Leonardo Padura
Trotzkis Schrei im Ohr — Leonardo Padura (*1955, Habana) erzählt die Geschichte des gescheiterten Realsozialismus
In seinem Buch »Der Mann, der Hunde liebte« widmet sich der in Havanna lebende Autor Leonardo Padura einem Thema, das in den realsozialistischen Ländern jahrzehntelang als Tabu galt. Er erzählt die Geschichte des von Stalin verstoßenen Leo Trotzki und seines Mörders, dem Katalanen Ramón Mercader. Dabei verknüpft Padura zentrale Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu einem großen Roman, der eng an den Fakten bleibt.
Ohrenbetäubend erschallt der Schrei am 20. August 1940 durch den Innenhof. Vergeblich wehrt sich der von Stalin zum Tode Verurteilte Lew Dawidowitsch alias Leo Trotzki gegen sein vorgezeichnetes Schicksal. Ein Schrei, ein Biss in jene Hand, die ihm soeben einen Eispickel in den Schädel geschlagen hat, zu mehr reicht die Kraft nicht aus. Trotzkis mühevoll vorgebrachte Worte an seine Wachleute, dass sein Mörder »reden« müsse, retten diesem das Leben. Am folgenden Tag stirbt Trotzki an den Folgen des Attentats, sein Mörder wird in Mexiko zu 20 Jahren Haft verurteilt.
In drei Erzählsträngen begibt sich Padura, hierzulande bisher vor allem durch seine exzellenten gesellschaftskritischen Krimis um den kubanischen Teniente und späteren Antiquar Mario Conde bekannt, auf die Spuren eines im Realsozialismus links liegen gelassenen Mannes. Schon Trotzkis Lebensgeschichte alleine böte genügend Stoff für eine große Erzählung: erfolgreicher Revolutionär, Begründer der Roten Armee, erfolgreicher Blockierer einer möglicherweise demokratischen Entwicklung aufgrund anarchischer Naivität durch die Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes, schließlich der verlorene Machtkampf mit Stalin und der erzwungene Gang ins Exil.
Im ersten Strang erzählt Padura aus Trotzkis Leben vom Zeitpunkt seiner Verbannung nach Alma-Ata bis zu seiner Ermordung in Mexiko. Nach Zwischenstationen in der Türkei, Frankreich und Norwegen wird Trotzki in Mexiko zunächst von den Malern Frida Kahlo und Diego Rivera im blauen Haus in Coyoacán aufgenommen. Immer wieder spürt er den Atem Stalins im Nacken, der ihn aber noch als Verkörperung der Konterrevolution braucht, um seine Macht zu festigen. Trotzki selbst bleibt daher zunächst am Leben, viele seiner Genossen fallen in unterschiedlichen Ländern jedoch Attentaten zum Opfer. Währenddessen laufen in Moskau Schauprozesse gegen vermeintliche Trotzki-Anhänger, die immer heftiger ausarten.
Weniger bekannt, aber nicht minder spannend ist die Lebensgeschichte seines Mörders Ramón Mercander, die im zweiten Strang erzählt wird. Als Kommunist im spanischen Bürgerkrieg gerät Mercader in das Umfeld des Stalin ergebenen sowjetischen Geheimdienstes. Die Ablehnung des »konterrevolutionären« Trotzkis und seiner Anhänger wird für ihn zur Obsession. Er verschreibt sich ganz dem Projekt Stalins und wird in den inneren Zirkel der straff und sektenähnlich organisierten sowjetischen Kommunisten aufgenommen. Kontakt hat er fast ausschließlich mit seinem extrem wandlungsfähigen Vorgesetzten Kotow, der ihn als Agent des sowjetischen Geheimdienstes vom spanischen Bürgerkrieg über Frankreich bis nach Mexiko in den Kampf schickt. Dieser erscheine, wie Ramón eingebläut wird, »manchmal erbarmungslos«, sei aber »immer gerecht«. Der Katalane verinnerlicht das Credo, dass für den Sozialismus »jedes Opfer, jede Tat historisch gerechtfertigt sei und nicht die geringste Abweichung hingenommen werden« könne. Über die vorgetäuschte Zuneigung zu der Trotzkistin Sylvia Agelof verschafft sich Ramón unter falscher Identität schließlich direkten Zugang zu Trotzkis Umfeld. Seine unvermeidliche Tat für den Sozialismus steht von Anfang an fest.
Im dritten Strang trifft der kubanische Schriftsteller Iván am Strand von Havanna auf einen geheimnisvollen kranken Mann, der stets mit zwei eleganten Windhunden spazieren geht. Dieser erzählt ihm die unglaubliche Geschichte von Trotzkis Mörder mit einem Reichtum an Details, über die letztlich nur eine einzige Person verfügen kann. Iván beschafft sich Material über Trotzki, der im Kuba der 1970er von offizieller Seite aus als »die personifizierte Eiszeit, die potenzierte Ideologische Verruchtheit« galt. Als der Mann plötzlich nicht mehr auftaucht, steht Iván vor der Entscheidung, was er mit seinem Wissen anfangen soll. Jahrzehnte später erst erlangt er Klarheit über die Frage.
Im Gegensatz zu den anderen beiden Erzählsträngen, die trotz literarischer Verarbeitung auf recherchierten Fakten beruhen und von Personen der Zeitgeschichte handeln, ist Iván ein fiktiver Charakter. Anhand seiner Lebensgeschichte thematisiert Padura kritikwürdige Zustände auf Kuba wie den Konformismus an den Universitäten und die Repression gegen Schwule in den 1970er Jahren, sowie die schwierigen Lebensverhältnisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Gleichzeitig belichtet der Autor die bisher wenig bekannte Tatsache, dass Ramón Mercader in den 1970er Jahren unter offiziellem Schutz in Kuba gelebt hat.*
Anhand der Biografien von Mörder und Ermordeten lässt Padura das 20. Jahrhundert von Stalin und Hitler, über den Zweiten Weltkrieg, den Prager Frühling bis hin zum noch immer sozialistischen Kuba an der Schwelle zum neuen Jahrtausend Revue passieren. Mit seiner großartig erzählten Geschichte, die trotz des weitgehend bekannten Endes im Verlauf an Spannung zunimmt, zieht er eine bittere, realistische Bilanz des Realsozialismus und der verhängnisvollen Lesart von Marx bzw. der Ignoranz ihm gegenüber. Der Umgang mit Trotzki stellt für Padura dabei einen entscheidenden Moment des Scheiterns dar. Selbst Ramón und sein früherer Vorgesetzter Kotow können dem später kaum widersprechen. Jahre nach Stalins Tod treffen sie sich als von der Geschichte nunmehr zur Farce karikierte, gebrochene Persönlichkeiten in Moskau wieder. Die Erinnerung an Trotzkis Schrei und eine Narbe an der Hand von Ramón zeugen von einem Verbrechen, das sich auch für dessen Protagonisten nicht gelohnt hat.
Leicht überarbeitete Rezension von Tobias Lambert in den Lateinamerika-Nachrichten 8-9/2011
* Anm. KoKa: Inwieweit die exponierte Lage Kubas und seine schwachbrüstige ökonomische Basis der kubanischen Revolution zu solcherart Zumutungen seitens der Sowjetunion keinerlei Alternative ließ, diese Frage sei hier nur angedeutet. Erfreulich wäre es allerdings, wenn die ML-ideologischen Ballaststoffe, die mit dem strategischen Bündnis ins Land kamen, heute allmählich aufgearbeitet und so außer Kraft gesetzt werden würden:: Also zurück zum revolutionären Bewußtsein, zurück zur Kritik der politischen Ökonomie und zur Kritik ihrer Ideologien.
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Über seine Werke im Interview mit Doris Wieser