Mohammed Hanif
Pakistan ist ein Staat, der etwa dreimal so viele Einwohner zählt wie die BRD. Das Bruttoinlandsprodukt, wichtiger Gradmesser der Stellung in der Staatenhierarchie, erreicht dagegen nicht einmal 5 % von dem der BRD. [Das Foto zeigt Ali Bhutto und Indira Gandhi, Shimla Pakt 1972, nach dem Bangladesh-Krieg; KoKa-Archiv]
Alles überwiegender Staatszweck ist seine Selbstbehauptung gegen den Nachbarn Indien. Daraus ergibt sich die starke Stellung der Streitkräfte, die einen Gutteil des geringen Geld-Reichtums des Landes für sich beanspruchen. Das ökonomische Zurückbleiben [trotz der seit 2002 rasanten Wachstumsraten haben die Anleger – laut Börsen-Newsv. 27.08.2007 – die Börse in Karachi nahezu ignoriert*] gegenüber dem zum Global Player aufgestiegenen Nachbarland tut ein Übriges, die Schlüsselstellung des Militärs zu zementieren.**
Einigendes Band des ganzen Staates ist der Islam, zumal wichtige Sprachen (Panjabi, Urdu) diesseits und jenseits der pakistanisch-indischen Grenze gesprochen werden. Auf der anderen Seite des Landes, nach Afghanistan hin, ging es lange Zeit vergleichsweise unproblematisch zu. Auch hier werden Sprachen diesseits und jenseits der Grenzen gesprochen (Paschtu, Balutschi), doch die Religion ist die gleiche.
Die Wirtschaft selbst wird – wie sollte es anders sein? – von einer Bourgeoisie bestimmt, deren Clans sich allenthalben mit Religion und Militär ins Benehmen setzen müssen, ob sie das nun wollen oder nicht. Bekanntester und alle anderen überragender dieser Clans, deren Korruptheit also der Notwendigkeit und nicht dem schlechten Charakter geschuldet ist, ist der Bhutto-Clan. Großgrundbesitzer Zulfiqar Ali Bhutto hatte 1967 seine Machtambitionen mit der Gründung einer populistischen Partei, der Pakistan Peoples Party unterstrichen. Als Pakistan nach der Niederlage im Krieg gegen Indien einen neuen Aufbruch suchte, fiel ihm die Macht 1971 sozusagen in den Schoß. 1972 führte er dann seine Partei zum Wahlsieg und 1973 ließ er eine neue Verfassung verabschieden.
Freilich dauerte es nicht lange, bis das Militär sich wieder berappelte und die Machtfrage wiederum in seinem Sinne entschied. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Berechnung, die der putschende General Mohammed Zia ul-Haq und sein Inlandsgeheimdienst ISI (Inter Services Intelligence) bezüglich den USA vornahmen. Und sie hatten sich nicht getäuscht. Mag es 1977 auch noch nicht offenkundig danach ausgesehen haben, nach dem Einmarsch der UdSSR in Afghanistan wußte man sich als unverzichtbare Hilfskraft der USA zur Eindämmung des Kommunismus. Die USA wußten die Rolle Zia ul-Haqs entsprechend zu schätzen. So konnte Pakistan seine eigenen Ambitionen unter den Fittichen der USA vorantreiben; während die USA zusammen mit Pakistan die afghanischen Mujaheddin unterstützten, versuchte Zia den Jihad im eigenen Land durchzusetzen (symbolisch wurde die Retortenstadt Islamabad vor den Toren von Rawalpindi endlich zur neuen Hauptstadt erklärt), führte die Scharia ein, konfrontativ gerade gegen die, die aufgrund ihrer ökonomischen Ambitionen viel eher den USA nahestanden als er selber. Das führte zu der etwas kuriosen Situation, daß ausgerechnet diese Kreise – hier ist wiederum der Bhutto-Clan hervorzuheben; Zulfiqars Tochter Benazir riskierte von nun an eine dicke Lippe – gar nicht gut auf die USA zu sprechen waren. Auf der anderen Seite war auch längst nicht allen Mullahs die Instrumentalisierung der Religion für staatliche Belange recht und billig, ihnen mußte eine solche geradezu als Entwürdigung der Religion erscheinen.
Das Buch des Pakistani Mohammed Hanif (*1965) "Eine Kiste explodierender Mangos" erzählt mehr der Realität entnommenes aus der Ära Zia ul-Haqs als er selber zuzugeben bereit ist. Nichtsdestotrotz und gerade deshalb wohl ist das Buch in Pakistan verboten, unter der Hand kursiert jedoch eine in Indien verlegte Ausgabe auf Urdu. –
Hoch interessant die Rolle des CIA, auf den sich dieser ganze Staat als Dreh- und Angelpunkt zu beziehen hat(te), so sehr, daß die Neu-Kalkulation der USA nach Abzug der Sowjets aus Afghanistan mit all ihren Konsequenzen, wenn überhaupt, sehr spät erst bemerkt wurde. Bis heute jedenfalls ist der Absturz der Pak One-Maschine am 17.08.1988 ungeklärt. Neben Zia ul-Haq war fast die gesamte "Lametta-Riege", u.a. auch Geheimdienstchef General Akhtar, an Bord, ebenso US-Botschafter Arnold Raphel. Das Buch ventiliert einige Möglichkeiten der Hintergründe, legt sich aber letztlich nicht auf eine Version fest. Die vielfältigen Kalkulationen in der pakistanischen Gesellschaft*** selber kontrastieren scharf mit dem stringenten Vorgehen der USA und ihrem Interesse an Pakistan; an einem Pakistan, das sich für sie benutzen läßt und seine eigenen Kalkulationen an denen der USA auszurichten hat. Also ein typischer Fall von US-Imperialismus hier wie überall auf der Welt. Dafür spielt es für die USA dann auch keine Rolle, ob gerade mal eine Militärregierung oder eine zivile ihr "Verhandlungs"partner ist.
Nachdem Zia also 1988 ums Leben gekommen war, war mal wieder der Weg frei für eine zivile Regierung. Die Wahlen gewann – wie könnte es anders sein – die "Freiheits"kämpferin Benazir Bhutto. Doch schon bald machten ihr schwerwiegende Korruptionsvorwürfe zu schaffen. 1990 übernahm Nawaz Sharif von der Muslimliga die präsidialen Amtsgeschäfte; sie kehrte zwar 1993 noch einmal ins Amt zurück, wurde aber erneut von Nawaz Sharif 1997 endgültig aus dem Amt gedrängt. Lange sah das Militär dem Treiben zu, bis es 1999 unter General Pervez Musharraf putschte, um das Land aus der Dauer-Krise zu führen. Wiewohl die Bhutto-Partei in Regierung und Parlament den Ton angab (freilich nicht mit absoluter Mehrheit), blieb er bis 2008 Präsident: Das macht die Geteiltheit des Landes, was seine militärische und politisch-ökonomische Führung anbelangt deutlich. Am 09.09.08 trat Asif Ali Zardari, Witwer Benazirs und PPP-Vorsitzender, das Präsidentenamt an, nachdem Musharraf eine "Nationale Versöhnungsverordnung"**** erlassen hatte. Zardari verdankte diese Ehre des Militärs seinen gesellschaftlich integrativen Bemühungen, was ihm später dann auch erlaubte, mit dem neuen islamistischen Wahlbündnis Muttahida Majlis-e-Amal (MMA), welches 2002 von Musharraf aus der Taufe gehoben wurde, ganz im Sinne der USA zu brechen, ohne um sein Amt seitens des Militärs gleich wieder ernsthaft fürchten zu müssen.
Präsident Musharraf suchte übrigens das Gespräch mit Benazir Bhutto bezüglich einer Machtbeteiligung schon im Juli 2007 (in Abu Dhabi), welches sie im September für gescheitert erklärte. Benazir Bhutto überlebte daraufhin, aus dem Exil zurückgekehrt, am 19.10.2007 einen Anschlag, doch selbst die Tatsache, daß sie am 9.11.07 unter Hausarrest gesetzt wurde, nachdem sie versucht hatte, das Land mit dem Aufruf zu Massenprotesten zu destabilisieren, war ihr nicht Warnung genug. Am 27.12.07 wurde sie bei einem Attentat zerfetzt, was dazu führte, daß sich eine große Masse mit ihrer Partei solidarisierte und die Parlamentswahlen im Januar 2008 von der PPP gewonnen wurden.
In dem Buch Hanifs findet sich auch ein Verweis auf Indira Gandhi, die im Nachbarland ebenfalls einem Anschlag zu Opfer fiel (1984), weil sie die Gefahr, die von einem militanten Teil der Religionsgemeinschaft der Siks ausging, nicht wahrhaben wollte. Bekanntlich sah sie keinen Grund aus ihrer Leibwache die Siks zu entfernen, obschon jene in den Jahren zuvor zur Offensive geblasen hatten und entsprechend vom indischen Staat die Quittung erhielten. Zia ul-Haq war bei den Beisetzungsfeierlichkeiten zugegen, was seine Abneigung gegen den Hinduismus verschärfte. [Auf dem Foto: Zulfiqar Ali Bhutto, Indira Gandhi und Zulfiqars 19-jährige Tochter Benazir, 03.07.72, anläßlich des Simla-Übereinkommens bezüglich Bangla Desh und Kaschmir]
Kurzum, die Tatsache, daß die USA auf die zuvor geförderten islamischen Fundamentalisten in Afghanistan, die ihre antikommunistische Pflicht und Schuldigkeit getan hatten, pfiffen und ihnen die Unterstützung entzogen, warf für Pakistan die Frage auf, worauf man, wollte man weiter auf die USA als Verbündeter setzen, zählen konnte. In den 1990er Jahren war das eine weitgehend offene Frage und erst mit der Kriegserklärung an Al Qaida war das Ausmaß klar, in welchem Dilemma der Staat steckte. Explizit wurde das nochmal durch den US-Diktat unterstrichen, das aus Pakistan einen "Hauptverbündeten außerhalb der NATO" machte (2004). Gerade die Grenze zu Afghanistan, die im Gegenzug zur indischen geradezu unproblematisch war, wurde zum Problem, das die ganze Staatsräson, seinen Träger, das Militär, und seine einigende Religion, infrage stellte und bis heute infrage stellt. Musharraf hatte das 2001 schnell begriffen, die Taliban fallengelassen und sich vom Fundamentalislam distanziert. Er verfolgte eine Politik strikter Unterordnung der Religion unter den Staat ("aufgeklärte Mäßigung") und schickte 2004 dann auch erstmals Truppen in die Gebiete der islamischen Fundamentalisten in die Grenzregionen zu Afghanistan.
Der Antiamerikanismus vertieft sich erneut und muß sich vertiefen, weil die USA dem pakistanischen Staat keinerlei Angebote für dessen Probleme machen. Das einzige, was Pakistan erhält sind Waffen, von denen es freilich noch nicht einmal in eigener Hoheit Gebrauch machen kann und soll.
Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung, arm und von der Hand in den Mund lebend, hat im Grunde nur eine Chance: Es muß einem beizeiten gelingen, in den Staatsdienst zu treten. So sind gleichsam Militär und Polizei die Schule einer ganzen Nation. Andersherum: Das Bildungsniveau der aus solcherart Schule hervorgehenden Größen der Nation ist entsprechend. Hanif erlaubt sich Zia ul-Haq zum Gespött zu machen und das scheint auch das einzig Makabre an dem Buch zu sein: Hier schlägt seine Profession als BBC-Reporter durch, dem bei allem Verständnis diese Tatsache der Dummheit völlig unhaltbar anmutet.
Im übrigen erfährt man auch, daß es Linke gibt, Maoisten und dergleichen, die den Staat für's und im Namen des Volkes retten wollen, deren Zerwürfnisse untereinander in der richtigen – opportunistischen – Haltung zu Staat beziehungsweise zum Volk liegen und die sich darob das Leben selber schwerer machen, als es der Hochsicherheitstrakt, die alte Festung von Lahore – erbaut übrigens vom Baumeister des indischen Taj Mahal, dem Mogulkönig Shahjahan -, ohnehin erlaubt.
[25.12.09]
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* Der Institutional Investor sieht im Dez. 2009 folgende Rangliste der Kreditwürdigkeit (Auszug): 6. BRD, 11. USA, 51. Indien, 137. Bangla Desh, 138. Nepal, 143. Pakistan, 144. Irak, 145. Ost-Timor, 166. Afghanistan (von 178)
** "Doch auch der eifrigste IWF-Bürokrat wird im pakistanischen Haushalt kaum Sozialausgaben finden, die noch gekürzt werden können. Die Gesundheit läßt sich die Regierung umgerechnet 30 Eurocent pro Kopf kosten; und selbst wenn Pakistan in Zukunft gar nichts mehr für die Bildung ausgäbe, würde das nur 200 Millionen US-Dollar einbringen." (analyse & kritik, 21.11.2008)
*** Die Vielfältigkeit zeigt sich an den Meinungsverschiedenheiten in so mehr oder weniger profanen Dingen wie Frage: Asha oder Lata? [zwei populäre indische Sängerinnen], an der Frage Kaffee oder Tee?, Cola oder Pepsi?, Maoist oder Leninist?, Shia oder Sunna? [Glaubensrichtungen des Islam]. (Hanif, S. 88)
**** Wie die indische Nachrichtenagentur PTI [Press Trust of India] am 22.12.09 meldete, verteidigte Musharraf die NRO [National Reconciliation Ordinance] als im besten nationalen Interesse unter schwierigsten Umständen zustandegekommen; die damit verbundene Amnestie, die vom obersten Gerichtshof aufgehoben wurde, sei jedoch ein Fehler gewesen. Allerdings: "NRO is not responsible for corrupt politicians sitting in assemblies, or being appointed as ministers. All this happened through the votes of the people of Pakistan. NRO is not responsible for all parliamentarians of provincial and national assemblies and Senate having overwhelmingly voted for Asif Zardari as President."
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In deutscher Sprache erschienene Werke Hanifs:
Eine Kiste explodierender Mangos, A1 Verlag
Alice Bhattis Himmelfahrt, A1 Verlag
Rote Vögel, Hoffmann & Campe Verlag