tolstoi und Dostojewski« als Künstler. 
  
Dieckmann überschreibt seine Einleitung mit »Über Macht und Ohnmacht der Kritik«:

»Alle in dieser Sammlung vorgestellten Texte haben in der russischen Literatur und Kritik längst ihre eigene Geschichte. Das hat zwei wesentliche Gründe: Erstens betreffen sie das Schaffen eines Autors, der bereits zu Lebzeiten zum Klassiker und Autor von weltliterarischem Rang aufgestiegen war, und zweitens gaben diese Verfasser ihre Urteile über Literatur zwar am Beispiel Tolstois ab, in ihren Absichten jedoch zielten sie weit über das einzelne Beispiel hinaus; ihre Positionen stehen stellvertretend für die ganze Breite und Fülle von Kritik, von der die klassische russische Literatur in der zweiten Hälfte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts begleitet war.

Das Lesen dieser Texte bestätigt eine geläufige Erfahrung: Großer zeitlicher Abstand und die Gewöhnung an Überlieferung lassen Stereotype entstehen, deren einebnende Wirkung beträchtlich ist. Erneute Lektüre durchbricht diese Stereotype. Die Kritiken Tschernyschewskis oder Pissarews zeigen, daß die revolutionären Demokraten keineswegs vordergründig als Gesellschaftstheoretiker am Werk waren, wenn sie Literaturkritik betrieben, sondern der Literatur kunstspezifische Merkmale abgewannen, mit denen sie sich nicht nur auf der Höhe der Kunstkritik ihrer Zeit befanden, sondern dieser auch vorausgingen. Der zumeist nur als konservativ apostrofierte Chomjakow, einer der Hauptvertreter der Slawofilen, tritt uns als ein Mann entgegen, der die „entlarvende“, gesellschaftskritische Funktion von Literatur verteidigt! Und dennoch ist nichts auf den Kopf gestellt mit diesen Beobachtungen, sondern vor allem etwas, allerdings Wesentliches, zurechtgerückt: Im Streit der Meinungen, Lager, Parteien erst wird das Bild der Epoche erkennbar, die „pure“ Position ist häufig erst das Fazit derer, die nicht am Streit beteiligt waren; sie kann Gewinn bringen — in bezug auf Klärung und Perspektive —, sie kann aber auch Verlust bedeuten. Die Lektüre solcher Texte wie der hier vorgelegten mag hilfreich sein, zu entscheiden, was von beidem in welchem Maße der Fall ist.

Die Qual der Wahl bei der Zusammenstellung der Texte war unvermeidlich. Es verstand sich von selbst, daß der Streit um die großen Romane Tolstois (um „Krieg und Frieden“ und um „Anna Karenina“) ein Zentrum bilden mußte, ebenfalls das Spätwerk bzw. die Zeit um und nach der Jahrhundertwende; hier setzte sich eine Diskussion um Fragen durch, die bis heute aktuell geblieben ist. Dennoch war ein gewisser Raum auch dem Frühwerk zu widmen — die Kritiken und die Kritiker rechtfertigen das. Von den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an entstanden Bücher über Tolstois Werk, zuweilen sogar sehr umfangreiche. Auch auf sie wurde verzichtet, sosehr sie — wie im Falle Leontjews, Schestows oder Mereschkowskis — das Bild der Tolstoi-Kritik abgerundet hätten; Ausschnitte von zwanzig oder dreißig Seiten würden ihnen nicht gerecht. So ist hier nur auf alte Übersetzungen ins Deutsche zu verweisen.

Dennoch kann die Textauswahl beanspruchen, den Gang der Kritik durch sechs Jahrzehnte wiederzugeben, von der Anerkennung für den Debütanten bis zum zur Instanz gewordenen lebenden Klassiker. Die Texte zeigen es: Dieser Weg war keineswegs glatt, die Anerkennung nicht unbestritten, Freund und Feind hatten ihre Not mit diesem Werk, haben sie noch immer. Als Tolstoi mit seinen ersten Kaukasuserzählungen, mit den einzelnen Teilen seiner Trilogie „Kindheit, Knabenalter, Jugendzeit“ und mit den Sewastopoler Krimkriegserzählungen debütierte, war zweierlei — aus heutiger Sicht — klar und auffällig zugleich: Hier trat ein Autor auf den Plan, der eine große Zukunft in der Literatur hatte (das räumten nicht nur die zeitgenössischen Kritiker, sondern auch die Zunftgenossen — Turgenjew, Nekrassow und viele andere — sofort ein), aber hier war auch ein Autor am Werke, der sich nur schwer in die Parteien einfügen wollte, die das Feld beherrschten. Er schrieb kritische, „entlarvende“ Literatur, ohne ein Parteigänger der revolutionären Demokraten zu sein (in deren Zeitschrift „Sowremennik“, bei deren Redakteuren Nekrassow und Tschernyschewski er sogar zuerst gedruckt wurde); er war befreundet mit den Anhängern der Theorie der „reinen Kunst“ (Druschinin und Botkin), aber er ließ sich nicht auf ihre Ansichten reduzieren oder festlegen; er stand vielen Slawofilen der älteren und mittleren Generation nahe, aber er mißtraute ihrem programmatischen Auftreten und Gehabe (nicht ihren Hauptanliegen). Alle Lager miteinander widersprachen seinen eigenen sozialen Erfahrungen, die von Anfang an jene des Umgangs mit der Bauernschaft waren. Sein Werk schien immerhin allen in Aussicht zu stellen, ihr Mann zu sein, und so blieb er in den fünfziger Jahren ein umworbener Debütant. Und viele damals von der Kritik getroffene Beobachtungen zu seinem Frühwerk erwiesen sich als Merkmale von Bestand. Tolstois herausragende Begabung für die psychologische Analyse, seine besondere Begabung, psychische Vorgänge in ihrer Entstehung und Entwicklung zu gestalten, sein Vermögen, der Eigengesetzlichkeit des Kunstwerkes zu folgen, und die Tatsache, daß er, wie Tschernyschewski es ausdrückte, „in einer Bauernhütte ebenso zu Hause war wie im Feldzelt eines Kaukasussoldaten“, sind Merkmale seiner Kunst, die das gesamte Werk betreffen.

Dem beeindruckenden Beginn folgte Stille. Nicht in der dichterischen Produktion Tolstois, denn mit Erzählungen wie „Luzern“, „Drei Tode“, „Familienglück“, „Kosaken“ oder „Polikuschka“ entstanden weitere Werke, die wir heute als wichtige Arbeiten verstehen. Neben den aufsehenerregenden Romanen Turgenjews oder Gontscharows am Ende der fünfziger oder zu Beginn der sechziger Jahre jedoch („Adelsnest“, „Väter und Söhne“ oder „Oblomow“) nahmen sie sich bescheiden aus. Und wenn sie bemerkt wurden, dann mit Enttäuschung — Tolstoi schien sich nicht nur den Parteien entzogen zu haben, er schien ohne Orientierung zwischen den Stühlen zu sitzen und im Abseits der Illusion („Luzern“), privater Idylle („Familienglück“) oder rückwärtsgewandter Utopie („Kosaken“) gar zu verkommen.

So konnte Apollon Grigorjew (1822-1864) seine beiden Tolstoi-Aufsätze zu Recht mit dem Titel „Von unserer Kritik übersehene Erscheinungen der Gegenwartsliteratur“ überschreiben, als er sich an eine Bilanz von Tolstois bisherigem Werk machte. Der Zeitpunkt war denkbar günstig, es lagen inzwischen, seit Mitte der fünfziger Jahre, weitere Werke vor (kurz danach, 1864, erschien auch die erste kleine Werkausgabe Tolstois). Aber auch die Person des Kritikers war ein besonderer Fall der Kritik. Zwar war Grigorjew seit den vierziger Jahren als Literat aktiv, aber seine eigene Position hatte er erst zu dieser Zeit völlig ausgebildet. Die von ihm vertretene „organische Kritik” ist kaum als ein geschlossenes System oder eine geschlossene Theorie zu verstehen, sondern sie ist aus der Antithese entstanden, ist eher die Kritik aller anderen, unzulänglichen Kritik. Sie ist insofern bemerkenswert geblieben (und hat in Strachow ihren Bewunderer und Fortsetzer gefunden), als sie vor allem von dem Anliegen ausgeht, dem Kunstwerk innerhalb seiner Möglichkeiten, Grenzen und Perspektiven gerecht zu werden, es gleichermaßen in literarische wie außerliterarische Verhältnisse zu stellen und so nach seinem Wert zu fragen. Der Vorwurf Grigorjews an die bisherige Kritik war, sich einseitig entweder mit sozialen Fragen oder mit Kunstideen oder mit allgemeiner Gesellschaftsprogrammatik beschäftigt zu haben. Der erste (hier fehlende) Aufsatz über Tolstoi legt diese Ausgangspunkte klar (sie sind im zweiten nur verkürzt dargestellt, aber deutlich genug). Aus heutiger Sicht ist das Verdienst Grigorjews gut erkennbar: Er war imstande, den Weg Tolstois bis zu diesem Zeitpunkt hin als ein Ganzes zu erkennen, er verstand auch als erster, daß hier ein Werk im Entstehen war, das wie das Puschkinsche bisherige Grenzen und Beschränkungen, in denen andere Autoren noch verharrten, überschreiten sollte. Seine Vergleiche Tolstois mit Pissemski, Turgenjew, Ostrowski oder Gontscharow sind literarhistorische Profetie.

Die Literaturgeschichtsschreibung geht seit langem davon aus, daß das gesamte Frühwerk Tolstois Vorbereitung auf seinen größten Roman war, auf „Krieg und Frieden“. Mit dem Streit um diesen Roman in der russischen Kritik, hier vertreten durch die Aufsätze Annenkows, Schelgunows und Strachows, beginnt der Streit um Tolstois Werk in jenen Dimensionen, die bis zum Abschluß dieses Werkes und darüber hinaus charakteristisch bleiben. Es wird vor allem die Polemik um den Künstler und Denker Tolstoi, die von hier an einsetzt (und nicht nur das Tolstoische Schaffen betraf). Die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren durch die umfangreichen Reformen, vor allem die Aufhebung der Leibeigenschaft, ein folgenreiches Jahrzehnt der gesellschaftspolitischen Entwicklung Rußlands, das auch seine Schriftsteller inmitten dieser Vorgänge sah. Die Rolle des Volkes in der Geschichte und die Rolle des Individuums, das Verhältnis von gesellschaftlicher Praxis bzw. Realität zu den gesellschaftlichen Theorien und Utopien, das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, die Auseinandersetzung zwischen Fortschrittsgläubigkeit und Verwerfen des Fortschritts (als Kritik westeuropäischer Entwicklung) standen im Zentrum der Auseinandersetzungen, denen sich keiner der großen Autoren der klassischen russischen Literatur entzog, mit welchen Antworten er immer auf diese Fragen einging. Die Antworten lagen, wie wir wissen, in diesem Zeitraum der sechziger und siebziger Jahre zwischen Hoffnung und Resignation.

Über „Krieg und Frieden“ meldeten sich ernsthafte Kritiker zu Dutzenden zu Wort (insgesamt verzeichnet die Bibliografie annähernd 400 Kritiken allein in den Jahren 1868-1870). Zeitgeschichtler und Militärhistoriker zumeist mit dem Protest der eigenen Erinnerung: So sei es (so sei der Vaterländische Krieg von 1812/13) nicht gewesen. Tolstoi wurde einer Beobachterrolle bezichtigt, die Nihilismus in die Geschichte trage. Andere glaubten in der „Verunglimpfung“ vaterländischer Geschichte, wieder andere in deren Apologie die Gründe für das Mißlingen des Romans zu erkennen. Allerdings hatte sich die Kritik mit einem beachtlichen Leseerfolg des Romans auseinanderzusetzen, der dem profezeiten oder festgestellten Mißlingen widersprach. Die drei Aufsätze der vorliegenden Sammlung gehören zu den ernsthaftesten Versuchen der Kritik unmittelbar bei Erscheinen des Romans.

Pawel Annenkows (1812-1887) in der Sekundärliteratur lange nachwirkende Untersuchung gewinnt ihre Anziehungskraft aus einem weit über Tolstoi hinausreichenden poetologischen Zugriff auf die Grundfragen des Verhältnisses von Geschichte und Literatur bzw. von Realität und Fiktion. Dabei sind es weniger die Schlußfolgerungen Annenkows, die solche Nachwirkung sichern, sondern vielmehr die Fragestellungen. Die Überlegung, ob der Roman als Genre nicht in Gefahr gerät, seine ästhetische Spezifik und damit Wirkung aufzugeben, wenn er die Gesetze der Proportionalität, der Perspektive so handhabt, wie das Tolstoi tat, ist noch in unserem Jahrhundert aktuell. Figurenentwicklung oder nicht, Raum für Leserurteile oder nicht, die Entstehung eines neuen Kanons durch die Vielzahl der Szenen (und dem System ihres Wechsels) sind, ob von Annenkow angefochten oder positiv vermerkt, zentrale Probleme der Romanästhetik geblieben. Noch mehr gilt das von Annenkows Hauptthema, dem Verhältnis von Geschichte und Fiktion oder, wie bei ihm behandelt, dem Verhältnis von großer und kleiner Geschichte. Da zugunsten „kleiner Geschichte“ agiert werde, verliere manches an Dimension, meint Annenkow, und er kreidet Tolstoi als Sünde an, daß er bedenkenlos die Einsichten von heute benutze, um die Entscheidungen von damals zu beurteilen. Darf das der historische Roman, ja ist „Krieg und Frieden“ in diesem Sinne überhaupt ein historischer Roman?

Ablehnung in fast allen Punkten enthält die Kritik Nikolai Schelgunows (1824-1891). Dennoch ist diese Kritik nichts weniger als einer der häufigen Unglücksfälle, über den man hinweggehen könnte, wie die Zeit darüber hinweggegangen ist (immer vorausgesetzt, daß der Roman „Krieg und Frieden“ einer Verteidigung seiner Bedeutung für die Weltliteratur nicht bedarf). Auch wer sich damit begnügt, festzustellen, Schelgunow habe hier in unzulässiger Weise ausschließlich Ideologie- und nicht Kunstkritik betrieben — daher seine „Fehlurteile“ aus heutiger Sicht —, sagt noch wenig. Es gilt vielmehr die Kontexte der Zeit zu verstehen, um die Nöte des Kritikers zu respektieren. Schelgunows Aufsatz, sein Katalog von negativen Zuordnungen (Fatalismus, Stagnation, Urzustandsutopien oder illusionäre Ganzheitsvorstellungen über die menschliche Natur) war der Versuch, die Weltanschauung des Autors zu beschreiben. Diese verstand er als Gegenposition zu den sich mühsam durchsetzenden Reformen der sechziger Jahre, er sah Tolstoi gefangen in der Filosofie Schopenhauers, in slawofilen Utopien. Für Schelgunow lautete die weltanschauliche Alternative des Romans: Tolstoi oder der Positivist Comte! Die Kraft des künstlerischen Talents stimmte ihn allenfalls mißtrauischer, da sie um so mehr Schaden anzurichten imstande sei. Demokratische Züge, die der Kritiker im Roman ausmachte, fand er einschneidend beschränkt; Schelgunows wichtigstes negatives Beispiel war die umstrittene Gestalt des Karatajew, der nur als Träger einer Filosofie der Demut oder Stagnation ausgemacht wird. Dies ist, wie wir wissen, überhaupt ein Hauptpunkt der Kritik an Tolstoi und eine Argumentation für die Tolstoi-Kritik auch nach Schelgunow. Sie nimmt nicht Kenntnis von einer anderen Möglichkeit der Bewertung — der „historischen Geduld“ und der Tatsache, daß diese Gestalt ein tragisches Schicksal erleidet. Aus diesem Anti-Tolstoi-Traktat stammen auch die Worte: „Am Grafen Tolstoi sehen wir zum tausendsten Male das Beispiel dafür, wie russische Talente zu Ende gehen.“

Mit Schelgunows Ablehnung war aber in der linken Kritik der vorherrschende Ton der Bewertung angegeben. Pissarew hatte zwar zuvor einen positiven Zugang versucht, aber seine Rezension betraf nur die ersten, d. h. die bis zu seinem Tode erschienenen Bände. Von Berwi-Flerowski, einem der aktivsten Publizisten des radikal-demokratischen Lagers, erfolgte ebenfalls eine soziologisch begründete heftige Ablehnung des Romans.

Von den Zeitgenossen blieb es Nikolai Strachow (1828-1896) überlassen, Ruhe und den nötigen Überblick in die hitzige Diskussion zu bringen. Seine drei, zwischen 1868 und 1870 entstandenen Aufsätze zu „Krieg und Frieden“ gehören zu den großen Leistungen russischer Literaturkritik im 19. Jahrhundert. In der Nachfolge des Grigorjewschen Literaturverständnisses waren Strachow bereits zu dem Werk Puschkins und dem Turgenjews Kritiken gelungen, die durch ausgeglichene, werkgerechte Urteile Aufsehen erregten. Strachow ging auf Distanz zu den aktuellen Debatten, nicht weil er sie scheute oder geringschätzte, sondern weil er einen anderen Nenner fand. Er war bemüht, das Kunstwerk selbst wie die Debatten um dasselbe als Ausdruck der Zeit und der tatsächlichen Verhältnisse anzuerkennen; er war andererseits aber auch imstande, zeitlich bedingte Begrenztheit gegenüber dem zu bewertenden Kunstwerk auszumachen. Seine Grundposition erklärte Strachow mit dem Hinweis, daß er nicht auf Streit mit dem Autor ausgewesen sei, die von diesem behandelten Dinge nicht von seiner eigenen Warte aus bewertet habe. Der hier ausgewählte erste Aufsatz zu „Krieg und Frieden“ demonstriert das methodische Prinzip Strachows: Der Roman wird zu den nationalen und europäischen Leistungen des Romans ins Verhältnis gesetzt, er wird auf seine Beziehung zu den dominierenden geschichtlichen und ideologischen Problemen befragt (Fortschritt, Bildung, Nationales, Fremdes), und schließlich wird analysierend beschrieben — nachdem das lesende Publikum seine Charakterisierung erhalten hat —, wie sich Geschichtliches und Romanhaftes konkret zueinander verhalten, worin die Autorposition besteht und wie sie auszumachen ist, wieso der Roman ein realistisches Werk ist und welcher Art dieser Realismus im Unterschied zu dem anderer Autoren ist und schließlich welche Idee dem Werke zugrunde liegt. Der Gewinn dieser Verfahrensweise ist augenscheinlich: Strachow verfährt, indem er Idee, Wirklichkeitsverhältnis usw. befragt, nicht anders als Schelgunow, aber er bezieht seine Fragen auf den Roman; er verfährt in seinen poetologischen Kriterien wie Annenkow, holt aber auch die dringlichen Fragen der Zeit in seine Urteile hinein.

Im zweiten Aufsatz erkundet Strachow vor allem, wie sich Tolstoi auf diesen Roman durch sein bisheriges Werk vorbereitete und was parallel dazu in der zeitgenössischen Literatur vor sich ging. Der dritte Aufsatz zieht Schlußfolgerungen vor allem in Hinsicht auf die Bedeutung des Romans für die russische Literatur und für die Literatur Europas. Ein profetischer Satz aus diesem letzten Aufsatz lautet: „ ,Krieg und Frieden‘ wird bald ein Handbuch jedes gebildeten Russen, klassische Lektüre für unsere Kinder und ein Gegenstand des Nachdenkens und des Lernens für junge Leute werden.“

Das Exempel des Kritikers Strachow veranlaßt zu einem Exkurs. Seine Positionen schienen im Grunde kaum geeignet, das zu leisten, was seine Tolstoi-Aufsätze schließlich dennoch erbrachten. In den bekannten Ost-West-Debatten seiner Jahrzehnte war Strachow erklärter Anhänger und Wortführer antirevolutionärer, konservativer Tendenzen, in seiner Ideologie ein Vertreter des „Potschwennitschestwo“, d. h. jener Anschauungen, die Rußlands Entwicklung zuerst und vor allem auf die eigenen Bedingungen eingrenzen wollten. Weltanschaulich ein Rechtshegelianer, wurde er mit Anleihen aus Schellings Naturfilosofie einer der bekanntesten Gegner des immer mehr aufkommenden Materialismus. Woher also seine Tolstoi-Kritik? Die Erklärung liefert der Zeitpunkt. Im Vakuum der Diskussionen gelang ein literaturkritischer Höhenflug. Distanz und Ausgewogenheit leisteten mehr als radikale Konfrontation. Die Gunst der Stunde, den Siegeszug dieses Romans durch die Literatur Europas vorausgesagt, Tolstoi als einen neuen Jahrhundertautor verstanden zu haben, dauerte nicht an. Tolstois Werk war, das deutet sich in diesen Kritiken bereits an, nicht in Anspruch zu nehmen für Strachows allgemeine Positionen. In den achtziger Jahren folgte eine deutliche Abkühlung des guten Verhältnisses, das zwischen Tolstoi und seinem Kritiker lange auch als persönliche Freundschaftsbeziehung bestand. Tolstoi war weiter, für Strachow zu weit gegangen.

Zu den herausragenden Merkmalen des Tolstoischen Schaffens gehört eine Besonderheit, die ihn von anderen russischen Klassikern unterscheidet: schroffe, scheinbar jähe Zäsuren in seinem Werk, die Umbruch, Wechsel und Wende, aber auch Neubeginn bedeuteten, Zäsuren, auf die auch die Kritik immer wieder mit Staunen oder Unverständnis reagierte. Das war nach den ersten literarischen Erfolgen des jungen Tolstoi der Fall gewesen, als seine Westeuropareisen und die ersten Schulgründungen von Jasnaja Poljana neue soziale Erfahrungen über die literarische Produktion gestellt hatten, das war kurz vor und nach „Krieg und Frieden“ der Fall, als Tolstoi erneut mit seiner pädagogischen Zeitschrift, mit einem neuen Schulsystem und mit radikaler pädagogischer Publizistik („Der Fortschritt und die Definition der Bildzeitung“, 1863; „Über die Volksbildung“, 1874) in die heftigen Debatten seiner Zeit eingriff, in denen Fragen der Volksbildung gewissermaßen das legale Hauptkampffeld zwischen Fortschritt und Konservatismus bildeten. In Tolstois erstem Zeitroman, „Anna Karenina“, der zwischen 1875 und 1878 erschien, war eine der beiden Handlungslinien solchen brennenden Fragen der Gegenwart gewidmet. Kein Wunder, daß die dominierenden Gesellschaftstheoretiker dieser Jahre, die Volkstümler, auch die wichtigsten Kritiker dieses Romans wurden, allen voran Nikolai Michailowski (1842-1904).

Der führende Theoretiker der Volkstümlerideologie interessierte sich nicht in erster Linie für den Literaten Tolstoi. Während seiner Arbeit an dem gesellschafts- und bildungspolitischen Zyklus „Aufzeichnungen eines Profanen“, der in Fortsetzungen erschien und aktuellen Dingen auf der Spur war, stieß Michailowski bereits 1875 auf Tolstois Roman. Hier wurde Diskussion geführt zu Fragen, die auch den Soziologen Michailowski beschäftigten. In drei Folgen, von denen dieser Band zwei enthält (mit unwesentlichen, einige Abschweifungen betreffenden Kürzungen), entstand ein Tolstoi-Traktat, dessen Kritikschema für die linke Kritik bis zu Lenin (aber auch noch über diesen hinaus) eine Art Muster abgeben sollte und einleuchtend schien: Die Rechte Tolstois wisse zuweilen nicht, was die Linke tue. Ohne diese Hypothese bleibe Tolstoi, wie Michailowski in diesen Aufsätzen erklärte, ein unlösbares Rätsel. Dieses zu lösen war sein ehrgeiziger Anspruch, und es ist festzustellen, daß trotz der lastenden Macht seines Verdikts (dem Schema „einerseits/andererseits“) Michailowskis Traktat eine außergewöhnliche Leistung von Zeitkritik darstellt. Der Volkstümler verstand, daß Tolstois pädagogische, gesellschaftstheoretische Ansichten und seine praktische Kunstausübung zusammengehörten, ja einander bedingten. Tolstois bildungspolitisch extreme Haltung mißdeutete er nicht als allgemeine Bildungsfeindlichkeit, sondern begriff sie als eine Kritik an Auffassungen, die nicht mit den Bildungsbedürfnissen der zu Bildenden — vor allem der Bauernmassen — rechneten. Michailowski verhielt sich ironisch zu den bornierten Anwürfen, Tolstoi sei nichts weiter als einer der vielen Profeten von Fatalismus oder Slawofilentum in einer sauertöpfisch-patriotischen Variante. Ihm ging es darum, die Haltung Tolstois, seine Standpunkte hinsichtlich der von ihm beschriebenen Verhältnisse auszumachen. In diesem Bemühen um Standpunkte erkannte Michailowski den — Sozialisten Tolstoi! Hier fand der Volkstümler seinen Autor bisher unentdeckt. (Immer wieder dieser Anspruch der Kritik, nun den wahren Tolstoi zu entdecken!) Eine andere Frage war es für Michailowski, ob es dem Verfasser von „Anna Karenina“ gelungen sei, den eigenen Anspruch zu verwirklichen. Hier machte er seine Abstriche, bediente sich des Schemas von der Rechten und der Linken Tolstois. Das Kriterium der „Narodnost“ (der Volkstümlichkeit bzw. Volksverbundenheit) war das Moment, das ihn — zu seinem eigenen Bedauern — von Tolstoi wieder abrücken ließ. Der Autor habe sich nicht entschieden: Einem richtig gesetzten Ideal in seinen literarischen Helden (in den „Kosaken“, im „Morgen eines Gutsbesitzers“) stünden die Hoffnungen auf Leute aus der höheren Gesellschaft gegenüber („Anna Karenina“); es zeige sich jener unversöhnliche Widerspruch: daß die Linke nicht wisse, was die Rechte tue. Michailowskis Arbeiten zu Tolstoi — er schrieb auch später zahlreiche Kritiken zu dessen Werk — stellen gesammelt einen stattlichen Band dar; zu einer so weitreichenden, zupackenden Beurteilung wie dieser gelangte er jedoch nie wieder.

Die vorliegende Sammlung mußte bei ihrer Eingrenzung von vornherein auf einen wichtigen Teil von Urteilen über Tolstois Werk verzichten — auf die der Zunftgenossen. Sie sind in der Regel verstreut, zumeist auch weniger Kritik als Reaktion von Betroffenen, mit den gleichen Fragen Beschäftigten und gehören eher zum Umkreis der Wirkungen des Tolstoischen Werkes als dem seiner Rezeption, der hier zu dokumentieren war. Exkurse ins Werk der sich Äußernden wären vonnöten, also ein anderes Buch. Mit Fjodor Dostojewskis (1821-1881) Ausschnitten aus dem „Tagebuch eines Schriftstellers“ soll eine Ausnahme gemacht werden. Dostojewski schrieb als Publizist seiner eigenen Zeitschrift eine Zeitchronik, in der Literatur eigentlich nicht vorkam. Als aber Tolstois Roman erschien, sah er hier „Nöte des Tages“ zur Verhandlung gestellt, die weit über Literarisches hinausgriffen und mit denen er selbst, auf ähnliche und auf unähnliche Weise, ebenfalls beschäftigt war. So griff Dostojewski alle großen „Losungsworte“ des Romans auf — die Nöte des Tages, die drastischen historischen Wandlungen der letzten beiden ,Jahrzehnte in Rußland, den Protest Tolstois gegen die selbstzufriedene Rechtfertigung, das Sichabfinden mit dem Lauf der Dinge (in den Debatten der Historiker), die Furcht vor dem Siegeszug der Bourgeoisie, die Furcht vor den „Heißspornen“ der Revolution. Dostojewski war, in seinen „Dämonen“, gerade selber damit auf seine Weise fertig geworden. Er sah und wollte es so sehen, daß Tolstoi mit diesem Roman sein Bundesgenosse geworden war. Er mußte allerdings bald feststellen, daß die Wege wieder auseinandergingen: Am Beispiel der Annäherung an das Volk erkannte er in Tolstois Bemühen, seine Helden „einfach zu machen“, das ungeeignete Mittel, sich mit den einfachen Schichten zu vereinen; die Beurteilung von Rußlands Beteiligung am ausbrechenden Krieg gegen die Türkei trennte ihn wieder endgültig von Tolstoi. Das vorrangig ideologiekritische Interesse Dostojewskis kompensieren einige kunstkritische Passagen, deren Schlußfolgerungen weitreichend sind. Niemand hat wie Dostojewski die Bedeutung solcher Schlüsselszenen zu deuten vermocht wie jene der Begegnung dreier Haupthelden während der Krankheit Annas oder die Rolle der Gespräche zwischen Lewin und Striwa Oblonski während der gemeinsamen Jagd. Aus diesen Aufsätzen Dostojewskis stammt auch die Voraussage, daß Rußland der europäischen Literatur hiermit einen jener Romane gebracht habe, mit denen die russische Literatur endgültig ihren Siegeszug durch Westeuropa antreten werde.

Die Diskussion um „Anna Karenina“, hier nur im Ausschnitt dokumentiert, führte die gesamte Polemik um Tolstoi auf neue Höhepunkte zu: Die radikale Volkstümlerkritik lehnte den Roman als „Kunst des Salons“ ab (so der Titel eines Pamflets von Tkatschow), der damals noch liberale Suworin protestierte im Namen des verunglimpften bürgerlichen Fortschritts, der konservative Redakteur Katkow, graue Eminenz in der literarischen Szene, verweigerte in der eigenen Zeitschrift, in der „Anna Karenina“ in Fortsetzung erschien, den Abdruck des letzten Teiles. Anhänger Tolstois wollten sich nicht mit dem offenen Ende befreunden und verlangten die Fortsetzung: So schrieb Gromeka statt einer Kritik einen neuen Teil des Romans. Auf solche Weise war der Roman bald über sich selber, über Literatur hinausgewachsen, wie Dostojewski das bereits bei seinem Erscheinen vorausgesagt hatte.

Mit Beginn der achtziger Jahre trieben die gesellschaftlichen Verhältnisse Rußlands auf dramatische Kollisionen zu. Die politische und revolutionäre Krisensituation nach 1881 erzeugte radikale Wandlungen auch in Kunst und Literatur. Tolstois Werk geriet mehr denn je in den Streit aller Lager, war selber Teil der Auseinandersetzungen, die auf die Revolution von 1905 zusteuerten, und blieb auch danach im Zentrum der Polemik, bei der es in der Literatur um Grundfragen ging: Klassik oder Erneuerung, Tradition und Erbe, Bruch oder Kontinuität.

Vom Ende der siebziger und von dem Beginn der achtziger Jahre an war Tolstoi für drei Jahrzehnte als Person und mit seinem Werk an diesen Vorgängen beteiligt, leidenschaftlich handelndes Subjekt und neben sich selbst stehendes Objekt zugleich. Er geriet in die bisher heftigste „Aussteigersituation“ seiner Entwicklung, in den Streit mit allen bisherigen Gewohnheiten und Traditionen der Literatur und des Literaten. Dieser „Umbruch“ der Wertvorstellungen geschah keineswegs aus dem Nichts, wie die aufmerksame Betrachtung seines Weges zeigt, aber er vollzog sich mit radikaler Konsequenz. Tolstoi setzt neue äußere Zeichen, das Verhältnis zum Eigentum, die persönliche Existenz und Lebensweise betreffend. Filosofisches, religiöses und soziales Traktat, Kunstwerk und Kunstkritik werden nebeneinander produziert, eines entspringt dem anderen. Zeitgeschichte und neue soziale Erfahrungen beschleunigen diesen Prozeß. Zwischen der Welt, die er aufsucht (Moskau), und der Welt, die zu ihm kommt (nach Jasnaja Poljana), häufen und sammeln sich Begegnungen, Ereignisse und Dinge, auf die Tolstoi reagiert, so wir man zunehmend auf ihn reagiert. In den neunziger Jahren ist er der einzige große Autor der klassischen Periode der fünfziger Jahre, der noch immer am Werk ist. Längst sind alle jene abgetreten, die seine unmittelbaren, nur wenig älteren Zeitgenossen waren (Turgenjew, Nekrassow, Ostrowski); auch Dostojewski und Gontscharow, Leskow und Saltykow-Schtschedrin sind tot, mancher von ihnen hat zuletzt kaum noch geschrieben. Klassik und Tradition werden in ihrer Aktualität vor allem an ihm, dem einzigen Lebenden, verhandelt, er produziert, sorgt selber dafür, daß er nicht vergessen werden kann. Und nichts ist „alt“ von dem, was er schreibt. „Auferstehung“ ist ein Roman aus einer neuen Welt. Die Erzählungen des Jahrhundertbeginns sind neue Kunst in neuer Erzählweise über neue Helden. Er ist also kein „Aussteiger“, sondern geht in dramatischen Kollisionen neu auf seine alten großen Themen und Gegenstände zu.

Damit entsteht eine besondere Lage für die Rezeption des „Tolstoischen Werkes (vielleicht nur der Goethes vergleichbar, dessen Werk Zeitgenossen von Wieland bis zu Heine beurteilten). Die Kritik hält sich einerseits an ein Werk, das unmittelbar in den literaturgesellschaftlichen Zeitverhältnissen wirkt, sie greift aber ebenso zurück auf einen „anderen“ Tolstoi. Der „Umbruch“ begünstigt die Betonung der Zäsuren. Einige Kritiker versuchen beizeiten, das als ein Ganzes zu erfassen, vor allem durch die Untersuchung und den Vergleich der großen Romane (Leontjew), durch die Betrachtung der Rolle Tolstois in der russischen Literatur im Unterschied zum Werk Dostojewskis (Mereschkowski) oder durch den weltanschaulichen Disput im Vergleich zwischen Tolstoi und Nietzsche (Schestow). Die Rezeptionsebenen für das Werk Tolstois sind nun, nach fünfzig Jahren Kritik, diachronischer wie synchronischer Art. Die Positionen dieser Ebenen wirken aufeinander und gegeneinander. Es geschieht, daß die Kritiker wechseln, nicht die Positionen. Die in Tolstois Werk angelegten Vorgaben erhalten unter dem Einfluß sich ständig polarisierender Lager der Kritik und der Teilnahme des Rezipienten an der Polemik neue Dimensionen, die wiederum nicht allein dem Werk zu danken sind. Bestimmte Aspekte der Betrachtung gewinnen Vorrang: so die Frage nach dem Denker und/oder dem Künstler Tolstoi, aber auch die Beziehung von national- und weltliterarischem Prozeß. Der Streit um Tolstois Werk verläuft zwischen den Extremen totaler Beschlagnahme und totaler Ablehnung. Sein Werk „wächst“, nicht weil man sich seiner Ambivalenz bedienen könnte, sondern weil auch die Welt der Rezipierenden in ihren Ansprüchen, Möglichkeiten, Einsichten gewachsen ist und weiter wächst.

So bringen auch die Jahrhundertwende und das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, an dessen Ende Tolstoi stirbt, neue Höhepunkte der Rezeption. Äußerlich sind sie an die Ereignisse vor und nach der Revolution von 1905 gebunden, speziell an deren geistige Bewältigung und Nichtbewältigung, an zwei Jubiläen — die Geburtstage Tolstois 1903 und 1908 — und schließlich an die Flucht aus Jasnaja Poljana, an seinen Tod. Die Exkommunizierung Tolstois durch den Heiligen Synod hatte den Streit der Kleriker und Religionskritiker aufleben lassen und heftiger gemacht, das Panorama der sich öffentlich und nicht öffentlich Beteiligenden reicht von Solowjow (seinen bekannten „Drei Gesprächen“) über Fjodorow und den Vorsitzenden des Heiligen Synod, Pobedonoszew, bis zu Joann von Kronstadt. Wie sehr das Werk in den dramatischen Zeitereignissen verwurzelt ist, zeigt auch das Interesse, das in den Nachlässen, Memoiren wie auch damals bekannten Aufsätzen von Personen überliefert ist, deren Sache nicht die Literatur war. Es sei hier wenigstens an die Zeugnisse des Chemikers Mendelejew, des Juristen Koni oder des Ethnografen Prugawin erinnert. Filosofen und Publizisten ließen sich immer häufiger auf umfangreiche Dispute mit Tolstois Werk ein (Berdjajew, Bulgakow, Struwe, Menschikow). Mehr denn je zuvor suchten zeitgenössische Autoren, zum Teil in langen Traktaten, ihr Verhältnis zu Tolstoi öffentlich zu klären. Die vorliegende Auswahl kann daraus nur einen knappen Ausschnitt geben.

Der in Westeuropa und Nordamerika als einer der Väter des russischen Anarchismus bekannt gewordene Pjotr Kropotkin (1842-1921) hielt zu Beginn des Jahrhunderts eine Reihe von Vorträgen mit dem Thema „Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur“. Dem später verfaßten Buch entstammt der hier abgedruckte Aufsatz über das Tolstoische Traktat „Was ist Kunst“. Er ist vor allem bemerkenswert hinsichtlich der Tradition des ästhetischen Denkens, in die Tolstoi gestellt wird, und der Tendenz, die Kropotkin als geeignet betrachtet, den Leser in Europa mit Tolstoi vertraut zu machen.

Nur den weniger Eingeweihten wird es verwundern, mit welcher nicht nur allgemeinem Respekt geschuldeter Übereinstimmung der Symbolist Alexander Block (1880-1920) auf das Werk des realistischen Klassikers reagierte. Seine Arbeit ist nicht aus der Distanz des siegreichen Jüngeren geschrieben, sondern in der vollen Erkenntnis der Notwendigkeit des Tolstoischen Werkes für seine, Blocks, Gegenwart. Dieses beeindruckende Zeugnis hat in den Tagebüchern Blocks aus den Ihren 1908/09 noch beachtenswerte Ergänzung gefunden.

Mit dem Abdruck einiger Aforismen Wassili Rosanows (1856-1919) wurde ein Akzent gesetzt, der an zugespitzte Situationen der Kritik, an den Stil der Polemik zwischen unversöhnlichen Tolstoi-Gegnern und ebenso unzugänglichen Tolstoi-Apologeten erinnern sollte. Rosanow, ein publizistisches Enfant terrible aller kulturellen und politischen Lager, seismografisch begabter Chronist für alle Schwankungen und Bewegungen des Zeitgeistes — als solcher auch wiederentdeckenswert außerhalb des russischen Sprachraums —, hat in seinen brillant-schillernden Aforismenbänden und in seinen vielen Miszellen über Literatur auch für Tolstoi Platz gehabt.

Seinen besonderen Platz nimmt das Tolstoische Werk in der sozialistischen russischen Kritik ein. Das ergab sich zwangsläufig aus der Tatsache, daß der Denker Tolstoi zunehmend in alle gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Debatten geraten war. Bereits die Kritiken Tschernyschewskis, Pissarews und Michailowskis hatten diesen Zusammenhang hergestellt. Nach den radikalen, zentristischen und liberalen Volkstümlern griffen um die Jahrhundertwende nun auch alle anderen, sich immer mehr differenzierenden Kritiker der Linken in solche Debatten ein: Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten, legale Marxisten, die Sozialdemokraten mit den beiden Flügeln der Menschewiki und Bolschewiki. Als sich Ljubow Axelrod-Orthodox (1868-1946) zum 75. Geburtstag zu Wort meldete, war also umfangreiche Vorarbeit geleistet. Die Verfasserin selber hatte sich als Mitglied der Plechanowschen „Gruppe der Arbeit“ bereits durch eine in Bern verteidigte filosofische Dissertation über Tolstoi (1901) Kenntnis vom Gegenstand erworben. Ziel ihres programmatisch gemeinten Aufsatzes war es, vor allem die Trennlinien der Sozialdemokratie zu einem Werk zu markieren, dessen Lehren sie im diametralen Gegensatz zu den Absichten der Sozialdemokratie sah. Anerkennung (durch die Bourgeoisie) habe sich dieses Werk in Westeuropa vor allem durch die Alternative erworben, die es zum Sozialismus bieten wolle. Tolstoi wurde für die Kritikerin zum warnenden Beispiel, weckte in ihr Mißtrauen und Unnachgiebigkeit, wodurch sie sich alle Möglichkeiten verschloß, zu Tolstois Werk jenen Abstand zu gewinnen, den sich Michailowski oder auch Kropotkin immerhin verschafft hatten: Die politisch-pragmatische Belastung des Verhältnisses Ideologie — Geschichte verhinderte Einsichten, die andere Zeitgenossen bereits hatten oder bald gewannen. Der Vorwurf, Tolstoi sei als ein Mann seines Systems zu betrachten, wog schwer und wirkte lange. Bei solchen Positionen ist die Kritikerin auch in ihren zwanzig Jahre später veröffentlichten und wiederveröffentlichten Tolstoi-Aufsätzen geblieben.

Unumwunden nannte dagegen Nikolai Jordanski (1876-1928) Tolstoi einen Apostel der sozialen Revolution, dessen weltweite Anerkennung auf eben dieser Wirkung beruhe. Der ehemalige Volkstümler und jetzige Sozialdemokrat Jordanski schrieb das bereits in einem Nekrolog, aber im vollen Bewußtsein dessen, daß der Kampf um Tolstoi erst begonnen habe. Er meldete den nahezu uneingeschränkten Anspruch der Linken auf dieses Erbe an. Mit der Sprengkraft der Tolstoischen Moral und Soziallehre, den utopisch-sozialistischen Anschauungen Tolstois, mit der Einheit seines Werkes trotz aller ihm innewohnenden Widersprüche und den weit über Rußland hinausreichenden Wirkungen benannte er die Gründe, die Tolstois Werk in die Entwicklung des Sozialismus stellten.

Der Protest der russischen Linken gegen solche Vereinnahmung war gewaltig. Eines der für diese Auseinandersetzungen interessantesten Zeugnisse sind die Tolstoi-Aufsätze Pjotr Struwes (1870-1944), vor allem der hier abgedruckte. Als er entstand, war Struwe bereits ein Jahrzehnt zuvor aus der russischen sozialistischen Bewegung ausgeschieden und hatte sich — gemeinsam mit den anderen Autoren des bekannten .,Wechi“-Manifestes — mit viel Aufwand und öffentlicher Geste von seiner eigenen Vergangenheit distanziert. Wie auch bei anderen Autoren — deshalb ist seine Position von Interesse — wurde seine veränderte Haltung zum Tolstoischen Werk Paradigma einer veränderten Haltung zur russischen Tradition, dem Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion in den vergangenen Jahrzehnten. Die Revolution von 1905 hatte ihn wie alle Wechi-Leute ernüchtert, das Volk ihn „enttäuscht“. So galt es, neue Positionen zu finden, ohne alte Interessen aufzugeben. Dazu gehörte der Versuch mit Tolstoi. Zwar gelingt keine Erklärung der eigenen Position, aber vehement wird Polemik betrieben, um Tolstoi nicht der Linken zu überlassen. Struwe wendet sich sowohl gegen den sozialistischen Kritiker Peschechonow (der Tolstois Erbe für den Sozialismus ablehnte, weil er es als Ausdruck der Ideologie der Rechten ansah) wie gegen Jordanski, dessen Sympathiebekundung er als Falsifikation abtut. So öffnet sich ihm Tolstois Werk für die eigene Beschlagnahme: Es gehöre weder der bourgeoisen Welt noch dem Sozialismus. Sein Vorschlag religiöser Suche im Namen des Liberalismus war das Angebot für einen dritten Weg.

Mitten in diesem Ideologiestreit steht jener Aufsatz Georgi Plechanows (1856-1918), mit dem einer der Väter des russischen Marxismus das verhängnisvolle Schema vom schwachen Denker und großen Künstler Tolstoi ausbaute. Der 1910 entstandene Aufsatz, eine von sieben Arbeiten Plechanows über Tolstoi, ist nur in seinen historischen Kontexten voll verständlich und alles andere als ein Mißverständnis oder ein Extrem der Polemik. Plechanow hatte die Debatten um das wider-sprüchliche Werk Tolstois beständig verfolgt. Seine fast ausschließliche Bewertung der Weltanschauung erklärt sich daraus, daß es ihm besonders darauf ankam, die retardierenden Wirkungen der Tolstoischen Lehre zu erhellen. Denn wie schon in den achtziger Jahren schien das Tolstoische Werk wiederum ein Vakuum auszufüllen, als Alternative zu revolutionärer Veränderung in Gebrauch zu kommen. Damit war ein tatsächlicher Vorgang beobachtet, der in Rußland, mehr noch sogar in Westeuropa, in besonderem Maße die Tolstoische Publizistik betraf.

Klärung in der linken Kritik brachten die Tolstoi-Aufsätze Lenins (1870-1924). Alle sechs Arbeiten verdanken ihr Entstehen zwar auch einer erwiesenermaßen intensiven und lange währenden Beziehung zum künstlerischen Werk Tolstois, sind aber in erster Linie Teil jener Epochenanalyse, die Lenin nach der gescheiterten Revolution von 1905 vornahm. Das Werk Tolstois wiederum war Teil und bedeutsames Moment der Epoche, so daß Lenin jenen besonderen Zugang zu ihm fand, der im Titel seines wohl bekanntesten Aufsatzes — „Spiegel der Revolution“ — am besten zum Ausdruck kommt. Mit beiden methodologischen Ausgangspunkten, der Epochenproblematik und der Spezifik des Abbilds (Spiegel), konnte Lenin auf jene Distanz gehen, die mehr erbrachte als das alte Prinzip des Einerseits-Andererseits, das zumeist auf individuelle „Schuldzumessung“ oder subjektives Versagen hinauslief. Mit dem keineswegs häufig zitierten Satz, daß Tolstois Lehre (die Lehre!) utopisch und sozialistisch (!), aber auch reaktionär sei, waren Denker und Künstler in die Vorgeschichte sozialistischen Denkens eingebracht, und es war zugleich eine historisch genau definierte Abgrenzung vorgenommen, die alte Schemata aufhob.

Allerdings erst in der Theorie. Die Daten dieser Aufsätze (1908 und 1910) zeigen im Vergleich zu anderen, später entstandenen Arbeiten der linken Kritik, daß die Aneignung ihrer Erkenntnis keine Selbstverständlichkeit war, daß der Weg von der verbalen Anerkennung der Leninschen Arbeiten bis zu praktischen Konsequenzen lang blieb. Im Streit um das Jubiläum von 1928, den 100. Geburtstag Tolstois, gingen die Wogen noch einmal hoch. Die Feststellung von heute, daß sich damals am Beispiel des Tolstoischen Werkes ein bestimmtes, positives Erbeverhältnis zur russischen Klassik endgültig durchgesetzt habe, stimmt nur eingeschränkt und erst im Hinblick auf das letztendliche Ergebnis. Im Vorfeld des Jubiläums kam es zu heftigen Kontroversen, an denen sich die Kritiker und Kulturpolitiker beteiligten, die während der zwei oder drei zurückliegenden Jahrzehnte publiziert hatten. Und zwar meldeten sie sich zu Wort, ohne ihre Positionen vom Anfang des Jahrhunderts zu korrigieren. Olminski und Axelrod-Orthodox standen in einer Front, mit ihnen Kritiker wie Fritsche (dessen Aufsatz vom „Spiegelehen“ Tolstoi heute wie Ironie wirkt). Lunatscharski mußte sich die fordernde Frage des alten „Prawda“-Redakteurs Olminski gefallen lassen: „Genosse Lenin oder Lew Tolstoi?“. So jedenfalls lautet die Überschrift unies seiner Zeitungsartikel in der „Prawda“ von 1928. Darin heißt es: „Diese Lehre verbreitete sich rasch unter der dem enegatentum zuneigenden Intelligenz und infizierte die ehrliche Jugend eben dank der Begabung ihres Predigers Lew Tolstoi. Die Jugend hingegen, die der Revolution treu blieb, sah sich gleichsam auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt. … Die Lehre Tolstois schlug auf die Narodowolzen ebenso ein wie auf die Marxisten.“ Das waren, nur ein Jahrzehnt nach dem politischen Sieg der Revolution, inmitten von schwierigen ideologischen Auseinandersetzungen, schwerwiegende Worte. Lunatscharskis Einsatz für das Jubiläum hat sich gelohnt, dieser Erfolg war nicht zuletzt seinem Festhalten an der Leninschen Linie der linken Kritik, die weit über das Werk Tolstois hinauswies, zu danken. Nationale und internationale 1 rbedebatten haben diese Aufsätze in ihren Grundpositionen bis in die Gegenwart bestätigt. In unserer Dokumentation stehen sie in ihren unmittelbarsten historischen und literarhistoischen Kontexten.

Wir wollen in dieser Sammlung Texte über einen Klassiker vor Augen führen, an deren Fragestellungen und Antworten nichts „alt“ geworden ist, Texte, die keiner Aktualisierung bedurfen, um Aktualität zu beweisen.«

bluete