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Victor Margueritte und Paul Margueritte

Victor Margueritte (1866-1943) wuchs zusammen mit seinem Bruder Paul Margueritte (1866-1955) auf, als der letzte Krieg, der deutsch-französische Krieg 1870/1871 Tagesgespräch war, zumal dessen Wunden ja noch nicht vernarbt waren. Und sie wurden nicht zum oberflächlichen Kriegsgegner, zu idealistischen Friedensaposteln. Vielmehr zu Kriegsgegnern, die den Ursachen für Krieg auf die Spur gehen wollten. Davon sorgt ihr großes Werk, »Der große Krieg« (Une Epoche), 4 Bände in 8 Büchern. Die ersten beiden tragen den Titel »Der Unstern«, die zweiten beiden »Die Stücke des Schwertes«, die dritten beiden »Brave Kerle« und die vierten beiden »Die Kommune« (dt. Ausgabe im Verlag Hermann Seemann Nachf., Leipzig, 1903).
Victor Margueritte veröffentlichte dann zum 1. Weltkrieg ein weiteres Buch mit dem Titel »Vaterland« (1930), in dem er im Vorwort schreibt: "…Wiederum schwebt über Europa der Schatten des Mordgeiers. Zwischen den Stacheldrähten ihrer Vorurteile und ihrer vermeintlichen Pflichten eingezwängt, unfähig sich miteinander zu verständigen, finden die Regierungen keinen anderen Weg zur Rettung der Völker, als deren Vernichtung. Sie sind bereit rücksichtslos von all den Giftstoffen Gebrauch zu machen, welche ihnen die käufliche Wissenschaft zur Verfügung stellt, um die Kunst des Mordens zu vervollkommnen.
Diese Kunst hat bereits eine solche Höhe erreicht, daß sie von nun an imstande ist, ganze Völker mitsamt ihren Regierungen dem schrecklichen Tode preiszugeben. … Entweder gelingt es den Völkern, den Krieg zu besiegen, und sie weigern sich von nun an, ihn vorzubereiten und zu führen, oder sie fallen in den Urzustand zurück, und der menschliche Fortschritt versinkt in der Tiefe.
Sechzig Jahre sind es her, seit meine Mutter nach Sedan den Trauerschleier nahm; dann wurde uns das Schauspiel der zwischen 1914 – 1918 errichteten Leichenhügel geboten; dann kam die Erkenntnis, was ein chemischer Krieg den »Vaterländern« und der Menschheit bringen würde. Und dann kam aus der Tiefe der Hauch, der die Hoffnung der Welt über alle Gräber hinweg zum Ideal der Verbrüderung durch Arbeit und Frieden mitriß — all das hat mich überzeugt, daß es nur von uns abhängt, daß der blutige Alpdruck schwinde.
Von all meinen Büchern werden manche Verblendete dem Sohn des Generals Margueritte dieses am meisten verübeln. Mir jedoch scheint, daß kein bisher in meinen Werken verfolgtes Ziel des Namens, den ich trage, würdiger ist als dieses… Es ist ein Alarmschrei, in den ich mein Bestes gelegt habe, damit sich die langsame, aber unaufhaltsame Bildung des Menschheits-Vaterlandes vollziehe, bevor Niewiedergutzumachendes geschehen ist. ….
P.S. Seit diese Zeilen geschrieben sind, traten einige Entspannungssymptome in Erscheinung. Überall haben die Pazifisten ihre Stimme erhoben. Der Pulsschlag der Völker zeigte den Regierungen, daß das verhängnisvolle Fieber im Steigen begriffen ist: nun verabreichen sie Chinin. England weist die Bündnispolitik zurück. Mussolini legt die Trompete beiseite und spielt Flöte, Polen unterzeichnet den Schiedsgerichtsbarkeitspakt. Die Sowjetunion ist zur Teilhabe an den Erörterungen einer wirtschaftlichen Verständigung eingeladen. Briand erschöpft sich in erschütternden Mahnungen… Heißt das alles, daß die allgemeine Abrüstung nun gesichert ist? Nein. Ein blauer Fleck am Himmel bedeutet noch kein Ende des Gewitters. Es bleibt die Pflicht der Männer guten Willens, ihre Aufgabe unermüdlich weiter zu verfolgen! Denn nichts ist geändert an den tiefen Ursachen des Übels [Hervorhebung im Original]. Infolgedessen ist auch an den Forderungen dieses Buches nichts zu ändern. 23. Januar 1931"
In dem Buch »Die Verbrecher« macht Margueritte deutlich, daß die Herrscherfiguren nichts anderes sind als die Charaktermasken ihrer Staaten und ihres nationalen und damit unmittelbar verbundenen imperialistischen interesses: "Alle bezeichnen weniger die bluttriefenden Herrscher, die sie waren, als die Imperialismen, deren Abbild sie sind."

Das zweite Hauptthema, dem sich die Gebrüder Margueritte und insbesondere Victor widmeten, war die Situation der Frau. Dabei ist seine Trilogie hervorzuheben: Band 1 »La Garconne« »Die Junggesellin«, Band 2 »Le Compagnon« »Gefährten« und Band 3 »Le Couple« »Der Weg der Frau«. Leider fand lediglich der erste Band im Nachkriegsdeutschland eine Neuauflage (»Die Aussteigerin«, Suhrkamp Verlag — jedoch nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Filmtitel des Lebensberichts einer Prostituierten »Die Verweigerung« von Jeanne Cordelier). Nur ein weiteres Buch gelangte in der BRD zu einer Neuauflage, nämlich »Dein Körper gehört dir« (Ullstein-TB). Zusammen mit Paul schrieb er zum Thema Frau »Vanitas — Die Welt der Eitelkeiten« und »Zwei Frauenleben«.
Mit »Prisma« schrieben die Brüder eine Charakterstudie des jungen Mannes von heute. »In den femmes nouvelles [nicht auf dt. erschienen] haben wir den Versuch angestellt, auf die Französin übertragen, einige der Typen der new women zu skizzieren, wie sie für uns den Wechsel der Sitten und den langsamen Fortschritt bezeichnen. — Wir haben uns hier bemüht, neben dem uralten Egoismus des männlichen Geschlechts sowohl die Affenliebe der Mütter, die eines der Hauptlaster unserer häuslichen Erziehung bildet, als auch die verweichlichende Mitgiftjägerei, die ein Makel unserer zeitgenössischen Ehe ist, zu geißeln.« (Vorwort)
»Die Weltkinder«, »Die große Familie«, »Poum — Roman eines Knaben« sowie »Aristide Briand [u.a. Außenminister und Ministerpräsident]« sind weitere ins Deutsche übertragene Bücher eines weit umfangreicheren Gesamtwerks.

bluete