Folgerungen aus der Krise:
(Selbst-)Täuschungen über eine lebendige Klassengesellschaft
Im Grunde wissen sie schon alles, was es mit dem Leben unter den gegebenen kapitalistischen Verhältnissen auf sich hat, gerade die Leser der Blöd-Zeitung. Deshalb ist es auch einerlei, ob sie ihr Blatt heute mal kaufen und morgen mal wieder nicht. Hin und wieder muß es freilich sein, dann nämlich, wenn des Lesers Weltbild eine Versicherung braucht, daß es allen aktuellen Widrigkeiten zum Trotze schwer in Ordnung geht.
Nicht viel anders verhält es sich mit Lesern, deren Gemüter von anderen Tageszeitungen oder von wöchentlich erscheinenden Magazinen bewegt werden. Der einzige Unterschied mag sein, daß sie an einem wirklich fundiertem Weltbild Interesse haben — die Boulevardpresse ist ihnen zu »seicht«. Sie vermissen diese Fundierung des Weltbildes, welches in ihrem nationalen Standpunkt, ihrer nationalen Parteinahme besteht, bei den aus ihrer Sicht nur allzu leicht manipulierbaren Lesern einer Boulevardzeitung. So kann man trefflich darüber streiten, welcher Meinungsmacher das national am härtesten gesonnene Publikum hat. Stärkstes Argument ist dabei übrigens der überall gepflegte Personenkult, die Präsentation deutscher Führungsgrößen vorzüglich gleich auf der Titelseite: Die Spitze eines Propaganda-Wettbewerbs sondergleichen: Was unter dem Begriff »Pluralismus« der Kritik bekanntlich entzogen ist. Für einen gestandenen Nationalisten steht und fällt die Nation allenthalben mit ihrer Führung. Dabei ist es genau umgekehrt: Die Köpfe stehen oder fallen mit dem nationalen Erfolg. Symptomatisch dafür ein regelmäßig erstelltes Politbarometer.
So sehr sich der demokratische Journalismus also um den nationalen Bewußtseinszustand der Staatsbürger sorgt und ihn bedient, so wenig muß sich die Politik den Kopf darüber zerbrechen. Sie tut das freilich nichtsdestotrotz. Zum Beispiel so: Anstatt vom steten Rückgang der Beteiligung an von ihr anberaumten Wahlen zu den Volksvertretungen auf die Stabilität der demokratischen Herrschaftsverhältnisse zu schließen — schließlich erachten immer mehr Berechtigte ihre Stimmabgabe eben deshalb für überflüssig —, machen sich die Politikerköpfe schwere Sorgen eben darob. Ganz so, als ob ihre Herrschaft von Wahlen, diesem ihrem Schmuckstück, und ihrer Verehrung abhängig wäre*! Hierzulande sind, bislang jedenfalls, keine Wahlfälschungen größeren Umfangs nötig, damit auch wirklich die richtigen Personen, also wirklich Erfolg versprechende mit der Regierung beauftragt werden. Übrigens ein großes Verdienst der »freien Presse«, welche sich selber solcher Qualität halber zu loben nicht müde wird.
Die Sorge um die nationale Parteilichkeit ihrer Untertanen fällt zusammen mit der Sorge um die Form, die Staatsform, heute: um die Demokratie. Das paßt schön zusammen. Was keineswegs heißt, diese Sorge würde immer zu einheitlichen Schlüssen bezüglich der Staatsräson führen. Die letzte Finanz- und Wirtschaftskrise, die nach wie vor schwelt, an der nach wie vor herumlaboriert wird, führt das vor Augen.
Denn nichts weniger als das nationale Projekt schlechthin steht auf dem Spiel: Der Erfolg einer freien Wirtschaft soll dem Staat die Mittel abwerfen, die er für seine Macht, deren Aufrechterhaltung wie deren Ausbau, benötigt und auf die er Anspruch erhebt. Kaum ist eine größere Krise da und die Wirtschaft flutscht nicht mehr so wie sie soll, schon fallen die Meinungen auseinander:
Da gibt es die, die in (mittlerweile eher paläo- als neo-) liberaler Ideologie befangen, sich nichts anderes vorstellen wollen, als daß der Staat dem Kapital neue Freiheiten erschließen möge. Freiheiten, an die bislang kaum jemand ernsthaft gedacht hatte. Sie entdecken Grenzen und Schranken, um sie einzureißen, sie denken an die »Hindernisse« zwischen den transatlantischen »Partnern« höchstselbst, Freunde gemeinsamer Ideologien: Sie machen sich schnurstracks an Freihandelsabkommen zwischen Nord-Amerika und dem EU-Europa.
Und es gibt jene, die den Nutzen solcher Verträge für die Nation bezweifeln und ihren Zweifel geradewegs in einen Zweifel um die Demokratie (und keinesfalls an ihr!) übersetzen. Nichts ist freilich lächerlicher als Erfolg und Mißerfolg der Nation von erfolgter bzw. nicht erfolgter Zustimmung der Untergebenen, der nationalen Manövriermasse, abhängig zu sehen!
Die regierenden liberalen Politiker wollen den Erfolg sowieso ganz unabhängig von jenen durchsetzen, in der Hoffnung, der Erfolg wird ihnen recht geben und insofern dann auch den einhelligen Zuspruch der Zeitungen und Zeitgenossen einbringen.
Die Kritiker einer solchen Haltung sind besorgt um die Nation, zu der sie nicht selten schlicht Demokratie sagen. Der Zusammenschluß von oben und unten ist ihnen nicht weniger geläufig als damals den Faschisten. Deshalb ist auch der härteste Vorwurf, den sie als Demokraten erheben der, die Regierungsverantwortlichen würden die Nation spalten. Dabei wird dann darauf hingewiesen, daß angesichts der neuen Handelsabkommen die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer werden würden — als würden sie das nicht sowieso schon seit Jahr und Tag — und daß die »Mittelschicht« »wegbrechen« würde, als ob solch soziologisch-statistisch ermittelter Status ein guter Grund für das Sich-Abfinden mit den herrschenden kapitalistischen Verhältnisse wäre.
Die nationalen Standpunkte scheiden sich also. Sie radikalisieren sich. Sowohl der Regierungsverantwortliche, der die Freiheiten des Kapitals rücksichtslos ausweiten will und diesbezügliche Verhandlungen deshalb wohlweislich unter Ausschluß der Öffentlichkeit führt. Wie auch der oppositionelle, der staatliche Eingriffe anderer Art verlangt: Den Schutz nationalen Privateigentums vor unliebsamer ausländischer Konkurrenz (unter allerlei Vorwänden von der Gentechnik bis zu den Abgasnormen), überhaupt den Schutz der Nation vor zuviel Ausland, das »uns« nichts nutzt, ja »uns« sogar belastet — als wären die politischen Projekte EU und Euro dem deutschen Staat und dem deutschen Kapital nicht wegweisend und gewinnbringend, vielmehr ihm aufgenötigt und schädlich! Solche Kritiker sprechen gern von der EU als »Überstaat«, als wären deren Befugnisse nicht aus nationalen Berechnungen der Hauptprotagonisten des Projekts abgeleitet. Es ist keineswegs verwunderlich, wer solch oppositionellen Standpunkt vertritt.
Geben wir an dieser Stelle einem alten Theoretiker das Wort, der just im Jahre 1931 folgendes schrieb:
"…lassen wir die Frage offen, wie weit wir noch entfernt sind von der Utopie der menschenleeren Fabrik, die menschliche Arbeitsleistung nur noch für die Produktionsplanung und Absatzorganisation im Kontor erfordert. Unbestreitbar ist, daß relativ zur Zahl der Industriearbeiter die der Angestellten seit Jahren im Wachsen begriffen ist.
Ebenso unbestreitbar ist andererseits, daß die wachsende Proletarisierung des Arbeitsschicksals und der sozialen Lebenslage der Angestelltenmassen diese in ihrer Mehrzahl nicht zu dem führt, was der marxistische Sozialismus der Industriearbeiter das proletarische Klassenbewußtsein nennt. Es ist das Verdienst Dr. Kracauers, daß er in seiner kleinen Schrift über die Angestellten [Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse, 1927] aufgehellt hat, weshalb gerade die Proletarisierung der Angestelltenmassen sie zu dem sogenannten falschen bürgerlichen Bewußtsein führt. Es zeigt sich darin, was an der vorhin erwähnten Marxschen Prognose nicht stimmt: auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung zu Proletarisierung und Verelendung führt, so folgt noch nicht daraus, daß mit derselben naturgesetzlichen Notwendigkeit ein entsprechender Fortschritt des proletarischen Klassenbewußtseins sich ergeben muß. Tatsache ist, daß für die Mehrheit der Angestellten das Festhalten an den äußeren und ideologischen Merkmalen eines bürgerlichen oder zum mindesten nichtproletarischen Standesbewußtseins sich umso mächtiger durchsetzt, je stärker die Tendenz zur wirtschaftlichen Proletarisierung ist. Weil das Schicksal, gegen das der Angestellte sich sträubt, ihm erscheint als Abstieg ins Proletariat, gerade deshalb wehrt er sich dagegen mit der krampfhaften Verzweiflung, die der Anblick eines Abgrundes bei einem Abrutschenden hervorruft. Es charakterisiert ja gerade den Stehkragenproletarier, daß er kein Proletarier sein will, und er will es umso weniger sein, je mehr er es ist.
Was vom Stehkragenproletarier gilt, das gilt erst recht von den Schichten des eigentlichen Mittelstandes, insbesondere des alten Mittelstandes von selbständigen kleinen Geschäftsleuten und Beamten, die von jeher die Stufe ihres sozialen Ansehens und ihrer gesellschaftlichen Selbstachtung bemessen haben nach der vertikalen Entfernung, die sie vom Industrieproletariat als der unteren Gesellschaftsschicht trennt. Auch hier wird die Abwehr gegen das Absinken ins Proletariat, infolgedessen gegen jede Form der Identifizierung mit ihm, umso krampfhafter, je stärker der Druck der wirtschaftlichen Proletarisierung ist. Der Haß des Marxismus ist darum das ideologische Symbol dieser Abwehr, wie die antikapitalistischen Schlagworte das ideologische Symbol des Ressentiments gegen die reichen Oberschichten sind.
Der Sozialpsychologe findet sich in diesem Zusammenhang am ehesten zurecht, wenn er ihn sieht als Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Minderwertigkeitsgefühlen, oder richtiger Zurücksetzungskomplexen, und kompensatorischen Vorstellungen. Die Rolle der kompensatorischen Vorstellungen ist beim Mittelständler und Stehkragenproletarier grundsätzlich keine andere als beim Industrieproletarier: sie sollen den Minderwertigkeitskomplex auflösen, indem sie die erlittene Zurücksetzung und Gefährdung der sozialen Selbstachtung zurückführen auf Ursachen, die außerhalb des eigenen Selbst liegen. Im einen wie im anderen Fall kommt es darauf an, die kathartische Wirkung zu erreichen, die sich immer dann einstellt, wenn man eine drückende Situation erstens verstehen, d. h. auf eine Ursache zurückführen kann, und zweitens, wenn man für sie einen Schuldigen findet, dessen Schuld dann den Maßstab für die eigene moralische Selbsthebung abgibt. Nur der konkrete Inhalt des Prozesses ist beim sozialistischen Proletariat ganz anders als bei den fascistischen Schichten. Die ungeheure kathartische und Zuversicht erregende Wirkung des Marxismus und des Sozialismus überhaupt besteht ja gerade darin, daß die Suche nach dem Schuldigen objektiviert wird zur Suche nach allgemeinen Ursachen, und daß diese Ursachen auf demselben Gebiet der Wirtschaftsform gesucht werden, auf dem die sozial herabdrückenden Wirkungen sich offenbaren. Das gibt dem proletarischen Sozialismus jenen Charakter reiner, sogar vielfach überspitzter Objektivierung, den der Marxismus mit der Selbstbenennung wissenschaftlicher Sozialismus für sich in Anspruch nimmt. Gerade gegen diese Objektivierung aber wehrt sich der soziale Minderwertigkeitskomplex des herabsinkenden Mittelstands. Denn der objektiven wirtschaftlichen Lage nach ist er ja schon proletarisiert oder auf dem Wege, es zu werden. Er muß darum sein eigenes wirtschaftliches Ressentiment nach Möglichkeit auf außerwirtschaftliche Objekte zu übertragen suchen.
Daher die für den Nationalfascismus** überall charakteristische Neigung, auch in der Stellung zu wirtschaftlichen Fragen außerwirtschaftliche Kategorien entscheiden zu lassen. Die Hauptrolle spielt hier die Ablenkung der wirtschaftlich-sozialen Ressentiments auf rassenmäßige Ressentiments, wie beim Antisemitismus, und auf national-politische Ressentiments, wie beim Nationalismus. Der Nationalismus ist das seelische Sicherheitsventil für ein soziales Minderwertigkeitsgefühl, die Ausgleichsform par excellence für die bedrohte kollektive Selbstschätzung, das ideologische Mittel der Ablenkung eines wirtschaftlich-sozial bedingten Grolls auf einen Gegenstand, der nicht nur ganz anders ist als die Gegenstände des industrieproletarischen Grolls, sondern darüber hinaus den schroffsten Gegensatz zum proletarisch-sozialistischen Klassenbewußtsein symbolisiert.
Daß dabei eine Objektverschiebung vorliegt, mit anderen Worten, daß dabei an die Stelle der objektiven Ursachenerkenntnis eine subjektive Ursachendeutung tritt, das gibt dem fascistischen Nationalismus seine charakteristische subjektive, irrationale und affektbetonte Färbung. Er bekennt sich ja selbst gern dazu, denn die gewollte Betonung und Überbetonung reiner Affektimpulse gibt ihm in der heutigen Zeit erhöhte Werbekraft. Das ist all den Leuten willkommen, deren soziale Komplexe dem Bewußtwerden widerstreben, die darum die Verherrlichung des irrationalen Affekts brauchen als Rechtfertigung ihrer Scheu vor dem objektiven Denken, das ihren Interessen oder Standesvorurteilen widersprechen würde. Das stempelt den Nationalfascismus nach Marxscher Ausdrucksweise zum »falschen Bewußtsein«, im Gegensatz zu dem wahren Bewußtsein, das der sozialistische Arbeiter zum mindesten erstrebt.
Ich gehöre wahrhaftig nicht zu denen, die von ihren politischen Gegnern glauben, daß sie entweder Dummköpfe oder Halunken sind. Ich halte es mit Emerson [Harrington Emerson, Unternehmensberater 1853-1931], der da sagt, man solle die Menschen nicht nach ihren Meinungen beurteilen, sondern nach dem, was ihre Meinungen aus ihnen machen. Aber gerade wenn man sich an diesen Grundsatz hält, ist man berechtigt zu fragen, ob es denn nicht in der Natur bestimmter Meinungen liegt, das geistige Niveau der Menschen, die sich von ihnen beeinflussen lassen, zu heben oder zu senken.
Wenn man die Frage so stellt, findet man zum mindesten gewisse psychologische Zusammenhänge, und zwar in allen Ländern, zwischen der Intensität nationalistischer Strömungen und der Stufe der Massenintelligenz. Das gilt nicht nur von jenen großen Massenkrisen, wie wir sie überall noch zur Zeit des Weltkrieges erlebt haben; es gehört heutzutage unter Gebildeten fast zum guten Ton, die Geistesverfassung jener Zeiten als Psychose zu bezeichnen und damit manches zu entschuldigen, dessen man sich nachträglich nicht zu rühmen wünscht. Es liegt im Wesen nicht nur der Psychose sondern aller krisenhaften Affektsteigerungen, daß sie von einer entsprechenden Intelligenzhemmung begleitet sind.
Der nationalistische Affekt ist auch normalerweise besonders geeignet, intelligenzhemmend zu wirken. Das liegt schon darin begründet, daß er auf einer ausgesprochen symbolischen Denkweise beruht. Man braucht Lévy-Brühls Buch übel die Denkweise in der primitiven Gesellschaft [La mentalité primitive, 1922] nicht gelesen zu haben, um zu wissen, daß symbolisches Denken das geistige Merkmal einer primitiven Intelligenzstufe darstellt. Lévy-Brühl hat sie nach entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten die prälogische Stufe genannt. Für die Denkprozesse, die sich auf dieser Stufe vollziehen, entscheiden nicht die logischen Beziehungen des kausalen Denkens, sondern einfach die Affektgehalte der Vorstellungen. …
Gewiß, wir wissen alle, daß die sokratische Entdeckung des Unterschieds zwischen sinnlicher Wahrnehmung und wirklicher Erscheinung, obwohl sie schon mehr als zwei Jahrtausende alt ist, es immer noch nicht vermocht hat, dem prälogischen Denken den Garaus zu machen. Es gibt keinen unter uns, der sich nicht gelegentlich dessen schuldig macht. Das ist durchaus natürlich und vielleicht weiter nicht schlimm, wenn man nur nicht aus der Not eine Tugend macht und aus einer Schwäche eine Theorie. Letzteres geschieht aber insbesondere seit dem Weltkrieg in wachsendem Maße. In erster Linie hat das Bestreben, mit den eigenen psychischen Kriegs- und Nachkriegserlebnissen fertig zu werden, auch in gebildeten Kreisen dazu geführt, daß man reagiert hat gegen die Überschätzung der Rolle des rationalen Denkens im sozialen Leben durch unsere Väter und Großväter. …
… es ist nicht schwer, die konkreten Beziehungen zwischen Nationalismus und Ungeistigkeit aufzudecken. Es läßt sich z.B. an Hand einer Analyse der Presse tun. So sehr mir die Klassifizierung von politischen Richtungen nach der geistigen Niveauhöhe widerstrebt, so evident scheint mir doch die Tatsache zu sein, daß in allen Ländern die Zeitungen, die von der Förderung und Ausbeutung nationalistischer Massenleidenschaften leben, zugleich zu dem Teil der Presse gehören, dessen geistiges Niveau überhaupt am tiefsten steht. Fast alle Zeitungen, die zu dem Typ gehören, den die Amerikaner »yellow« nennen, d. h. die weniger vom Informations- als vom Sensationsbedürfnis ihrer Leser leben und daher eine verdummende Wirkung haben, sind ultranationalistisch. Die ausgezeichnete Monatsschrift von Alain, Les Libres Propos, enthält regelmäßig einen »sottisier«, eine überaus ergötzliche Auswahl von Albernheiten, die während des Monats in Frankreich gedruckt worden sind. Daß mehr als neun Zehntel davon aus der nationalistischen Presse und aus den Reden nationalistischer Staatsmänner stammen, mag an der Einstellung der Redaktion liegen, denn es wird natürlich keinem vernünftigen Menschen einfallen zu behaupten, daß es nur unter den Nationalisten Fasler gibt***. Wer aber diesen »sottisier« liest, muß wohl zu der Überzeugung gelangen, daß es in der psychologischen Natur der nationalistischen Gefühle liegt, Albernheiten zu veranlassen, sogar bei Leuten, die sich auf allen nicht davon berührten Gebieten durchaus gescheit zeigen.
Aber es ist vielleicht nicht nötig, daß ich mich auf das gefährliche Gebiet derartiger Geschmacksurteile begebe, um das klar zu machen, worauf es mir hier ankommt. Es genügt für meine These, daß ich sie vorsichtshalber und um keine Überzeugung zu verletzen als Hypothese einkleide. Ich tue das mit Hilfe eines Kantschen Rezepts, indem ich die Frage so stelle: Gesetzt, daß es zwischen Nationalismus und Ungeistigkeit einen Zusammenhang gäbe, wie wäre er wohl psychologisch zu erklären?
Der Ausgangspunkt dieser Erklärung scheint mir darin zu liegen, daß einerseits der nationalistische Affekt eine Form der kollektiven Eitelkeit ist, daß andererseits jede Eitelkeit der Geistigkeit schadet.
Ich glaube, man kann das Wachstum des Nationalismus im Laufe des letzten Jahrhunderts nicht verstehen, wenn man nicht die kompensatorische Wirkung des nationalen Selbstwertungstriebes auf die sozialen Minderwertigkeitskomplexe berücksichtigt. Freilich ist das Wachstum des Nationalismus aufs engste verflochten mit allerlei institutionellen Erscheinungen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet: wachsende Autonomie und Zentralisation der Nationalstaaten, wirtschaftlicher Imperialismus usw. Aber man kann unmöglich auf der einen Seite nur wirtschaftliche Ursachen und auf der andern Seite nur psychologische Wirkungen sehen. Sonst käme man zu der absurden Deduktion, daß in derselben Epoche, die die Verwirklichung des Weltmarktes und eine vorher ungeahnte gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Völker gebracht hat, nun aus den gleichen materiellen Ursachen eine gesteigerte Isolierung und Feindschaft der Nationen entstanden sein soll, die zu diesem »materiellen Unterbau« in schroffstem Widerspruch steht. Ich will hier nicht versuchen, eine Theorie des modernen Nationalismus in all seinen Verflechtungen mit der Entwicklung der imperialistischen Weltwirtschaft zu skizzieren. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, daß das Wachstum des Nationalismus in den unteren Volksklassen, das Proletariat nicht einmal ausgeschlossen, nur ganz erklärt werden kann, wenn man es bezieht auf die Hemmungen des kollektiven Selbstwertungsgefühls, die sich aus der heutigen Klassenschichtung ergeben.
Die kompensatorische Wirkung des Nationalstolzes tritt schon in der italienischen Urform des Fascismus zutage. Die Anknüpfung an die Tradition des altrömischen Imperialismus ist freilich auch aus unmittelbaren geopolitischen und wirtschaftlichen Gründen zu erklären. Diese Erklärung hat der Fascismus selbst gegeben, indem er auf die Übervölkerung des italienischen Bodens und auf die Einengung des Auswanderungsgebietes hinwies. Dennoch ist damit nicht alles gesagt, denn zu gleicher Zeit warnt der Fascismus das italienische Volk vor der Gefahr des Geburtenrückganges, der doch eigentlich dem gesunden Menschenverstand als nächstliegendes Mittel gegen die Übervölkerung erscheint. Nichtsdestoweniger: ein großes Italien verlangt möglichst viele Italiener — nebenbei bemerkt, ein Beispiel dafür, wie das affektsymbolische Denken des Fascismus sich in offenbaren gedanklichen Widersprüchen verrät. Daß der Fascio, dessen erste politische Leistung die Zerstörung der sozialistischen Arbeiterbewegung war, trotzdem aus den Kreisen der ehemaligen sozialistischen Arbeiterschaft starken Zustrom erhielt, liegt unter anderem daran, daß der Nationalismus ein bequemerer und kürzerer Weg zur Hebung des kollektiven Selbstwertgefühls ist, als der sozialistische, gewerkschaftliche und genossenschaftliche Kampf. Die Verlockung ist besonders groß bei einem Volke wie dem italienischen, dessen materielle Bedürfnisse gering, dessen Geltungsbedürfnis dafür umso stärker entwickelt ist. Überdies war dieses Geltungsbedürfnis noch von der Caporetto-Fase des Weltkriegs her mit einem nicht ganz ausgeglichenen Defizit belastet. Man findet sich eher mit niedrigen Löhnen und schlechten Wohnungen ab, wenn man »Civis romanus sum« sagen kann. Das venezianische Proletariat, dessen elende und ungesunde Lebensverhältnisse jedem nicht völlig abgestumpften Reisenden auffallen, ist zu einem großen Teil auf die parasitären Nebenverdienste des Fremdenverkehrs angewiesen. Aber es darf »Mare nostrum« sagen — obwohl ihm die Monopolisierung des Lidostrandes durch die Luxushotels nicht einmal gestattet, in diesem Meer zu baden. So erscheint die psychologische Funktion des italienischen Fascismus in seiner Beziehung zum Proletariat vor allem dadurch sozial konservativ, daß er einen ungeheuren Prozeß der Energieverwandlung organisiert hat, bei dem Klassengefühl in Nationalgefühl umgesetzt worden ist.
Das Gefühl der Zurücksetzung, das aus der dauernden Zugehörigkeit zu einer unteren, mit bloß ausführender, dienender Arbeit beschäftigten Schicht entsteht, liegt dem sozialen Minderwertigkeitskomplex zugrunde. Es wird unterbewußt verstärkt durch die Triebhemmungen, die sich aus der Mechanisierung und Automatisierung der Arbeit ergeben. Je weniger die Tätigkeit des Arbeiters und des Angestellten Gelegenheit bietet, die in der Persönlichkeit wurzelnden schöpferischen und aufbauenden Triebe zu befriedigen, geistige Entscheidungen zu treffen, Initiative zu üben, je geisttötender, eintöniger die Arbeit wird, je mehr sie den Ausführenden in ein winziges Rad eines ungeheuren, von außen und oben regulierten Räderwerkes verwandelt, umso mehr erleidet er eine Hemmung des Geltungstriebes oder Selbstwertungstriebes. Ich meine damit jenen natürlichen Drang des Menschen, sich selbst in seiner Tätigkeit und ihren Ergebnissen schätzen zu können. Die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft hat noch dazu die traditionellen Gemeinschaften zerstört, in denen sich dieser Selbstwertungstrieb kollektiv auswirken konnte: die Zunft, die Gesellenverbindung, die dörfliche Nachbarschaft usw. Das Wir hat darum in demselben Maße an Sinn verloren wie das Ich. Der sozialistische Industriearbeiter hat diesen Sinnverlust allerdings zum Teil ausgeglichen durch die autonome Schaffung eines neuen Wir, durch das er sich auch ein neues Ich gegeben hat. Das ist die ungeheure positive psychologische Leistung der Arbeiterbewegung, der Bildung von Gewerkschaften und Arbeiterparteien, der Klassensolidarität und des Klassenbewußtseins. Psychologisch gesehen ist ja das Klassenbewußtsein nichts anderes als vorstellungsmäßig erhöhtes kollektives Selbstwertgefühl zum Ausgleich für die gesellschaftliche Erniedrigung dieses Selbstwertgefühls.
Aber wir sahen ja, warum der größte Teil des Stehkragenproletariats und des proletarisierten Mittelstandes sich gegen die Einordnung in dieses industrieproletarische Wir sträubt. Für diese Schichten liegt es am nächsten, die kompensatorische Steigerung des Selbstwertgefühls durch Einreihung in ein anderes Wir zu erreichen. Hier hilft der Nationalismus.
Einer der Gründe, weshalb das sozialistische Klassenbewußtsein beim durchschnittlichen amerikanischen Arbeiter, besonders in den Südstaaten, so schwach entwickelt ist, liegt in der Tatsache, daß es unter ihm noch eine andere Schicht, das farbige Proletariat, gibt; indem er als Weißer an der Herabsetzung dieser Schicht teilnimmt, aus seiner eigenen Farbe sozusagen einen kompensatorischen Fetisch macht, erhebt er sich im eigenen Urteil. Etwas Ähnliches kann man überall auf Kosten des Ausländers zustande bringen. Der mit geisttötender Arbeit beschäftigte, geschundene und verachtete Bürokuli muß sich wohl als ein recht erbärmliches Wesen vorkommen, wenn er sich nur in Beziehung zur privilegierten Oberschicht sieht. Aber sein Ich erfährt eine erhöhte Selbstwertung von dem Augenblick an, wo es sich als Teil eines Wir im Selbsturteil erhöht.
Von packender Wahrheit ist in dieser Hinsicht die Szene im Schauspiel »The Adding Machine« von Elmer Rice, wo die Gesellschaft der Bürokollegen, nachdem sie im Gespräch ein erschreckendes Bild geistiger Subalternität geboten haben, die Sorgen und Erniedrigungen des Alltags vergißt, sobald die patriotische Saite berührt wird, und zuletzt begeistert die Nationalhymne singt. Das bedeutet etwa: Als Handlungsgehilfe bin ich zwar ein armer, getretener Wurm; aber als Bürger des reichsten und fortschrittlichsten Landes der Welt habe ich einen mystischen Anteil an all der Herrlichkeit und all dem kollektiven Prestige, das vom Sternenbanner in der ganzen Welt versinnbildlicht wird. Oder in deutscher Fassung: Es geht mir als Angestelltem, als Steuerzahler oder gar als Stempelbruder hundsmiserabel, aber deswegen bin ich noch kein Hund, sondern nur unglücklicher Bürger eines großen, fleißigen und hochkultivierten Volkes, das leider von lausigen Ausländern im Osten drangsaliert, von amerikanischen Kapitalisten ausgebeutet und von französischen Militaristen in erniedrigender Entrechtung gehalten wird.
… es genügt der Hinweis auf den internationalen Charakter der Wirtschaftskrise, die England und Amerika bekanntlich nicht weniger schwer trifft, um die Schlußfolgerung zu rechtfertigen, daß die hundertprozentige Verwandlung des wirtschaftlich-sozialen Grolls in einen nationalen Groll den objektiven Tatsachen widerspricht.
Auch dort, wo das Klassenressentiment sich antikapitalistisch äußert, unterscheidet sich diese Äußerung dadurch von dem Objektivitätsdrang des sozialistischen Antikapitalismus, daß sie sich an allerlei mehr oder weniger künstlich konstruierte Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Kapitalismus und Kapitalisten festklammert. Auch hier ist das Bestreben charakteristisch, die Schuld von der Kapitalistenklasse überhaupt abzuwälzen, indem man allerlei vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt fantastische Unterschiede zwischen Wucherkapital und legitimem Kapital macht, immer mit der Endabsicht, entweder den Juden oder den Ausländer zu belasten. Stets liegt diesen Versuchen die Bestrebung zugrunde, ein auf einem sozialen Gebiet erlittenes Minus an kollektiver Selbstwertung durch ein Plus auf nationalem Gebiet auszugleichen.
Das ist es, was ich meine, wenn ich den Nationalismus als eine Form der kollektiven Eitelkeit bezeichne. Gewiß, es liegt in dieser Benennung ein Werturteil, das ich mir vielleicht mit der Wahl eines neutraleren wissenschaftlichen Fachausdrucks wie kollektives Selbstwertungsgefühl ersparen könnte. Aber es liegt mir daran, dieses Werturteil nicht zu verschweigen. Ich weiß, es ist heutzutage nicht populär, den Nationalismus — jede Form von Nationalismus — so despektierlich zu behandeln. Ich tue es mit Absicht und mit Nachdruck, weil ich glaube, daß heute, wie in der politischen, so auch in der geistigen Welt nichts dringender erforderlich ist als eine eindeutige und energische Reaktion gegen die Balkanisierung Europas.
Ich will mir dabei die Sache nicht einmal leicht machen, indem ich von Exzessen des Nationalismus spreche, denn ich halte jeden Nationalismus für einen Exzess.
…"
(Gedanken von Hendrik de Man, niedergelegt in der Schrift »Sozialismus und Nationalfascismus«, Frankfurt 1931)
Daß die soziale Frage als solche konsequent ausgeblendet wird, macht sie brauchbar für Nationalisten, die an eine wie auch immer erfolgreiche Staatsräson denken. Ja wenn der Erfolg der Nation auf der An- und Verwendung von Arbeitskräfte beruht, dann sollten die eben als solche ihre Würdigung erfahren: Als Beitrag, den sie als Zugehörige zur Nation leisten, soll er ihnen angerechnet werden. Leute, die auf die Nation stolz sein können, sollen gerade deshalb auch nicht um jede Lohnminute feilschen müssen. Was es natürlich ganz einfach macht, Arbeitslose wieder zu beschäftigen. Für die Nation ist es ein Frevel, Arbeitskräfte brach liegen zu lassen, das sind vergebene Ressourcen und Möglichkeiten! Für die Nation und ihren Nationalismus ist der Mindestlohn ein wahrlich tolles Projekt: Keine Ansprüche als den, dazugehören zu dürfen zu einer erfolgreichen, weltmächtigen Nation! Als Nationalisten dürfen sie dann einstimmen in die Kritik aller anderen Nationen, die sich lediglich darin unterscheiden, inwiefern sie der deutschen Staatsräson ins Programm passen.
Daß die deutschen im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften am Nationalismus nicht bloß keinerlei Kritik haben, vielmehr in ihrer nationalen Verantwortlichkeit ihre Grundlage, zeigt die ganze Erbärmlichkeit dieser Vereine, ihre Unbrauchbarkeit für die materiellen Interessen des Proletariats: Sie schreiben dessen Abhängigkeit von den Konjunkturen der Nation fort.
Der Widerspruch, in sozialen Anliegen Politik machen zu wollen, löst sich regelmäßig dann ganz praktisch auf, wenn eine dermaßen sich propagierende Partei in die Regierungsverantwortung tritt, nach der sie giert. Das war bei der französischen KP nicht anders als bei der deutschen Linkspartei, die zumindest mal in ostzonalen Bundesländern, die Möglichkeit hat bzw. hatte, mitzuregieren — es sei diesbezüglich nur an den Fall Berlin erinnert. Es ist kein Wunder, wenn Faschisten mit ihrem propagierten »Mut zur Wahrheit«, womit sie den Mut zum nationalen Bekenntnis meinen, viel leichter Punkte machen. Die Betonung des Nationalen vermissen sie bei den Herrschenden, die ihren Nationalismus für rundweg selbstverständlich, für alternativlos halten. Von Seiten der etablierten Staatsräson sind gleichwohl jene mit ihrem betont nationalem Standpunkt weit weniger angreifbar als die Linken, die immerzu — wiewohl sehr zu Unrecht — in die Ecke der Vaterlandsverräter gestellt werden.
Im übrigen, aufgrund ihres nationalen Standpunkts ist es überhaupt nicht schade, wenn Gewerkschaften und Linksparteien an Bedeutung verlieren, sie sind alles andere als Mittel für die materiellen Belange der Arbeiterklasse, alles andere als ein Argument gegen herrschenden wie alternativen Nationalismus.
(31.10.2014)
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*Natürlich hängt die Herrschaft nicht von der Wählerei ab: Die Herrschaft funktioniert beispielsweise in der Demokratie Nr. 1, in den USA, seit Jahr und Tag mit Wahlbeteiligungen von 50% und darunter ganz hervorragend. Und Staaten, die sich mit einer Wahlbeteiligung von mehr als 90% brüsten, wird sowieso bestritten, daß es sich bei ihnen um echte Demokratien handelt. Was anderen Staaten, die gar eine Pflicht festgeschrieben haben, an Wahlen teilzunehmen, wiederum keineswegs als undemokratisch vorgehalten wird. Allein entscheidend ist, ob die Herrschaft im Interesse eines nationalen Beobachters des In- oder des imperialistischen Auslands »funktioniert«.
** Schreibweise wie im Original; der Begriff ist ein Pleonasmus, denn es gibt keinen anderen als einen nationalen Faschismus; allerdings gibt es einen anderen Nationalismus, einen demokratischen, nicht weniger radikalen, weil totalitären Anspruchs!
*** Die restlichen gehen auf das Konto linker Frasendrescher und Bekenntnissozialisten, heutzutage par excellence in der deutschen Linkspartei versammelt: Aktuelles Beispiel: Der Artikel einer daselbst tätigen »Interventionistischen Linken Bremen«, die sich in ak 594 (14.10.2014) darüber ausläßt, was angesichts einer neurechten Partei doch alles untersucht und unternommen werden müßte.