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Mór Jókai
 

Der Ungar Mór Jókai (1825-1904) [in alten deutschsprachigen Ausgaben: Maurus oder auch Moritz Jökai] war ein unglaublicher Verfasser und das beileibige nicht nur quantitativ (über 300 Werke). Noch weit mehr muß die Recherchearbeit erstaunen, die er sich für den realtätsgetreuen Inhalt beziehungsweise Inhaltsteil seiner Geschichten gemacht haben muß. Wirklichkeitsnähe schließt Gesellschaftskritik ein, ja fordert sie geradezu heraus. Ein glänzendes Beispiel ist der Roman »Die Narren der Liebe« (1868). »…Ich will mich lediglich über gesellschaftliche Gruppen äußern, deren gleiches Empfinden über gemeinsame Ideen sie dazu drängt, sich vereint um denselben Tisch zu setzen, deren Glieder sich einander aufsuchen, ohne speziell gute Freunde, und miteinander in Streit geraten, ohne eigentliche Feinde zu sein; und so wird der gemeinsame Gegenstand des Anreizes wie des Kampfes zur Grundlage ihres täglichen Lebens, während die außerhalb Stehenden diese Art von Tätigkeit als nichtig belächeln« (S.9) Es handelt sich dabei um eine ganze Anzahl ungarischer Klubs. Der Klub »Die Narren der Liebe« ist ein solcher. Er lobt fünfjährlich einen Preis für eben einen außerordentlichen Narren der Liebe aus. Nach der gleichsam einleitenden Vorstellung zweier solcher Esel beginnt der eigentlich Roman, der anhand der Triebkraft der Liebe ein ebenso vielschichtiges wie detailliertes Bild der damaligen Verhältnisse in Ungarn aufzeichnet.
Doch keineswegs allein Ungarn selber ist für Jókai von Interesse. »Die letzten Tage der Janitscharen« beispielsweise beleuchtet die Herrschaft Ali Paschas über weite Teile Griechenlands unter der osmanischen Herrschaft. Den Aufstieg von Ali Pascha bis zu seinem schmählichen Ende in Ioannina hat Jókai glänzend recherchiert, unter anderem mithilfe der Augsburger Allgemeinen, was er mehrmals in Fußnoten belegt. Ja, damals, in den 1820er Jahren hatte diese Zeitung offenkundig noch etwas auf sich gehalten und war nicht wie heute ein purer deutscher Propagandafetzen. 
An der Revolution von 1848/49 hatte er sich begeistert beteiligt, wurde darob verhaftet und eingesperrt. Seine Frau Rosa Laborfalvi bestach die Wächter und konnte ihn so befreien. Danach verlegte es sich auf seinen literarischen Tätigkeiten, wiewohl er lange Zeit aufgrund seiner publizistischen Popularität Abgeordneter (auf der antikonservativen Seite versteht sich) war. Seine Literatur war ja nicht weniger politisch und  bahnte fruchtbaren Boden für die ungarische Räterepublik 1919 sicherlich mit.
Mit den historisch-politischen Romanen Jókais kann, so fesselnd sie geschrieben sind, das Interesse an den gesellschaftlichen Verhältnissen und damit, bezogen auf heute, an ihrer Kritik erwachsen.
Wie so gut wie jeder gesellschaftskritische Schriftsteller ist Jókai hierzulande nahezu unbekannt (beim deutschen Bildungsangebot nicht weiter verwunderlich). So hat der Corvina Verlag in Budapest (noch unter der realsozialistischen Regierung) selbst einige Übersetzungen ins Deutsche vorgenommen. Noch eine bemerkenswerte Sentenz: »Ich mißachte allen Luxus, mit Ausnahme der Muße für Kopfarbeit. Die Meisten lieben Luxus, weil sie ihres Hirns entbehren können.«

bluete