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Raymond Queneau

 

Raymond Queneau (1903-1976) wurde hierzulande leider allein durch den von Louis Malle verfilmten Roman »Zazie in der Metro« bekannt. Einmal davon abgesehen, daß dem Film aufgrund der vielen Spezialeffekte der kritische Inhalt so ziemlich abhanden kommt und dieser auf Klamauk reduziert wird. Der Roman greift das Thema Vorurteil auf und zwar an einem ganz ungewöhnlichen Fall, so daß ein gewöhnlicher Fall eines Vorurteils zum Nachdenken anregen muß. Und dann die geforderte Antizipation eines Vorurteils, eine Zumutung sondergleichen für den, der mit Vorurteilen gar nichts am Hut hat. Man sieht schon an diesem Roman das kritische Durchdenken der Gesellschaft. Aber das ist noch lange nicht alles, was sich Queneau alles gedacht und zu Papier gebracht hat.
Seine Einordnung in die Schublade »Surrealismus« zeigt das gezielte und einigermaßen »hilflose« Vorurteil (»hilflos« insofern, als man nicht daran vorbei kann, sein Werk anzuerkennen, andrerseits es aber in seinem kritischen Inhalt nicht wahrhaben, vielmehr gerade deshalb unterbuttern will) all der Literaturrezensenten (und wohl auch des Filmemachers Malle). Eine gesalzene Abrechnung mit dem bürgerlichen Literaturzirkus liefert Queneau mit »Der Flug des Ikarus«. Andere Absurditäten des bürgerlichen Alltags kommen in all den anderen Romanen nicht zu kurz. Es sind nicht Queneaus Absurditäten, vielmehr die dieser schönen kapitalistischen Gesellschaft. Und diese Werke sind noch besser als »Zazie«: »Sonntag des Lebens« [u. v. a. darin eine sehr delikate Diskussion: vor dem WK II gehen die Meinungen auseinander, ob es zwischen Frankreich und Deutschland wieder zum Krieg kommt – in kaum anderer Hinsicht heute eine wieder sehr aktuelle Diskussion], »Hundszahn«, »Die kleinen Geschäfte des Monsieur Brabbant«, »Ein Winter in Le Havre« (auch betitelt: »Ein strenger Winter«), »Odile« (darin mit einem kleinen Stich gegen die ideologisierte Kommunistische Partei Frankreichs) faszinieren unglaublich. Man erkennt eben diese heutige Welt – auch wenn in Queneaus Zeiten schon eine kleine Weile her sind – aus einer gar nicht üblichen, distanzierten Perspektive, Ausgangspunkt für eine kritische Sicht auf ihre, der Welt Zusammenhänge.
Bemerkenswert der Zuschnitt auf Individuen mit all ihren Eigentümlichkeiten: Ein Individuum eignet sich Dinge an und stößt andere ab, entwickelt sich. Ein anderes Individuen hat sich aufgegeben, entwickelt sich nicht mehr. Diesen Gegensatz zwischen den Personen kann man in fast allen Romanen sehr zugespitzt miterleben: Auch in dem »Das intime Tagebuch der Sally Mara«, eines zur Frau heranwachsenden Mädchens, und in dessen zweiten Teil, der mit dem ersten so gut wie nichts zu tun hat (dafür sehr viel mit dem Krieg in der irischen Provinz Ulster) »Man ist immer zu gut zu den Frauen«. Wer von einen gesellschaftskritischen Liebesroman gefesselt werden will, greift zu »Mein Freund Pierrot«. Queneaus Sympathie für die Arbeiterklasse läßt sich auch darin nicht verhehlen. 
Kurzum, Queneau ist viel zu genial für einen eingefleischten Spießbürger, einen Politiker, einen Kirchenfürsten, einen Investmentbanker.

bluete