Wiglaf Droste
"neues vom wahlfang" von Wiglaf Droste (1961-2019) (taz 19.08.2005):
Wahlkampfzeiten sind harte Toleranzproben für alle, die noch nicht in der Gnade leben, das Hörgerät ausstellen zu können. Der Heuchelpegel, ohnehin chronisch im roten Bereich, steigt ins Unermeßliche, ein Gargel und Gejabbel hebt an, daß man die Ohren einrollen und zusammenknüllen möchte. Günter Grass, der Butt mit Stinkepfeife, hausmeistert wieder durchs Land; wie Uranus in Schlappen und Bademantel schlurft er durchs ewige Ollenhauer-Haus und knöttert vor sich hin: SPD, SPD! Weil Grass die Futterluke nicht geschlossen halten kann, tischt er zum hundertsten Mal die Einschüchterungsfrase auf, niemand dürfe jetzt schweigen, und für die Folklore hat er den Betriebsmitmischer Feridun Zaimoglu angemietet. Sozialdemokratische Langeweiler heulen über "Politikverdrossenheit", und ihre Journalisten finden das "unglaublich spannend". Wie doof darf man eigentlich sein in Deutschland?
Fortlaufen möchte man, in den Wald, zu den Steinpilzen und den anderen glücksverwöhnten Wesen, denen die Namen Schröder, Merkel et cetera nichts sagen. Doch während man schon sein Bündel schnürt, hört man so unglaublich freundliches, heiteres Gekichere, daß man innehält. Zwei Frauen, der Klangfarbe ihrer Stimmen nach aus Mecklenburg stammend, prusten sich zu: "Hast du heute Abend Zeit?" – "Nee du, leider nicht, ich muß meine Kinder erwürgen, und du weißt ja, das dauert."
Weise und milde humorvoll ist diese Reaktion auf Jörg Schönbohms Umnachtungsgeknattere von Zwangsproletarisierung, Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft in der ehemaligen DDR. Wer das ernsthaft zurückwiese, zöge sich den Schuh ja schon halb an oder suggerierte, es könne auch nur irgendetwas daran sein. Ich lausche weiter: "Die hat ihre Kinder erstickt? Komisch – ich hab meine immer ersäuft." Und dann gnickern die beiden ganz reizend und küssen ihre Kinderchen.
Die Spielregeln der Demokratie heißen: Alle vier Jahre schön Kreuzchen machen, ansonsten wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Die Westdeutschen haben das tief verinnerlicht und fühlen sich den Ostdeutschen deshalb überlegen. Die müssen erst noch lernen, was Pluralismus wirklich bedeutet: Eintönigkeit und Gleichförmigkeit.
Zum Anklammerglauben, daß es etwas zu wählen gäbe, soll ihnen die Linkspartei/PDS verhelfen. Gregor Gysi und Oskar Lafontaine führen das Protestpotenzial in den Hafen der Demokratie – dort geht es vor Anker oder läuft gleich für immer konsensfähig auf Grund. Statt die Linkspartei und ihre Kandidaten zu beschimpfen, müßte die ausgeleierte Konkurrenz ihnen dankbar sein: Dank dieser Leute wird die Wahlbeteiligung auch in diesem Jahr noch einmal bei mehr als 50 Prozent liegen – und nicht bei 0,1 Prozent, was eine angemessene Reaktion wäre auf den Schangel, der einem angeboten wird.
So aber werden auch die PDS-/Linkswähler am Wahlabend vor den Volksempfängern liegen und sich wie die Schneekönige über jedes Prozentpünktchen freuen – ihre Delegierten sind Teil des Kartells, und sie selbst sind absorbiert. Wie sagte der Dichter Joachim Ringelnatz:
"Und dann lächelt alles froh / Im statistischen Büro."
Bücher von Wiglaf Droste, so treffend kritisch seine Stories mitunter sind, oftmals lassen sie doch ein profunderes Wissen vermissen; so ehrlich sie auch gemeint sind, kommt eben mitunter zu fehlerhaften Einschätzungen:
Kommunikaze, Berlin 1989
In 80 Phrasen um die Welt, Hamburg 1992
Mein Kampf, Dein Kampf, Hamburg 1992
Am Arsch die Räuber, Hamburg 1993
Sieger sehen anders aus, Hamburg 1994
Brot und Gürtelrosen und andere Einwürfe aus Leben, Literatur und Lalala, Berlin 1995 [Die Breitseite gegen Gerhard Zwerenz darin ist wohl deshalb so schwachsinnig, weil er dessen Werk nur sehr auszugsweise kennt!]
Der Barbier von Bebra, Hamburg 1996 (zusammen mit Gerhard Henschel)
Begrabt mein Hirn an der Biegung des Flusses, Hamburg 1997
In welchem Pott schläft Gott?, Hamburg 1998 (zusammen mit Rattelschneck)
Bombardiert Belgien! & Brot und Gürtelrosen, Berlin 1999
Zen-Buddhismus und Zellulitis, München 1999
Der Mullah von Bullerbü, Hamburg 2000 (zusammen mit Gerhard Henschel)
Die Rolle der Frau und andere Lichtblicke, Berlin 2001
Der infrarote Korsar, Berlin 2003
Wir sägen uns die Beine ab und sehen aus wie Gregor Gysi. Berlin 2004
Nutzt gar nichts, es ist Liebe. Leipzig 2005
Kafkas Affe stampft den Blues. Verlag Klaus Bittermann, Berlin 2006,
Wurst (zusammen mit: Vincent Klink, Nikolaus Heidelbach), Köln 2006, (Rezensionen in WamS und Eßlinger Zeitung)
Will denn in China gar kein Sack Reis mehr umfallen? Edition Tiamat, Berlin 2007