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Bertolt Brecht
(1898-1956)

 

»Schlimmer ist, daß bei Meinungsfreiheit nie darüber geredet wird, wie man eine Meinung kriegen kann. Zuerst müßt ich doch instand gesetzt werden, daß ich mir eine Meinung bilde. Wenn es aber Leute gibt, die dagegen sind und die Druckerpressen, den Nachrichtenapparat, die Schreiber und das Papier besitzen, nützt es mir nicht, wenn mir erlaubt wird, daß ich eine Meinung aussprechen darf.« (Flüchtlingsgespräche, Ges. Werke Bd. 14, S. 1509)

 

Der anachronistische Zug oder FREIHEIT und DEMOCRACY (1947)

Frühling wurd's in deutschem Land
Über Asch und Trümmerwand
Flog ein erstes Birkengrün
Probweis, delikat und kühn.

Als von Süden, aus den Tälern
Herbewegte sich von Wählern
pomphaft ein zerlumpter Zug
Der zwei alte Tafeln trug.

Mürbe war das Holz von Stichen
Und die Inschrift sehr verblichen
Und es war so etwas wie
FREIHEIT und DEMOCRACY.

Von den Kirchen kam Geläute.
Kriegerwitwen, Fliegerbräute
Waise, Zittrer, Hinkebein –
Offnen Maules stand's am Rain.

Und der Blinde frug den Tauben
Was vorbeizog in den Stauben
Hinter einem Aufruf wie
FREIHEIT und DEMOCRACY.

Vornweg schritt ein Sattelkopf
Und er sang aus vollem Kropf:
"Allons, enfants, god save the king
Und den Dollar, kling, kling, kling."

Dann in Kutten Schritten zwei
Trugen 'ne Monstranz vorbei.
Wurd die Kutte hochgerafft
Sah hervor ein Stiefelschaft.

Doch dem Kreuz dort auf dem Laken
Fehlen heute ein paar Haken
Da man mit den Zeiten lebt
Sind die Haken überklebt.

Drunter schritt dafür ein Pater
Abgesandt vom Heiligen Vater
Welcher tief beunruhigt
Wie man weiß, nach Osten blickt.

Dicht darauf die Nichtvergesser
Die für ihre langen Messer
Stampfend in geschloßnen Reihn
Laut nach einer Freinacht schrein.

Ihre Gönner dann, die schnellen
Grauen Herrn von den Kartellen:
Für die Rüstungsindustrie
FREIHEIT und DEMOCRACY!

Einem impotenten Hahne
Gleichend, stolzt ein Pangermane
Pochend auf das freie Wort.
Es heißt Mord.

Gleichen Tritts marschiern die Lehrer
Machtverehrer, Hirnverheerer
Für das Recht, die deutsche Jugend
Zu erziehn zur Schlächtertugend.

Folgen die Herrn Mediziner
Menschverächter, Nazidiener
Fordernd, daß man ihnen buche
Kommunisten für Versuche.

Drei Gelehrte, ernst und hager
Planer der Vernichtungslager
Fordern auch für die Chemie
FREIHEIT und DEMOCRACY.

Folgen, denn es braucht der Staat sie
Alle die entnazten Nazi
Die als Filzlaus in den Ritzen
Aller hohen Ämter sitzen.

Dort die Stürmerredakteure
Sind besorgt, daß man sie höre
Und jetzt nicht etwa vergesse
Auf die Freiheit unsrer Presse.

Einige unsrer besten Bürger
Einst geschätzt als Judenwürger
Jetzt geknebelt, seht ihr schreiten
Für das Recht der Minderheiten.

Früherer Parlamentarier
In den Hitlerzeiten Arier
Bietet sich als Anwalt an:
Schafft dem Tüchtigen freie Bahn!

Und das schwarze Marketier
Sagt, befraget: Ich marschier
Auf Gedeih (und auf Verberb)
Für den freien Wettbewerb.

Und der Richter dort: zur Hetz
Schwenkt er frech ein alt Gesetz.
Mit ihm von der Hitlerei
Spricht er sich und alle frei.

Künstler, Musiker, Dichterfürsten
Schrei'nd nach Lorbeer und nach Würsten
All die Guten, die geschwind
Nun es nicht gewesen sind.

Peitschen klatschen auf das Pflaster:
Die SS macht es für Zaster
Aber Freiheit braucht auch sie
FREIHEIT und DEMOCRACY.

Und die Hitlerfrauenschaft
Kommt, die Röcke hochgerafft
Fischend mit gebräunter Wade
Nach des Erbfeinds Schokolade.

Spitzel, Kraft-durch-Freude-Weiber
Winterhelfer, Zeitungsschreiber
Steuer-Spenden-Zins-Eintreiber
Deutsches-Erbland-Einverleiber

Blut und Dreck in Wahlverwandtschaft
Zog das durch die deutsche Landschaft
Rülpste, kotzte, stank und schrie:
FREIHEIT und DEMOCRACY!

Und kam, berstend vor Gestank
Endlich an die Isarbank
Zu der Hauptstadt der Bewegung
Stadt der deutschen Grabsteinlegung.

Informiert von den Gazetten
Hungernd zwischen den Skeletten
Seiner Häuser stand herum
Das verstörte Bürgertum.

Und als der mephitische Zug
Durch den Schutt die Tafeln trug
Treten aus dem Braunen Haus
Schweigend sechs Gestalten aus

Und es kommt der Zug zum Halten.
Neigen sich die sechs Gestalten
Und gesellen sich dem Zug
Der die alten Tafeln trug.

Und sie fahrn in sechs Karossen
Alle sechs Parteigenossen
Durch den Schutt, und alles schrie:
FREIHEIT und DEMOCRACY!

Knochenhand am Peitschenknauf
Fährt die Unterdrückung auf.
In 'nem Panzerkarr'n fährt sie
Dem Geschenk der Industrie.

Groß begrüßt, in rostigem Tank
Fährt der Aussatz. Er scheint krank.
Schämig zupft er sich im Winde
Hoch zum Kinn die braune Binde.

Hinter ihm fährt der Betrug
Schwenkend einen großen Krug
Freibier. Müßt nur, draus zu saufen
Eure Kinder ihm verkaufen.

Alt wie das Gebirge, doch
Unternehmend immer noch
Fährt die Dummheit mit im Zug
Läßt kein Auge vom Betrug.

Hängend überm Wagenbord
Mit dem Arm, fährt vor der Mord.
Wohlig räkelt sich das Vieh
Singt: Sweet dreams of liberty.

Zittrig noch vom gestrigen Schock
Fährt der Raub dann auf im Rock
Eines Junkers Feldmarschall
Auf dem Schoß einen Erdball.

Aber alle die sechs Großen
Eingeseßnen, Gnadelosen
Alle nun verlangen sie
FREIHEIT und DEMOCRACY.

Holpernd hinter den sechs Plagen
Fährt ein Riesentotenwagen
Drinnen liegt, man sieht's nicht recht:
's ist ein unbekannt Geschlecht.

Und ein Wind aus den Ruinen
Singt die Totenmesse ihnen
Die dereinst gesessen hatten
Hier in Häusern. Große Ratten

Schlüpfen aus gestürzten Gassen
Folgend diesem Zug in Massen
Hoch die Freiheit, piepsen sie
FREIHEIT und DEMOCRACY!

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Brecht wird Klassiker

Die Heimholung eines kommunistischen Dichters in das nationale Kulturerbe
 

Am 10. Februar [1998] wäre Bertolt Brecht 100 Jahre alt geworden. Das Datum hätte sich ohne weiteres ignorieren oder zur 1001sten Verhetzung des Kommunismus nutzen lassen. Es gibt genug, was sich dem Nationaldichter der DDR nachsagen ließe: Daß er in Theaterstücken den Verteidigungskrieg seines Blocks gegen den Westen und die leninistische Parteidisziplin bejahte, daß er dem falschen Deutschland die Treue auch nach dem 17. Juni 1953 noch hielt und vieles mehr. Ansätze zu einem persönlichen Schwarzbuch hat es im Vorfeld des runden Geburtstags ja auch gegeben: Da wurde die nötige Aufklärung über den linken Macho geboten, der die schriftstellerische Hauptarbeit seinen Weibern überließ, deren er stets mehrere hatte. Herausgebracht hat er die Produkte seiner Auftragsarbeiten natürlich unter eigenem Namen. Aber diese Wahrheiten werden allesamt weggefegt von dem gewaltigen Lob, die von höchster Stelle angesagt ist. Es hagelt Superlative: "Das Größte, was Bayern auf dem Feld der Dichtung hervorgebracht hat", "der größte deutsche Dramatiker" nämlich, bildet zusammen um Thomas Mann und Franz Kafka "das Dreigestirn der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert".
Das hohe Lob ist einigermaßen erstaunlich, denn die Festredner, Bundespräsident Herzog in der neuen Hauptstadt Berlin – der letzten Wirkungsstätte Brechts – und der bayrische Ministerpräsident Stoiber in Augsburg – dem Geburtsort des frischgebackenen Klassikers -, halten nichts von den Ideen, die der politische Dichter in Reime goß, und nichts von den Konflikten und Theorien, die er zu Lehrstücken verarbeitete: "Meine politischen Zielvorstellungen haben mit denen Bert Brechts wenig gemein" (Stoiber), zumal er "zur Vernebelung der Wahrheit über ein totalitäres Regime beigetragen hat". Aber auch seine künstlerischen Formen und Techniken sagen den Lobrednern nichts. Laudator Stoiber hält sich nicht auf mit Einlassungen über das epische Drama und den V-Effekt und bekennt rundheraus, "nicht gerade ein großer Brecht-Kenner" zu sein. Muß der Mann auch nicht. Er ist (Minister-)Präsident, er muß den Dichter nicht kennen, über den er redet. Zum deutschen Klassiker bereiten berufenere Fachleute den Dichter mit dem falschen politischen Bekenntnis auf.
 – Es kommt dem Bemühen der Interpreten in Wissenschaft und Feuilleton sehr entgegen, daß der Dichter Brecht älter ist als der Kommunist. Sie teilen uns mit, daß wir seine unpolitischen Sturm- und Drangwerke – voll von expressionistischem Lebenshunger, humorvollem Pessimismus und deftigen Gesängen im Stil der Vaganten – heute sehr mögen. Besonders aber seine Liebeslyrik.
– Der lebensgeschichtliche Werdegang spricht auch dafür, daß seine politische Wende zum Kommunismus als ein Stück dichterische Provokation aufzufassen ist: Manche mutmaßen gar, er habe sie aus Ärger vollzogen über das große Vergnügen, das seine Dreigroschenoper ausgerechnet den Gutbetuchten bereitete. Natürlich kann auch die Motivlage den Fehltritt nicht korrigieren: "Mit den politischen Stücken habe nicht nur ich meine Schwierigkeiten", ist da noch eine zurückhaltende Auskunft. "Die Lehrstücke kann man ästhetisch vergessen." Ja, ausgerechnet ästhetisch! Brecht hat sie vermutlich auf Geheiß der Partei verfaßt, vielleicht um ihren Spitzeln zu entgehen und Mißtrauen gegen sich zu beschwichtigen. Das ist jedenfalls nicht der Dichter, den wir ehren. Oder vielleicht doch? Wenn schon die furchtbare politische Verirrung, der damals leider viele, auch verantwortungsbewußte und intellektuelle Zeitgenossen verfielen, verziehen wird, dann nicht ohne die Entdeckung, daß der Begnadigte ein Opfer der Zensur, der ideologischen und künstlerischen Gängelung durch die Bürokraten genau der Partei war, deren Standpunkt er kritisch besang.
– Sein Spätwerk erkennen wir jedenfalls eindeutig als einen Akt des Widerstands gegen die SED. In den anerkannten Dramen – "Mutter Courage", "Galileo Galilei" und im "Kaukasischen Kreidekreis" – finden wir, wenn wir das Politische weglassen, ohne Schwierigkeit unseren eigenen Humanismus verewigt: Daß der kleine Mann mit seinem bedingungslosen Durchhaltewillen allzuoft der Angeschmierte ist und Besseres verdient hätte; daß wahre Verantwortung auch Widerstand gegen die Mächtigen erfordert, leider aber praktisch nicht zu empfehlen ist; daß Liebe und Verzichtsbereitschaft mehr wiegen sollten als Besitztitel – wer wollte da widersprechen?
Mit etwas gutem Willen läßt sich aus dem kommunistischen Literaten und Anhänger der Ostzone der deutsche Dichter machen, "auf den wir in Deutschland stolz sein können und dem wir viel verdanken". Weil es nun einmal sein soll, findet Herzog Lebensweg und Werk des Dichters mitsamt der eingeräumten Irrungen und Wirrungen ziemlich deutsch und ziemlich repräsentativ für das schlimme Jahrhundert, das endlich zuendegeht. Brechts Kritik am kapitalistischen Vaterland und seine Absage an den dazugehörigen Patriotismus betont der Vorsteher desselben nur ein klein wenig anders: "Er setzte sich sein Leben lang für ein besseres Deutschland ein." – Für Deutschland hat er sich eingesetzt, der gute Mann! Die Heimholung ist also möglich – und sie hat mit Brecht und den Kunstwerken, die er verbrochen hat, gerade so viel zu tun, wie Literaturinterpretationen mit Literatur eben zu tun haben.
Und sie hat offenbar sein müssen. Das vereinigte, von seiner Zerrissenbeit, d.h. seiner weltpolitischen Schwäche geheilte Deutschland zeigt sich großzügig. Es blickt zurück auf die Spaltung und den historischen Irrweg, an dessen Verurteilung nichts zurückgenommen wird. Vom Standpunkt des historischen Siegers aus wird die nationale Geschichte dieses Jahrhunderts wieder angeeignet. Im Rahmen der Brecht-Feiern räumt man sogar einige wenig elegante Überreaktionen gegen die Bedrohung aus dem Osten ein, über die wir heute nur mehr den Kopf schütteln können: Der neue deutsche Klassiker war in den wilden Jahren des Kalten Krieges im freien Westen verboten. Aber jetzt gehört er wieder "uns" – allen Deutschen!
Das ist ein Angebot an die Ossis, die sich immer wieder beklagen, daß von ihrer DDR so gar nichts in das neue Deutschland übernommen und ihnen die Westkultur mit deren Ellenbogenwerten übergestülpt wurde. Das Gute aus der DDR findet jetzt doch Eingang ins Gesamt-Deutschland. Die eingesackten Neubürger dürfen sich in dem auch ein wenig kulturell aufgehoben fühlen und müssen ihre Biografie doch nicht ganz umschreiben. Wenn – natürlich nur wenn – sie es halten wie wir mit Brecht: Das Politische streichen wir und vergessen es schleunigst; das humanistische Erbe – die Kleine-Leute-Moral – dürfen wir dafür um so lauter singen. Brecht – der erste und wahrhaft gesamtdeutsche Dichter. Einen schönen Dienst darf der tote Verräter dem Vaterland da leisten.

Dieser Artikel erschien in den Zeitschriften GegenStandpunkt 1-1998 und Dreigroschenheft 3-1998 zum 100. Geburtstag des Dichters.
 

6-bändige Reihe bei suhrkamp im Hosentaschenformat:
1 Georg M. Oswald: Bertolt Brecht – Kapital
2 Charles Schumann: Bertolt Brecht – Rausch  
3 Thea Dorn: Bertolt Brecht – Verbrechen
4 Albert Ostermaier: Bertolt Brecht – Musik
5 Maxim Biller: Bertolt Brecht – Verrat
6 Feridun Zaimoglu: Bertolt Brecht – Verführung
Gesamtausgabe der Brecht-Werke ebenfalls in diesem Verlag erschienen.

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