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Aziz Nesin
 

Aziz Nesin (1925-1995) ist einer der bekanntesten zeitgenössischen türkischen Autoren und ein gesellschaftskritischer zudem. Er hat 91 Bücher veröffentlicht und wurde in 33 Sprachen übersetzt.
Ende Februar 1993 erfuhr die Tageszeitung Aydinlik, daß Aziz Nesin »Die Satanischen Verse« von Salman Rush ins Türkische übersetzen und publizieren wolle. »Wir freuen uns über diese Nachricht und bewundern ihren Mut. Da wir glauben, daß nur eine möglichst große Öffentlichkeit Sie und Ihr Vorhaben unterstützen können, wollen wir dies gerne durch ein
Interview mit Ihnen tun«, schrieben die Redakteure an Aziz Nesin.
Am 26. Mai begann dann Aydinlik mit dem Druck von Auszügen aus den »Satanischen Versen« in 12 Folgen, begleitet von Diskussionsbeiträgen von Wissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellern. Per einstweiliger Verfügung wurde aber seither von der Staatsanwaltschaft die Verbreitung der Tageszeitung behindert. Der Staatsanwalt beruft sich dabei auf den Beschluß der alten Regierung vom 24.8.89, der die Einfuhr, Veröffentlichung und Vertrieb der »Satanischen Verse« verboten hatte.
Parallel zur Staatsanwaltschaft hat die fundamentalistische Hizbullah die Vertreiber von Aydinlik mit dem Tode bedroht. In Istanbul marschierten etwa 1000 Fundamentalisten im Anschluß an das Freitagsgebet zum Verlagshaus von Aydinlik, Mitarbeiter wurden schwer verletzt und die Büroräume zerstört.
Als in der vierten Folge der Serie nicht Rushdies Buch, sondern die »Satanischen Verse« des Korans dokumentiert wurden, hat es die Staatsanwaltschaft nicht bemerkt und auch diese Ausgabe blindwütig beschlagnahmt.
Hier das Interview, das Aydinlik mit Nesin geführt und am 10., 11, und 12. Mai 1993 als Leitartikel veröffentlicht wurde. Mit diesem Interview wurde das Projekt der Veröffentlichung der
»Satanischen Verse« in Aydinlik mit vorbereitet.

Herr Nesin, Sie lassen »Die Satanischen Verse« von Salman Rushdie zur Zeit in die türkische Sprache übersetzen und wollen das Buch möglichst bald publizieren. Wann und wie kamen Sie zu diesem Vorhaben?
Aziz Nesin: Es ist kurz gesagt beschämend und ehrverletzend, daß in der Republik Türkei, von der es in Schrift und Wort heißt, sie sei laizistisch, und die gemäß Artikel 2 unserer Verfassung ihre laizistische Ordnung dokumentiert, per Regierungserlaß untersagt wird, 7 Jahre vor dem 21. Jahrhundert einen Roman in die Türkei einzuführen, ihn zu übersetzen und zu publizieren. Nachdem Khomeini das Todesurteil über Salman Rushdie verhängt hatte, lebte ich lange Zeit vergeblich in der Hoffnung, daß in der Türkei irgendeine Organisation, öffentliche oder nicht öffentliche Institution oder Einrichtung, irgendeine unserer Universitäten oder Anwaltskammern sich gegen dieses unsinnige, den Menschenrechten und der Meinungsfreiheit widrige Verbot ausspricht und eine Reaktion zeigt. Niemand reagierte. Diese Passivität unserer Intellektuellen ist schrecklich. Ich begann mich für diese Reaktionslosigkeit verantwortlich zu fühlen.
Genauso wie für die Aktivitäten nach dem 12. März 1980: Gesuch der Intellektuellen, Bilar und anderes. Außerdem geriet der Autor des Romans wegen der Angst vor Ermordung in Panik und bat Khomeini um Gnade. Er brachte seine Reue zum Ausdruck. Ich versuchte, etwas zu organisieren. Meine Bemühungen um eine organisierte Reaktion, endeten mit einem Mißerfolg, weil die Angst vor einer Ermordung schwer wiegt.
Ich hatte vor zweieinhalb Jahren auf dem Kongreß der Schriftstellergewerkschaft der Türkei, deren Vorsitzender ich 15 Jahre lang war, diese Problematik thematisiert und versucht Schriftstellerfreunde zu finden, mit denen ich die Verantwortung für die Publikation der Satanischen Verse teilen könnte. Fast 100 Schriftstellerfreunde bekundeten mit ihrer Unterschrift, an meinem Anliegen teilhaben zu wollen. Demgegenüber konnte der Vorstand der Schriftstellergewerkschaft der Türkei während seiner zweijährigen Amtszeit diese verpflichtende Entscheidung der Generalversammlung nicht in die Praxis umsetzen. Daraufhin gab ich in einem Interview mit einer Zeitschrift bekannt, daß ich diesen Roman — falls niemand die Verantwortung mit mir teilt — alleine publizieren werde. Seitdem werde ich überschüttet mit Zeitungsanzeigen, Briefen und Telegrammen unserer Intellektuellen in der Türkei und aus dem Ausland, die an meinem Vorhaben teilhaben möchten. Zur Zeit habe ich über 5.000 solcher Willensanträge. Darunter sind solche, die finanzielle Unterstützung leisten wollen; Künstler und intellektuelle Druckerei- und Verlagsinhaber, die den Satz und den Druck des Romans übernehmen wollen. Auf dem letzten Kongreß der Schriftstellergewerkschaft der Türkei (TYS) habe ich das Thema wieder auf die Tagesordnung setzen lassen. Dort fiel die Entscheidung, daß man sich nicht nur mit der Publikation der Satanischen Verse begnügen solle, sondern einen breitgefächerten Kongreß über die fortschrittsfeindliche Reaktion und den Fundamentalismus einberufen müsse, in den sich unser Land festgerannt hat. Seitdem sind zwei Monate vergangen. Ich warte noch auf die Nachricht von der Gewerkschaft. Ich veranlaßte, daß mit der Übersetzung der Satanischen Verse aus dem englischen Original begonnen wurde. An die Agentur von Salman Rushdie wandte ich mich, um die Rechte des Romans für die türkische Sprache zu kaufen.
Außerdem werde ich bald Anträge bei dem neuen Staatspräsidenten, dem neuen Ministerpräsidenten und bei allen Ministern auf Aufhebung des Regierungsbeschlusses über dieses Verbot stellen, das antilaizistisch und antidemokratisch ist und gegen die Menschenrechte und Meinungsfreiheit verstößt. Ich möchte daran glauben, daß die Regierung diesen von ihren Vorgängern beschlossenen Erlaß aufheben wird. Wenn die Regierung diesen antidemokratischen, antilaizistischen Beschluß, ein Dokument der Reaktion, nicht annuliert, wird sie die Staatsbürger dazu zwingen, vom Untergrund aus zu publizieren und zu vertreiben, was in der ehemaligen Sowjetunion als Samisdat bezeichnet wurde. (Aydinlik, 10. Mai 1993)
In einem langen Interview mit Ihnen, das gerade in deutscher Sprache als Buch veröffentlicht wurde, sagen Sie: »Die Schriftsteller in der Türkei tragen für das von Ihnen Nichtgeschriebene große Verantwortung. Es herrschen manche Zustände, über die Artikel geschrieben werden müßten. Sie wurden aber nicht geschrieben. Nach 1980 haben der größte Teil der Schriftsteller offensichtlich ihre Aufgabe nicht erfüllt.« Gilt das auch für Übersetzungen? Und haben Sie für die Übersetzung des Buches von Rushdie die Verantwortung übernommen, weil es sonst niemand getan hat? Oder ist Ihre Übersetzung für Sie mehr als eine Pflichtaufgabe? Was bedeutet dieses Buch für Sie ganz persönlich?
Ein ganz merkwürdiger Zufall. Auf dem Kalenderblatt vom 14. Mai 1993 des von der Tageszeitung Dünya publizierten Kalenders ist das folgende Zitat von mir gedruckt:
»… Ich halte mich dazu verpflichtet, die Dinge zu tun, die die anderen nicht tun; Dinge, die die anderen nicht tun, obwohl sie getan werden müssen.« Ich erinnere mich nicht daran, in welchem Jahr ich diese Worte gesagt habe. Das geschah aber immer so. Ich warte, warte, warte darauf, daß die mit dem Thema sehr eng verknüpften Stellen oder Personen ein hoffnungsvolles Wort sprechen oder eine Reaktion zeigen. Im Endeffekt sehe ich mich dann dazu verpflichtet, diese Aufgabe selbst zu erfüllen.
Nach der faschistischen Machtübernahme am 12. September 1980 habe ich genau zwei Jahre lang hoffnungsvoll aber vergebens auf eine gesellschaftliche Reaktion gewartet. Wir konnten erst im März 1984 durch »das Gesuch der Intellektuellen« diese Reaktion zeigen. Das geschah bei der Gründung der Kulturinstitution namens Bilar A.S., bei den Kongressen für die Verfassung und die Demokratie und bei den darauffolgenden demokratischen Initiativen genauso. Meine Aussage, die Schriftsteller in der Türkei seien auch für das verantwortlich, was sie nicht geschrieben haben, ist unvollständig. Nicht nur in der Türkei, sondern in der ganzen Welt tragen die Schriftsteller die Verantwortung für die Schriften, die sie nicht geschrieben haben oder aus Angst, eigenen Interessen oder Gleichgültigkeit nicht schreiben konnten. Würde ich an ein Leben im Jenseits glauben, so könnte ich problemlos sagen, daß diese Schriftsteller im Jenseits wie folgt vernommen würden:
Du, der Schriftsteller! Während deines Lebens auf der Erde ereigneten sich folgende unmenschliche Vorfälle. Da Du Dich mit diesen Vorfällen gar nicht beschäftigt hast… Meiner Ansicht nach sollten die Literaturhistoriker die Schriftsteller auch hinsichtlich dieser Seiten untersuchen. Das ist jedoch zweifellos keine ästhetische Beurteilung eines schöngeistigen Schriftstellers. In unserer jüngeren Geschichte kann ich Sartre als Beispiel eines Schriftstellers anführen, der einer solchen Verantwortung gerecht wurde.
Diese meine Aussagen gelten selbstverständlich auch für den Bereich der Übersetzung. Als ich mich anläßlich einer internationalen Tagung in Ägypten aufhielt, erfuhr ich, daß der Roman »Die Kinder von Medina« [deutschsprachiger Titel: »Die Kinder unseres Viertels«] des Nobelpreisträgers Nagib Machfus verboten ist. Ich ließ diesen Roman unverzüglich bringen und zwar mit der Absicht, ihn ins Türkische übersetzen und veröffentlichen zu lassen. Die Übersetzung der »Satanischen Verse« in die türkische Sprache bedeutet mir viel mehr als die Übersetzung irgendeines Romans ins Türkische: Weil die Türkei immer mehr und immer schneller in den Sumpf des zunehmend stärker werdenden Fanatismus und Fundamentalismus gerät. Ich halte mich für einen Schriftsteller, der seinem Volk gegenüber soviel schuldet, was nicht beglichen werden könnte. Den Roman »Die satanischen Verse« in türkischer Sprache zu veröffentlichen, ist deswegen im Speziellen sowohl meine Aufgabe gegenüber der Menschheit, meine Verantwortung als Schriftsteller, als auch meine
Bemühung, meine Schuld gegenüber meinem Volk zu begleichen; und im allgemeinen stellt diese Veröffentlichung für mich den Versuch dar, einen Kampf gegen die religiöse Rückständigkeit, den religiösen Fanatismus und Fundamentalismus zu führen.
(Aydinlik, 11. Mai 93)
»Die Satanischen Verse« sind ja in ihrem Inhalt viel mehr als nur eine Auseinandersetzung mit islamischer Religionsgeschichte, was in der öffentlichen Reaktion zu diesem Buch oft gerne übersehen wird. Dennoch die Frage, wie beurteilen Sie die religionsgeschichtlichen Passagen des Buches? Das interessiert uns auch unter dem Aspekt, daß Sie gesagt haben: »Der Islam der Araber und der unsrige ähneln sich überhaupt nicht. Wir haben den Islam sehr stark eintürkisiert.«
Es ist ein selbstverständliches Geschehen, daß eine Religion nationalisiert, sogar örtlich bestimmt und regionalisiert wird. Die Nationalisierung erfolgt jedoch nicht in der Hauptrichtung der Religion, sondern vielmehr in den Bereichen der Kunst und der Tradition. Zum Beispiel ist die religiöse Musik der türkischen Muslime, insbesondere das Mevlit (das Lied anläßlich der Geburt des Propheten Mohammed) in jeder Hinsicht völlig türkisch. Auch wenn Sie sich nur kurze Zeit in Camiil-Ezher in Kairo aufhalten, können Sie den Unterschied zwischen dem arabischen und dem türkischen Islam merken. Meiner Ansicht nach ist der Islam der Aleviten in der Türkei sogar noch türkisierter. Der Islam der Schiiten ähnelt dem der Türken überhaupt nicht. Ich glaube, es war 1976, als ich während meines Aufenthalts in Karkuk Zeuge wurde, wie Christen in einer Kirche in türkischer Sprache, ja türkisch, beteten. Ich habe gehört, daß die schwarzamerikanischen Volksmaler Jesus als Schwarzen malten. Jedes Volk paßt sich die Religion an, wobei das Wesen der Religion erhalten bleibt. Die Unterschiede zwischen dem türkischen und arabischen Islam sind zahlreich. Der türkische Islam näherte sich allerdings in den letzten Jahren aus nichtreligionsbedingten Gründen
einerseits dem iranischen und andererseits dem saudiarabischen Islam an. Das ist die Politik der Religion.
Sie haben angekündigt, daß Sie das Buch, wenn es sich in der Türkei nicht anders verlegen läßt, wie einen Samisdat als Typoskript verbreiten wollen, obwohl es sich doch wohl leicht auch im Ausland drucken ließe. Verstehen Sie das als einen notwendigen Akt gegen drohende Zensur in der Türkei?
Falls die Regierung diesen von der vorherigen Regierung angeordneten, antilaizistischen und antidemokratischen Erlaß, dieses Verbot, nicht aufhebt, falls sie ihre Staatsbürger dazu zwingt, dieses Verbot zu übertreten, — ich glaube zwar nicht, daß dies geschieht —, denken wir überhaupt nicht daran, das Buch »Die Satanischen Verse« im Ausland illegal drucken zu lassen und geheim in die Türkei einzuführen. Wir werden die Schritte des Drucks und des Vertriebs nicht geheim unternehmen. Falls die Regierung es wagt, die Leute zu bestrafen, die es ins Auge fassen, dieses Verbot zu übertreten, wird sie mit einer breiten demokratischen Öffentlichkeit konfrontiert, die diese Verantwortung teilt. Der Unterschied zum Samisdat besteht für uns eben auch darin, der türkischen Öffentlichkeit und der Weltöffentlichkeit zu beweisen, daß der Regierungsbeschluß über das Verbot zwar legal ist, aber juristisch gesehen doch nicht haltbar und auch nicht gerecht ist.
»Ein Kunstwerk ist wie eine Sendestation. Wenn die Wellen des Senders nicht mit denen des Empfängers übereinstimmen, kann man nichts empfangen.«, sagten Sie in dem zitierten Gespräch. Man kann davon ausgehen, daß fast kein einziger Feind dieses Buches sein Urteil auf die Lektüre stützen kann, da er es nicht gelesen hat oder auch kaum die Möglichkeit hat — wie in Persien —, es zu lesen. Wie schätzen Sie »die Wellen des Empfängers« der türkischen Ausgabe ein, welche Erwartung oder Befürchtungen verknüpfen Sie mit dem Erscheinen des Romans?
Während und nach der Übersetzung, Publikation und der Distribution des Romans »Die Satanischen Verse« in türkischer Sprache können im schlimmsten Fall die religiösen Radikalen, Fanatiker und Fundamentalisten das Todesurteil von Khomeini (Fetwa) vollstrecken. Ich glaube aber gar nicht daran, daß die Muslime der Türkei diesen Schritt tun werden. Ich denke, daß die Türken keine Morde im Namen der Religion begehen werden, weil sie — wie ich in meiner Antwort auf Ihre dritte Frage sagte — den Islam eintürkisiert haben. Es kann sein, daß ich mich irre. Wir werden aber dann bewiesen haben, daß die wirklichen Intellektuellen von der Vernunft nicht lassen werden, selbst dann nicht, wenn sie unter Todesangst stehen. (Aydinlik, 12. Mai 1993) [Übersetzung ins Deutsche: Asim T. Onat]

Ein Nachruf von Günter Wallraff:
„Aziz Nesin vereinigte in sich Eigenschaften, die schon als einzelne selten geworden sind, in einer Person versammelt jedoch die Konventionen unserer Zeit sprengen. Menschenrechtskämpfer, Spötter und Satiriker, der dem Volk nicht nach dem Munde redete, Antidogmatiker und Antinationalist, der die Herrschenden immer wieder herausgefordert hat; Ungläubiger, der den Glauben an und die Liebe zu den Entrechteten und Unterdrückten nie verlor, kein sich selbst und andere kasteiender Asket, vielmehr jemand, der Lebensfreude und Sinnlichkeit nicht allein in Prosa und Poesie auslebte und den Tod nicht fürchtete. Dieser eigenwillige und unerschrockene Mahner, selbst noch in einer entmutigenden und zunehmend verzweifelten Lage, war das handelnde, redende und schreibende Gewissen der türkischen Gesellschaft! Er war uns ein Beispiel, über Grenzen hinweg.
Lieber Aziz, verzeih mir, daß ich solche großen Worte gebrauche, ich weiß, daß es Dir bei Deinem schon sprichwörtlichen Understatement gar nicht behagen würde, aber es muß einmal gesagt werden. Was Dich schon in Deiner Kindheit antrieb, hast Du einmal in einem Gespräch ganz schlicht benannt: »Wenn ich irgendwo zwei sich schlagende Menschen sehe, stelle ich mich stets an die Seite des Geschlagenen und mische mich ein. Ich kann gar nicht anders.« Und: »Keiner kann allein glücklich sein, solange es Unglückliche gibt. Glück entsteht in der Gemeinschaft.« Deine Parteinahme kam nie von oben herab und bloß rhetorisch, sie bewies sich im alltäglichen Handeln.
Aziz Nesin fühlte sich solidarisch mit denen, für die er schrieb, und mit ihnen lebte er auch. »Ich lebe heute genauso wie vor zehn oder zwanzig Jahren«, schrieb er. »Ich stehe Schlange, drängele mich im Omnibus, gehe auf den Markt einkaufen. Als ich eines Tages mit einem, der solch ein Leben nie kennengelernt hat, auf dem Markt gewesen war und mich dann an der Bushaltestelle anstellte, sagte er zu mir: ,Jetzt weiß ich, warum du dich immer noch unters Volk mischst …‘ — ,Warum?‘ habe ich gefragt.
— ,Weil du dabei Material zum Schreiben sammelst.‘ — Gibt es etwas noch Geringschätzigeres, als das Volk als Schreibmaterial zu betrachten? Ich bin ein Kind des Volkes und gehöre dorthin, so wie ein Fisch nur im Wasser leben kann.«
… . Er lästerte über die Staatsbürokratie, die Bestechlichkeit und Ignoranz der Politiker, über Korruption, Zensur, Opportunismus, Intoleranz und Fanatismus. Allein 16 Monate saß er ein und nahm die »Schuld« auf sich für einen Artikel, den er gar nicht geschrieben hatte. Doch er rechnet sich dies zur Ehre an: »Jeder anständige Schriftsteller unseres Landes war im Gefängnis. Denn alle anerkannten und fortschrittlichen und gesellschaftlich engagierten Schriftsteller meiner Generation haben sich gegen die Staatsführung gestellt. Das ist kein Defizit der Künstler. Es liegt vielmehr daran, daß die Regierung sich vom Volk entfernt, das Volk betrogen hat.«
Denken an die Nietenzieher
Was war das Besondere, ja Einzigartige an diesem großen Humanisten, Aufklärer, diesem Nachfahren von Nasreddin Hodscha (dem legendären Volksweisen und türkischen
Eulenspiegel)?
Leben und Werk waren bei ihm eine Einheit, da gab es keinen Bruch: schreiben, reden, vorleben, die Identität von Anspruch und Vorbild. Sein Name, den er sich selber gab, bedeutet: »Wer bist Du?« – Der ist für ihn Programm: sich selbst ständig in Frage stellen. Die Einkünfte seiner Bücher und Vortragsreisen fließen in eine Stiftung. Ich war einige Male dort zu Gast. Aziz Nesin lebte da mit Kindern aus armen Verhältnissen und ermöglichte ihnen Ausbildung beziehungsweise Studium. Wer ihn zusammen mit den 28 Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 23 Jahren erleben durfte, konnte spüren, daß da eine zwangsfreie Solidargemeinschaft im kleinen verwirklicht war.
Im Gegensatz zu den meisten Stiftern in aller Welt verzichtete Aziz Nesin ganz bewußt auf Spendensammlungen. Er war wirklich autark und sprach selbst von einer »Schuld, daß er seinem Volk auf diese Weise zurückgibt, was er ihm zu verdanken hat«, da er aus einer armen Familie stammte und nur durch ein glückliches Los in den Genuß einer Ausbildung gelangte. Er vergaß nicht: »Mit Bitterkeit denke ich daran zurück. Was wäre geschehen, hätte ich eine Niete gezogen? Vielleicht wäre ich heute Analfabet. Ein ganzes Leben hing davon ab, ob Ja oder Niete auf einem kleinen Zettel stand. Immer werde ich an sie denken, die Nietenzieher, die mit gesenktem Kopf weinten. Wir dürfen sie nicht vergessen.«
Aziz Nesin blieb sich treu, indem er sich in seiner Grundüberzeugung, seiner Nächstenliebe und Solidarität Unterdrückten, Nichtrepräsentierten und Verachteten gegenüber nicht änderte. Er bekannte sich: „Viele von uns schämen sich ihrer Armut, als seien sie selbst schuld daran. Ich habe mich auch jahrelang meiner Armut geschämt, noch bis ich Schriftsteller wurde. Daß in Ländern, in denen es viel Armut gibt, nicht Armut, sondern Besitz beschämend ist, verstand ich erst, als ich zu schreiben begann.“
Aziz Nesin, obwohl parteilich, war nie Mitglied einer Partei! Das Leben, so sagte er, habe ihn zum Sozialisten gemacht: »Es war mir nicht gegeben, die Klasse zu wechseln und so meine eigene Haut zu retten, ein bequemes Leben zu führen … Meine Klasse ist die Arbeiterklasse, mindestens 25 Millionen von 30 Millionen Landsleuten…« — Er glaubte, daß man »die ruinierte Ordnung, die in seinem Land herrscht, radikal verändern und umgestalten muß. Diejenigen, die von diesem Zustand profitieren, sind selbst Betrogene. Sie sagen: So war es, und so bleibt es. Nein, so bleibt es nicht, so kann es nicht weitergehen, das lassen wir nicht zu. Unsere Kinder sollen eine andere Kindheit haben als ich. Wenn wir die bittere Wirklichkeit verstehen und begreifen, müssen wir schreien: So war es, aber so geht es nicht weiter! All unsere Handlungen müssen davon bestimmt werden.«
Nur ja kein Klassiker werden
Aziz Nesin wurde von seinem Staat die Ehre zuteil, »Vaterlandsverräter« geschimpft zu werden. Exstaatspräsident Kenan Evren titulierte ihn und andere Intellektuelle damit, als sie die versprochene Demokratie einklagten. — Von Ehrungen durch die offizielle Türkei blieb Aziz Nesin verschont. Er, der meistgelesene und angesehenste Autor der Türkei, machte auch keinerlei Zugeständnisse. Er hat sich zu Lebzeiten erfolgreich dagegen gewehrt, zum Klassiker hochstilisiert und damit vereinnahmt zu werden. Zur Zeit der Militärregierung gründete Aziz Nesin in Ankara, Istanbul und Izmir wissenschaftliche Forschungsinstitute im Stil einer Volksuniversität, die den reglementierten und kontrollierten staatlichen Universitäten etwas entgegensetzen sollten.
Seit seiner Initiative, Salman Rushdies »Satanische Verse« auf türkisch herauszugeben, wurde Aziz Nesin mit dem Tode bedroht. Mir scheint es übrigens kein Zufall, daß ausgerechnet zwei Schriftsteller, die Meister der Satire sind, vom Todesurteil religiöser Faschisten bedroht werden. Dogmatiker jeglicher Couleur, sich im Besitz der reinen Wahrheit wähnend, verstehen keinen Spaß, sie meinen es todernst im wortwörtlichen Sinn ihrer Absolutheitslehre. Der Profet Mohammed, so wird überliefert, soll nie gelacht haben. Das Lachen erschien ihm, so wörtlich, »wie ein Signal an den Satan« und sei »als Zeichen von Schwäche und Mangel an Durchsetzung anzusehen«. …
Lediglich aufgrund einer Verwechslung kam Aziz Nesin im Juli 1993 bei dem Pogrom im zentralanatolischen Sivas mit dem Leben davon. 37 Menschen (Schriftsteller, Journalisten, Künstler, Tänzerinnen einer Folkloregruppe und Kinder) verbrannten und erstickten in einem von religiösen Fanatikern belagerten Hotel. Das Ungeheuerliche geschieht: In einem Scheinprozeß werden nur einige der verantwortlichen Mörder zu Scheinstrafen zwischen acht und 15 Jahren verurteilt und kurz darauf fast alle klammheimlich freigelassen.
So macht man aus Opfern Täter
Statt dessen sollte dann Aziz Nesin wegen Volksverhetzung vor Gericht gestellt werden, und damit drohte ihm die Todesstrafe. Der Oberstaatsanwalt der Staatssicherheitsgerichte, Demiral, bezeichnete Aziz Nesin öffentlich als »Schuldigen, der durch seine Handlungen die Taten provoziert habe und keinerlei guten Einfluß auf die Gesellschaft ausübt«. —
Eine bewährte Strategie: So werden aus Opfern Täter gemacht. In Wirklichkeit war Aziz Nesins Rede in Sivas ein einziges Plädoyer für Gewaltlosigkeit und Toleranz. Der Justizskandal macht deutlich, daß auch die türkischen Gerichte bereits islamistisch unterwandert sind. Aziz Nesin betrachtete es als Pflicht der Intellektuellen, dieser Entwicklung offensiv entgegenzutreten, »die Dinge zu sagen, die gesagt werden müssen und die andere nicht sagen. Die Schriftsteller tragen auch Verantwortung für das, was sie nicht geschrieben haben.«
In Deutschland rief der in Köln lebende Fundamentalistenführer Cemalettin Kaplan dazu auf, »den Gotteslästerer und Ungläubigen« Aziz Nesin zu ermorden. Ein türkischer Bauunternehmer setzte ein Kopfgeld von 250.000 Dollar aus. Desungeachtet differenzierte Aziz Nesin: »Ich bin nicht allein gegen muslimischen Fanatismus, ich bin gegen jeden religiösen und ideologischen Fanatismus. Es ist die Pflicht von aufgeklärten Menschen, sich gegen ihn zu stellen, wo immer sich eine Handhabe dafür bietet. Nach dem beschämenden Fanatismus des Islam, wie er gegen Salman Rushdie praktiziert wird, wurde in Bosnien und der Herzegowina der Fanatismus der christlichen Welt offensichtlich. Wie auch im Fall von Salman Rushdie ist dieser Fanatismus kein individueller, sondern ein kollektiver. Schlimmer noch, der Fanatismus, wie er in Bosnien-Herzegowina den Tod von 200.000 Menschen verursacht, hat sich im Unterbewußtsein der christlichen Teile der Menschheit breitgemacht. Das nimmt solche Formen an, daß die Europäer und die Amerikaner, die, ob sie nun Christen sind oder nicht oder gar religiös bzw. gottlos wie ich, gegen jede Art von Menschenrechtsverletzungen aufbegehren, jedoch — aus einer unbewußten Antipathie gegenüber dem Islam und seinen Anhängern — ihre Stimme nicht eindeutig genug erheben gegen die Ermordung von Hunderttausenden von Bosniern und Herzegowinern und dage-
gen, daß diese Massenverbrechen immer weiter andauern. Das ist ein Beispiel größter Heuchelei in unserer Zeit. Gleich welcher Religion oder welcher Ideologie er anhängen mag, der Mensch darf nicht zum Feind des Menschen werden.«
P.S.: Vor einiger Zeit entging Aziz Nesin nur knapp einem Versuch, ihm die Ehrendoktorwürde der Technische Hochschule Darmstadt zu verleihen. Im letzten Moment erkannte der reaktionäre Teil des Hochschulsenats die politische und satirische Größe und Brisanz des zu Ehrenden und stimmte in geheimer Abstimmung mit knapper Mehrheit dagegen. Inspiration für Aziz Nesin, sich mit einer Satire zu bedanken: »Warum es eine Ehre ist, in Deutschland keinen Ehrendoktor zu erhalten.«“
(Wallraff in der taz, 07.07.1995)

Aziz Nesins Satiren sind in deutscher Sprache hauptsächlich im ikoo-Verlag erschienen.

bluete