Ziffel:
Die Sorge für den Menschen hat in den letzten Jahren sehr zugenommen, besonders in den neuen Staatengebilden. Es ist nicht wie früher, sondern der Staat kümmert sich. Die großen Männer, die an mehreren Orten Europas aufgetaucht sind, zeigen ein großes Interesse an Menschen und können nicht genug davon kriegen. Sie brauchen viele. Am Anfang hat man sich den Kopf darüber zerbrochen, warum der Führer überall in den Randgebieten Menschen aufgesammelt und nach dem Inneren Deutschlands transportiert hat. Erst jetzt im Krieg ists klar geworden. Er hat einen ziemlichen Verschleiß und braucht einen Haufen. Aber die Pässe gibts hauptsächlich wegen der Ordnung. … (TB-Gesamtausgabe suhrkamp, Bd. 14, S. 1385)
Daß der kapitalistische Staat in Friedenszeiten verwerten will und verwertet, damit Verschleiß an Menschenmaterial hat, das steht heute, 2016, mehr denn je außer Frage. Und Frieden herrscht ja bekanntlich selbst dann, wenn der Staat die Bundeswehr im Ausland mehr denn je Krieg führen läßt. Sogesehen ist der Verschleiß gleichzeitig ein doppelter, einer im Frieden und einer im Krieg.
Apropos deutsche Kriege im Ausland: Wenn ein solcher früher oder später erfolgreich abgeschlossen ist, also die gewünschten demokratisch-marktwirtschaftlichen Verhältnisse Einzug halten können, dann braucht es Leute, die dafür vor Ort einstehen, treu-doofe Vasallen des deutschen Staates also: Die bildet er bereits jetzt und hier aus — zum Beispiel für Syrien. Leider ist das kein Witz.
Ziffel:
Ich find, da ist was dran, daß der sogenannte Materialismus in besseren Kreisen in Verruf ist, man spricht gern von niedrigen materiellen Genüssen und rät den unteren Klassen ab, sich ihnen in die Arme zu werfen. An sich ist es nicht nötig, weil sie das Kleingeld dafür sowieso nicht haben. Ich hab mich oft gewundert, warum die linken Schriftsteller zum Aufhetzen nicht saftige Beschreibungen von den Genüssen anfertigen, die man hat, wenn man hat. … (S. 1392/3)
Auch jene linken Schriftsteller (z.B. dieser bis zuletzt EsPeDe krähende Krass) haben sich dem Staatsauftrag verschrieben, der das Volk bei Laune halten soll, so es die Zumutungen des Alltags aushalten will und muß: Dazu gehört einfach die nötige Portion Moral und der Glaube an sich selber als seines eigenen Glückes Schmied. Am besten gelingt das natürlich, wenn sich einer auf der Nation, der er an sich rein zufällig angehört, Wunder was einbilden kann, weil »seine« Nation in der Hierarchie der Staaten weit oben steht; einbildungsmäßig steht sie sowieso immer ganz oben, die »eigene« Nation.
Der eigene Materialismus geht dabei in dem der Nation auf und hat sich, was das Fressen anbelangt, damit erledigt.
Ziffel:
Kriege wie die unsrigen und Friedenszeiten wie die unsrigen wären früher nicht möglich gewesen. Sie hätten einfach zu viele Tugenden gefordert, mehr bedeutende Menschen, als vorhanden waren. (S. 1398)
Wenn die staatlichen Interessen es erfordern, dann finden sich schon genügend, die ihnen zu Diensten sein wollen. Großartige Fähigkeiten dazu braucht es nicht. Politiker blasen sich als Durchblicker auf und als welche, die alles im Griff haben: Das ist nicht schwer: Es scheint ihnen im Blut zu liegen, liegt aber vielmehr an dem Geschäft, dem sie sich mit Haut & Haar verpflichtet wissen: Der Staat muß in Ordnung sein, d.h. erfolgreich geführt werden.
Ziffel:
…Der Schüler lernt alles, was nötig ist, um im Leben vorwärts zu kommen. Es ist dasselbe, was nötig ist, um in der Schule vorwärts zu kommen. Es handelt sich um Unterschleif, Vortäuschung von Kenntnissen, Fähigkeit, sich ungestraft zu rächen, schnelle Aneignung von Gemeinplätzen, Schmeichelei, Unterwürfigkeit, Bereitschaft seinesgleichen an die Höherstehenden zu verraten usw. usw.
Das Wichtigste ist doch Menschenkenntnis. Sie wird in Form von Lehrer-kenntnis erworden. Der Schüler muß die Schwächen des Lehrers erkennen und sie auszunützen verstehen, sonst wird er sich niemals dagegen wehren können, einen ganzen Rattenkönig völlig wertlosen Bildungsgutes hineingestopft zu bekommen. … (S. 1402)
Nachdem, was man in der Schule so mitkriegt, fragt man sich schon, was diverse Leute so treibt, ausgerechnet Lehrer zu werden. Sie erledigen dem Staat mehr Dreckarbeit als ein Tonnenmann sein ganzes Leben lang bei der Müllabfuhr.
Kalle:
Sie [die großen Männer] müssen zeigen, daß sie sich mit Kleinigkeiten nicht abgeben. Sie leben in ganz großen Gedanken, und alles Niedrige ist ihnen fremd, wenns einen Krieg planen. (S. 1424)
Weshalb sie viel Verständnis dafür haben, wenn ihr Volk den Krieg und alles Übrige der großen Politik nicht nachvollziehen kann. Sie beharren nichtsdestotrotz auf den Notwendigkeiten, welche die politische Gewalt erfordert. Das zu rechtfertigen ist nicht besonders schwer — die höchsten Werte können sie litaneimäßig herunterbeten. Diese Werte sollen dann den Schulterschluß mit ihren Untertanen herstellen und das tun sie leider nur allzu leicht.
Ziffel:
Das ist nicht, was ich eine große Idee nenne. Eine große Idee ist der totale Krieg. Haben sie gelesen, wie jetzt in Frankreich die Zivilbevölkerung dem totalen Krieg in die Quere gekommen ist? … Sie hat die militärischen Operationen gehindert, indem die Flüchtlingsströme den Truppenbewegungen die Straßen verstopft haben. ….
Was nützen die gewissenhaftesten Berechnungen der Stäbe, wenn sich immer wieder das Volk dazwischendrängt und den Kriegsschauplatz unsicher macht? Kein Kommando, keine Vorwarnung, kein gütliches Zureden, kein Appell an die Vernunft scheint da geholfen zu haben. Kaum sind feindliche Flieger mit Brandbomben über einer Stadt erschienen, so ist schon alles, was Beine hatte, aus ihr herausgelaufen, ohne sich den geringsten Gedanken darüber zu machen, daß dadurch die militärischen Operationen empfindlich gestört werden. Rücksichtslos haben sich die Bewohner zur Flucht gewandt.
Kalle: Was ist da schuld?
Ziffel: Man hätt rechtzeitig an die Evakuierung des Kontinents denken müssen. Nur die restlose Entfernung der Völker könnt eine vernünftige Kriegsführung mit voller Ausnützung der neuen Waffen ermöglichen. Es müßte eine Dauerevakuierung sein, denn die neuen Kriege brechen blitzschnell aus, und wenn da nicht alles bereit, das heißt weg ist, ist alles verloren. Und die Evakuierung müßt auf der ganzen Welt vorgenommen werden, denn die Kriege breiten sich rasend aus und man weiß nie, wohin die Vorstöße erfolgen. (S. 1425-7)
Nun ja, ein großes Hindernis ist die Zivilbevölkerung nicht, getroffen gilt sie als leider notwendiger, unvermeidlicher Kollateralschaden: Das ist vorwärts gerichtete Politik. Deren Interessen stehen nicht zur Debatte. Und eine Werte-Debatte ist das langweiligste, was moderne Demokratien zu bieten haben: Der Aufregung folgt dann schnell die Abregung, weil das Volk ja doch ganz andere, wirkliche Probleme aufgehalst bekommt.
Kalle:
Weil er recht gehabt hat, wenn er [Chemiker in einer Giftgas produzierenden Fabrik] gesagt hat, daß er mit dem, was er fabriziert, nichts zu tun hat, so wenig ein ixbeliebiger Arbeiter in einer Fahrradfabrik etwas mit den Fahrrädern zu tun hat. Und er hat genau wie wir was dagegen gehabt, daß man mit dem, was man fabriziert, nichts zu tun hat. Wir haben genau gewußt, daß wir für den Krieg arbeiten, indem wir überhaupt arbeiten. Denn wenn die Fahrräder, die an und für sich unschuldige Gegenständ sind, nicht über die Grenzen gehen können, weil die Märkte besetzt sind, dann gehn eines schönen Tags die Tanks [altmodisch für: Panzer] über die Grenzen, das ist klar. Ich hab Leut sagen hören, der Handel und die Wirtschaft sind human, nur der Krieg ist inhuman. Aber der Handel und die Wirtschaft sind erstens nicht human und zweitens führens bei uns zum Krieg. Und dann wollens einen humanen Krieg. Machts Krieg, aber nicht gegen die Zivilbevölkerung! Mit Kanonen, aber nicht mit Gas! Der amerikanische Kongreß hat die Rüstungsgewinne, hör ich, auf 10% begrenzt und zwar gesetzlich. Er hätt ebensogut die Menschenverluste im Krieg auf 10% beschränken können! Die Barbarei kommt schon von der Barbarei, indem der Krieg von der Wirtschaft kommt. Entschuldigen Sie, daß ich politisch geworden bin. (S. 1430/1)
Liest man leider weder im Handelsblatt noch sonst irgendwo. Offensichtlich gehört (u..a) dieser Abschnitt nicht zum Bildungsgut der Gymnasien und Universitäten, nicht einmal für die Leute, die sich mit Brecht befassen und Bücher über ihn schreiben. Vom Augsburger Allgemeinen CSU-Kampfblatt und seiner Speerspitze Roller gar nicht zu reden. Nicht wahr, Jan Knopf und Jürgen Hillesheim?
Und übrigens: Wie war das mit der »Zivilklausel«, die jetzt an der Universität der Rüstungsstadt, pardon: Friedensstadt Augsburg von der Studentenschaft eingeklagt wird? Und nicht nur in dieser Stadt, die übrigens keinerlei Protest gegen die Benennung einer Fregatte mit ihrem Namen erhoben hat — jene kreuzt derzeit bekanntlich schußbereit vor dem Kriegsschauplatz Syrien/Irak.
Kalle:
Einen Profit kriegens nur heraus, wenns mit allen Mitteln vorgehn.
Ziffel:
An allem ist der Kapitalismus schuld — das ist eine Platitüde.
Kalle:
Leider ist es keine.
Ziffel:
Ich stimm ihnen zu, daß es nicht bekannt genug ist, und ich würd sogar außerdem zugeben, daß ich selber einen gefährlichen Hang hab, Platitüden zu unterdrücken, auch wenn es nützliche Wahrheiten sind. ….
Lassens mich originell sein, sonst bin ich stupid und was haben Sie davon. Der Marx hat die Arbeiter nicht beschimpft, er hat festgestellt, daß ihnen von der Bourgeoisie ein Schimpf angetan wird. Meine Kenntnis des Marxismus ist unvollständig, so seiens lieber vorsichtig. Eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heut … (S. 1439/40)
Kosten, die zwar aus denen der kapitalistischen Gesellschaft hervorgehen, aber die einzig produktiven Kosten darstellen, die ein Lohnarbeiter für sich investieren kann. Lohnarbeit und all das Sich-Herumschlagen mit und in den kapitalistischen Verhältnissen sind dagegen reine Zeit- und Kraftverschwendung für Dinge und Belange, von denen er nicht mehr hat als ein geistig wie materiell armseliges lebenslanges Dahinvegetieren: Die Durststrecken des Alltags lassen Höhepunkte jenseits des Erwerbslebens nur allzu oft in purer Einbildung entstehen.
Ganz blöd ist es darüber hinaus, sich extra Besonderes vorzulügen, zum Beispiel, daß man zu einer ganz geilen Nation wie Deutschland gehört, die es mitsamt ihren Weltmarktführern versteht die Arbeiter einzuspannen und auszunehmen — und gleichzeitig bei Laune zu halten…
Die Bourgeoisie hingegen —:
Kalle:
Wie ein Festredner von den Feuerbestattern gesagt hat: die Bourgeoisie hat nichts zu verlieren außer ihr Geld. (S. 1442)
Kalle:
Sie haben recht, es ist verdächtig, wenn so viel von Freiheit die Rede ist. Es ist mir aufgefallen, daß so ein Satz »bei uns herrscht Freiheit« immer kommt, wenn jemand sich über Unfreiheit beschwert. Dann heißt es sofort: »Bei uns ist Meinungsfreiheit. Bei uns könnens jede Überzeugung haben, die sie wünschen.« (S. 1444)
Gerade darin besteht der Haken: Damit ist auch schon gleich die Mißbilligung des Inhalts einer Äußerung enthalten. Sie muß gar nicht unbedingt strafbar sein, wie im damaligen Faschismus, den Kalle und Ziffel vor Augen hatten. Das ist ja gerade das Schöne an einer Demokratie. Unmaßgeblich kann jeder eine, seine Meinung hinausposaunen. Es ist völlig belanglos. In aller Regel handelt es sich eh bloß um das Echo der Politik und ihrer Meinungsmacher, wenn sich die Untertanen äußern. Sie äußern sich ja gerade als eben solche, als Volk. Die schärfsten Vorwürfe, die von unten kommen, sind die dahingehenden, die Politik würde ihren Laden vernachlässigen, nicht im Griff haben, zu wenig und/oder zu ungerecht Steuern eintreiben und dergleichen Dummheiten mehr.
Ziffel begeistert:
So ist es: Wie die wilden Tiere müssens ständig auf der Höhe sein, sonst werdens überwältigt. Sie möchten vielleicht gern einmal die Köpf hängen lassen und finster vor sich hinstieren und den Lebensüberdruß ein wenig auskosten nach Herzenslust, aber das geht nicht, das kostet gleich die Existenz, das hab ich aus sicherer Quelle. Ich hab einen Onkel drüben [in den USA], der war herüben, als ich noch ein Junge war, den vergeß ich nie. Er war den ganzen Tag optimistisch, der arme Mensch, sein Gesicht hat sich immerfort zu einem zuversichtlichen Grinsen verzogen, daß man seine goldenen Stiftzähne gesehen hat, und meinem Vater, der den Reumatismus gehabt hat, hat er im Tag mehrere Male ermunternd auf die Schulter und auf den Rücken geschlagen, daß er jedesmal vor Schmerz aufgezuckt hat. Er hat ein Auto mitgebracht von drüben, das war damals noch eine Seltenheit, und einmal haben wir einen Ausflug auf den Kobelberg [Hügel westlich von Augsburg] gemacht, da hat er dauernd davon gesprochen, wie man früher hat zu Fuß auf die Berge kriechen müssen. Das Auto ist bergauf stehen geblieben, wir haben zu Fuß vollends hinaufgehen müssen und seinen letzten Atem hat er dazu verwendet, daß er versichert hat, die Autos werden auch noch besser werden.
Kalle:
Gerade bei den Amerikanern ist ein besonders starkes Gerede von Freiheit. Wie ich schon vorhin gesagt hab: es ist verdächtig. Damit einer von Freiheit redet, muß ihn der Schuh drücken. Von Menschen, die in gutem Schuhwerk herumgehn, werdens selten erleben, daß sie in einem fort davon reden, wie leicht ihre Schuh sind und wie sie passen und nicht drücken und daß sie keine Hühneraugen haben und keine dulden würden. Ich hab mich für Amerika begeistert, wie ich das gehört hab und hab Amerikaner werden wollen oder wenigstens hinkommen in diese Freiheit…
So bin ich nicht in das Land der Freiheit gelangt. Ich bin mir nicht sicher, daß meine Freiheitsliebe für das Land ausgereicht hätt. (S. 1447-9)
Daß Freiheitsliebe zu Großem gereicht, sieht man ja an den überragenden Persönlichkeiten, die es in der USA ganz weit bringen. Mitunter bis zum Präsidentschaftsanwärter und Präsidenten selber. In der Tat sind diese Koryfäen der Nation keineswegs so dumm wie die, bei denen — und das ist das (gemeine) Volk — es nie zu mehr reicht als zum Wedeln mit der Nationalflagge. Von der eigenen Dummheit profitieren und nicht profitieren, das macht den Unterschied aus — bei Anhängern ihrer Nation, bei Nationalisten.
Ziffel:
Es ist mir immer merkwürdig vorgekommen, daß man gerade das Land besonders lieben soll, wo man die Steuern zahlt. Die Grundlage der Vaterlandsliebe ist die Genügsamkeit, eine sehr gute Eigenschaft, wenn nichts da.
Kalle:
Die Vaterlandsliebe wird schon dadurch beeinträchtigt, daß man überhaupt keine richtige Auswahl hat. Das ist so, als wenn man die lieben soll, die man heiratet, und nicht die heiratet, die man liebt. Warum, ich möcht zuerst eine Auswahl haben. … und dann deut ich drauf und sag: Das nehm ich als Vaterland; dann werd ichs auch schätzen. Aber jetzts ist, wie wenn einer nichts so sehr schätzt wie den Fensterstock, aus dem er einmal heruntergefallen ist.
Ziffel:
Das ist ein zynischer, wurzelloser Standpunkt, der gefällt mir.
Kalle:
Sonst hör ich immer, man soll verwurzelt sein. Ich bin überzeugt, die einzige Geschöpfe, die Wurzeln haben, die Bäum, hätten lieber keine, dann könntens auch in einem Flugzeug fliegen. (S. 1452/3)
Beim diesjährigen Brechtfestival der Stadt Augsburg geht es um Brechts Bezug zu Deutschland: »Welches Deutschland ist das Richtige« — schon dieses parteiische Motto soll irgendwie, und zwar kritisch, für die real existierende deutsche Kacke sprechen, mit derem unwiderstehlichen Duft die ganze Welt eingenebelt werden soll!
Hier, bei Brecht, ist alles gesagt. Nationalismus ist schlechthin Scheiße, von welcher Staatsform auch immer in Anspruch genommen. Daß ausgerechnet Demokraten Brecht für sich in Anspruch nehmen, um gegen einen Mißbrauch des Nationalismus — durch heutige Nazis, die ganz offenbar einfach dazugehören zu einer schönen Demokratie (worüber sollten ihre Verantwortlichen wie ihre Idealisten auch sonst dauernd lamentieren, so sie schon mal »selbstkritisch« werden?) — sich in die Brust zu werfen, ist nichts anderes als eine Perversion des Brechtschen Standpunkts.
Kalle:
… Oder nehmen sie einen Bauern bei der Landagitation, die wir gemacht haben. Er ist gegen uns gewesen, weil er gesagt hat, wir wollen ihm alles wegnehmen, aber dann haben ihm die Bank und die Gutsbesitzer alles weggenommen. Einer hat mir gesagt: das sind die ärgsten Kommunisten. Wenn das nicht ein Witz ist! (S. 1462)
Wo man das Gleichheitszeichen zum Kommunismus setzt, hängt von der Interessenlage ab: Kommunismus als größtes abzulehnendes Allgemeinübel paßt immer: Manche setzen ja auch zwischen dem Staat und dem Kommunismus ein Gleichheitszeichen. Vorschub geleistet wurde dem seinerzeit durch den Realsoz, durch das unsäglich »bessere« Deutschland, die DDR; und heute durch den besseren Nationalismus der Partei DIE LINKE.
Die durch den Nationalismus eingerissene geistige Verwahrlosung ist grenzenlos. Und weder zu Brechts Zeiten noch heute bekämpft selten einer dieses Grundübel: Somit ist Brecht umso toter je weniger es den Anschein hat.
Ziffel:
…Die Leut in diesem Land werden also nicht nur von den Gutsbesitzern und Fabrikanten beherrscht, sondern auch von sich selber, was Demokratie genannt wird. Das erste Gebot der Selbstbeherrschung heißt: das Maul halten. In der Demokratie kommt dazu die Redefreiheit, und der Ausgleich wird dadurch geschaffen, daß es verboten ist, sie zu mißbrauchen, indem man redet. Haben sie das verstanden?
Kalle:
Nein.
Ziffel:
Das macht nichts. Es ist nur in der Theorie schwer, in der Praxis ist es ganz einfach. … (S. 1474)
Es darf über alles gesprochen werden, aber völlig unverbindlich. Denn bestimmend ist allein die Interessenlage des Staates. Vertreten durch dessen Charaktermasken, pardon: Leute mit Fachkenntnissen. Und es kommt nicht von ungefähr, daß seine Gewalt keine Widerrede duldet. (Daher geht Ziffel im folgenden speziell auf das Militär ein.)
Ziffel:
Ich glaub nicht, daß man von demokratisch als von einer Eigenschaft reden kann.
Kalle:
Warum nicht? Wenn ich find, daß z.B. auch Hunde, wenn sie gut gefressen haben, eher demokratisch ausschauen, als wenn nicht? Das Ausschaun muß eine Bedeutung haben, ich denk, es ist die Hauptsache, nehmen sie Finnland. Es schaut demokratisch aus; wenn sie das Ausschaun wegnehmen und sagen, darauf pfeifen Sie, was bleibt dann übrig? Bestimmt keine Demokratie. (S. 1477/8)
Eigentlich leicht einzusehen. Umso mehr verwundert es, daß sich manche gerade über das Aussehen solch Kopfzerbrechen machen. Gerade so, als wären sie eine junge Frau, die sich einen reichen Mann an Land ziehen möchte.
Kalle:
Das Wort »Volk« ist ein eigentümliches Wort, ist ihnen das schon aufgefallen? Es hat eine ganz andere Bedeutung nach außen als nach innen. Nach außen, nach den anderen Völkern hin, gehören die Großindustriellen, Junker, höheren Beamten, Generäle, Bischöfe usw. natürlich zum deutschen Volk, zu keinem andern. Aber nach innen hin, wo es sich um die Herrschaft handelt, werden sie diese Herrn immer vom Volk reden hören als von »der Masse« oder den »kleinen Leuten« usw.; sie selber gehören nicht dazu. Das Volk tät besser, auch so zu reden, nämlich daß die Herren nicht dazugehören. Dann bekäme das Wort »Volksherrschaft« einen ganz vernünftigen Sinn, das müssen sie zugeben.
Ziffel:
Das wär aber dann keine demokratische Volksherrschaft, sondern eine diktatorische.
Kalle:
Das ist richtig, es wär eine Diktatur der 999 über den tausendsten:
Ziffel:
Das wäre alles schön und recht, wenn es nicht den Kommunismus bedeuten würde. Sie werden mir zugeben, daß der Kommunismus die Freiheit des Individuums vernichtet.
Kalle:
Fühlen Sie sich besonders frei? (S. 1479/80)
Und was will das Volk, jene 999 von 1000?? Solange sich das Volk — und das ist sein Begriff — in Abhängigkeit von einer Herrschaft definiert, solange es seine Untertanenexistenz, vor allem eben seine geistige Untertanenexistenz, nicht anders als als Staatsbürger denken zu wollen, nicht aufgibt, kommt immer nichts anderes eine Art Diktatur heraus, wie demokratisch sie auch immer ausschauen mag. Leider, da hat Kalle unrecht, bedeutet die Herrschaft der 999 über den tausendsten überhaupt nicht Kommunismus, eher schon ist es das Ideal der Faschisten. Die berufen sich doch dauernd auf »das Volk«! Allerdings — das sei eingeräumt — haben diese Unart sich sozialistisch nennende Parteien übernommen: SED, ML-Parteien, DIE LINKE und Konsorten: Staats- und Nationalismuskritiker wollten bzw. wollen die ja partout nicht sein. Ihr Vorwurf an die anderen lautet, jene würden sich zu Unrecht auf das Volk berufen. Ein wahrlich schöner Streit! Schaut demokratisch aus.
Kalle:
Der Genuß am Denken ist, wie gesagt, weitgehend ruiniert. Die Genüsse sinds überhaupt. Erstens sind sie teuer. Sie zahlen für einen Blick auf die Landschaft, eine schöne Aussicht ist eine Goldgrube. …
Aber das Entscheidende ist: Das Genußleben ist vollständig getrennt vom übrigen Leben. Es ist nur zur Erholung, damit sie wieder tun können, was keine Genuß ist. Sie kriegen überhaupt nur das bezahlt, was Ihnen keinen Genuß bereitet. Eine Prostituierte hat sich einmal mir gegenüber beschwert, daß ihr ein Freier nichts hat bezahlen wollen, weil sie einmal unbedacht wollüstig geseufzt hat. Sie hat mich gefragt, wie das im Kommunismus ist. … (S. 1483/4)
Im Kommunismus neigt sich die Waagschale vom Verdruß zum Genuß. Ansonsten braucht man nicht über ihn zu reden.
Warum wohl wird im Kapitalismus und seinen Demokratien so viel Wert auf »Optimismus«, auf »Chancen« [sogar: »give peace a chance«!], auf »Lösungen statt Probleme« usw. gelegt? Solch fauler Zauber ist seine Waffe gegen offenkundig nur allzu verständliche kommunistische Anwandlungen.
Ziffel:
Das Wort »ausgebrochen« besagt alles. Man gebraucht es hauptsächlich für Seuchen, und es liegt drin, daß die keiner gemacht hat und nur keiner hat verhindern können. Schon wenn es heute auf Hungersnöte in Indien angewandt wird, ists in höchstem Maß irreführend, da sie einfach von Spekulanten veranstaltet werden.
Kalle:
Für die Liebe gebraucht man das Wort auch. Mitunter ist es am Platz. … Die meisten Eheleute schlafen miteinander übrigens, ohne daß eine Liebe ausgebrochen wär. Kriege brechen aus, hör ich, wenn ein Staat, und vielleicht noch seine Verbündeten, besonders kriegerisch ist. Das heißt, wenn er eben zur Gewalt neigt. (S. 1485/6)
Das Dementi eines Interesses, eines staatlichen zumal, ist dermaßen eingehaust, daß es allenthalben durchgeht. Dabei handelt es sich um Lügen. Also das, was zwar nicht die Sache trifft, aber irgendwie dazugehört. Wer Lügen vermißt bzw. bessere fordert, der besteht umso mehr auf der Sache: Dabei steht die gar nicht zur Disposition. Unbegreiflich beispielsweise den Dresdner Hinterwäldlern.
Kalle:
Tatsächlich, wenn ich mirs überleg, sind die neueren Staaten die edelsten und feinsinnigsten Staaten, die je größere Kriege geführt haben. Früher hats immerhin den ein oder anderen Krieg gegeben, der aus Gewinnsucht geführt worden ist. Das hat ganz aufgehört. Wenn heut ein Staat eine fremde Kronkammer einverleibt haben möcht, sagt er entrüstet, daß er hin muß, weil dort unrediche Besitzer sind oder Minister, die sich mit Stuten verheiraten, was das Menschengeschlecht herabsetzt. Kurz, keiner von den Staaten billigt seine eigenen Motive für den Krieg, sondern er verabscheut sie und schaut sich nach andern, besseren um. Die einzige unfeine Nation ist die Sowjetunion, die für die Besetzung Polens, wie es gegenüber den Nazis unterlegen war, überhaupt keine Gründe angegeben hat, die sich haben sehen lassen können, so daß die Welt hat annehmen müssen, es ist einfach aus Gründen militärischer Sicherheit gemacht worden, also aus ganz gemeinen, egoistischen Gründen. (S. 1487)
So wie »wir« heute die Ukraine »assoziieren«, heimholen nach Europa, ins gelobte Reich der kapitalistischen Freiheit, um sie vor dem so unglaublich gemeinen Zugriff Rußlands zu bewahren. Ihre Kornkammer gehört ja sowieso ebenso »uns« wie ihr Menschenmaterial, ihre Freiheitskämpfer. Wenn auch sonst zu nichts, als Bannerträger und Kanonenfutter gegen Rußland taugen sie allemal.
Kalle:
… Edle Motive für moderne Kriege werden schon daher gerne geglaubt, weil die eventuell wirklichen, die man sich vorstellen könnt, zu schweinisch sind. (S. 1488)
Also sich mit dem demokratischen Aussehen nicht vertragen.
(Januar 2016)