Isaac Deutscher (1907-1967) wurde hierzulande insbesondere durch seine ausgezeichneten, lesenswerten Biografien Trotzkis und Stalins bekannt. Er hielt im Jahre 1966 bei einem TeachIn in den USA nachfolgenden Vortrag. Darin greift er bürgerliche Urteile über den Marxismus auf: Zum einen die Vorstellung, daß, insofern man einen Menschen in den Sozialismus verpflanzt, er aufgrund seiner Menschennatur dem nicht entsprechen könne, der Sozialismus also per se menschenwidrig sei. (Wie sollte das auch möglich sein bei einem Menschen mit seinen Vorurteilen und seinem Opportunismus, die ihn für den kapitalistischen Staat so wertvoll machen?) Zum anderen die Gleichsetzung der Sowjetunion und Chinas mit der Marxschen Kritik. Nachdem sowohl Rußland wie China mittlerweile zum Kapitalismus zurückgekehrt sind, gilt auch diese Kritik als endgültig erledigt… (24.04.24)
Isaac Deutscher
Die sozialistische Konzeption des Menschen
Marxisten widerstrebt es im allgemeinen, über den sozialistischen Menschen zu sprechen. Jeder Versuch, den Menschen der klassenlosen Gesellschaft der Zukunft zu porträtieren, hat notgedrungen einen utopischen Anstrich. Solche Beschreibungen waren die Domäne der großen Visionäre des Sozialismus, der Saint-Simon und Fournier, die wie die französischen Rationalisten des 18. Jahrhunderts glaubten, daß sie (und damit die Vernunft) endlich den idealen Menschen entdeckt hätten, und daß dieser Entdeckung nun unmittelbar die Verwirklichung folgen müsse. Nichts lag Marx und Engels und den bedeutenden Marxisten späterer Generationen ferner als dieser Gedanke. Sie verkündeten der Menschheit nicht: »Hier ist das Ideal, fallt vor ihm auf die Knie«, sie zeichneten kein Prospekt der zukünftigen Gesellschaft, sondern widmeten all ihre Kraft der gründlichen, realistischen Analyse der bestehenden, kapitalistischen Gesellschaft; den Klassenkampf ihrer Zeit vor Augen, weihten sie sich der Sache des Proletariats.
Bei aller Hingabe an die Erfordernisse ihrer Zeit kehrten sie aber der Zukunft nicht den Rücken. Sie versuchten, wenigstens die Umrisse der Zukunft zu erraten, aber sie formulierten ihre Vermutungen mit bemerkenswerter Zurückhaltung und auch das nur sehr selten. In ihren umfangreichen Schriften haben uns Marx und Engels nur wenige, verstreute Hinweise zu unserem Thema hinterlassen, bedeutsam aufeinander bezogene Andeutungen, die neue Horizonte eröffnen, aber eben nur Andeutungen. Zweifellos hatte Marx seine Vorstellung vom sozialistischen Menschen, aber das war die Arbeitshypothese des Analytikers, nicht die Erleuchtung eines Visionärs. Und obwohl er vom historischen Realismus seiner Antizipationen überzeugt war, stand er ihnen doch mit einer gewissen Skepsis gegenüber.
Marx suchte, nach seinen eigenen Worten, nach den Keinen des Sozialismus im Leibe des Kapitalismus; darum konnte er auch nur den Keim des sozialistischen Menschen sehen. Auf die Gefahr hin, Erwartungen zu enttäuschen, muß ich sagen, daß wir bis heute nicht mehr tun können. Nach all den Revolutionen unseres Zeitalters und trotz allem, was wir seit Marx über die Gesellschaft gelernt haben, sind wir in dieser Hinsicht nicht über ihn hinausgekommen. Was wir zum Problem des sozialistischen Menschen sagen können, bleibt notwendigerweise sehr allgemein, fragmentarisch und in bestimmter Weise negativ. Wir können leichter bestimmen, wie der sozialistische Mensch nicht sein wird, als wie er sein wird. Im gleichen Maße aber, wie eine Negation zugleich eine Position impliziert, weist negative Charakteristik des sozialistischen Menschen auch auf einige seiner positiven Züge hin.
Der Marxismus sieht den Hauptwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die wesentliche Ursache ihrer Anarchie und Irrationalität in dem Konflikt zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung des modernen Produktionsprozesses einerseits und dem nicht gesellschaftlichen Charakter der Kontrolle, die das Privateigentum über diesen Prozeß ausübt. Die moderne Technik und Industrie tendieren zu einer Vereinigung der Gesellschaft, das Privateigentum an den Produktionsmitteln reißt sie auseinander. Der vergesellschaftete Produktionsprozeß — ein Stück Kollektivismus inmitten der neokapitalistischen Wirtschaft — muß von den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen befreit werden, die ihn einzwängen und stören. Mehr als ein Jahrhundert hindurch waren bürgerliche Ökonomen blind für diesen Widerspruch, ehe Keynes und seine Schüler ihn in der ihnen eigenen, eklektischen Weise bemerkten und damit der Marxschen Kritik unfreiwilligen Tribut zollten.
Aber alles, was Keynesianismus und Neokapitalismus — die vom Gespenst des Kommunismus mehr denn je heimgesucht werden — tun können, ist der Versuch, auf Basis des Privateigentums (d.h. der monopolkapitalistischen Unternehmen) eine Art von pseudo-gesellschaftlicher Kontrolle über den vergesellschafteten Produktionsprozeß einzuführen. Es geschieht nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal, daß Menschen sich verzweifelt mühen, archaische Institutionen und Lebensweisen in ein Zeitalter hinüberzuretten, das sie nicht brauchen kann. In meiner Heimat Polen habe ich einmal einen Bauern gesehen, der zufällig ein altes Auto bekam, vor das er unbedingt seine Pferde spannen wollte. Keynesianismus und Neokapitalismus spannen die Pferde des Privateigentums vor die atomgetriebenen Fahrzeuge und Raumschiffe unserer Zeit und setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um uns am Ausspannen zu hindern.
Unsere Konzeption des Sozialismus ist keine willkürliche, intellektuelle Konstruktion, sondern eine sorgfältige Extrapolation und Projektion jener Elemente rationaler sozialer Organisation, die bereits der kapitalistischen Gesellschaft inhärent sind, aber ständig von ihr durchkreuzt und negiert werden. In ähnlicher Weise ist unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen eine Projektion des gesellschaftlichen Menschen, der bereits der Möglichkeit nach in uns existiert, aber durch die Lebensbedingungen, unter denen er leben muß, verstümmelt, zerschlagen und widerlegt wird. (Der Keim des sozialistischen Menschen ist selbst im entfremdeten Arbeiter unserer Zeit gegenwärtig in den seltenen Augenblicken, wenn er seiner Rolle in der Gesellschaft bewußt wird, sich zur Klassensolidarität erhebt und für seine Befreiung kämpft.) So wurzelt unsere Zielvorstellung in der Wirklichkeit, wird von ihr bestärkt und bleibt in ihr befangen.
Wir wissen, was der sozialistische Mensch nicht sein wird: das Produkt einer antagonistischen Gesellschaft. Er wird nicht mehr der kollektive Produzent sein, der von seinem eigenen Produkt und seiner sozialen Lebenswelt kontrolliert wird, statt sie zu kontrollieren. Er wird nicht Spielball der blinden Kräfte des Marktes sein, noch Roboter einer staatlich organisierten, neokapitalistischen Kriegswirtschaft. Er wird nicht der entfremdete und geduckte Arbeiter früherer Tage sein, noch die langweilige Imitation des Kleinbürgers, wozu ihn unser sogenannter Wohlfahrtsstaat macht. Er kann nur zu sich selbst kommen als Kollektivarbeiter in einer höchst entwickelten, kollektivistischen Gesellschaft. Nur eine solche Gesellschaft erlaubt, die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf ein erträgliches Minimum zu reduzieren, was die moderne Technik schon möglich macht. Erst in dieser Gesellschaft wird der sozialistische Mensch seine materiellen und geistigen Bedürfnisse in Sicherheit, nicht zufällig, befriedigen können, rational, nicht in bizarren Formen. Nur in dieser Gesellschaft wird er sich bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse und beim Gebrauch seiner freien Zeit mittels durchgebildetem Differenzierungsvermögen und kluger Wahl selbst organisieren können, statt geheimen oder lautstarken Verführern der kommerziellen Reklame zu folgen. Nur in einer sozialistischen Gesellschaft wird der Mensch imstande sein, all seine biologischen und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln, seine Persönlichkeit auszubilden und zu integrieren und sich von dem düsteren Erbe tausendjähriger materieller Knappheit, Ungleichheit und Unterdrückung frei zu machen. Nur in einer solchen Gesellschaft werden die Menschen endlich die Scheidung von fysischer und intellektueller Arbeit überwinden können, die die Ursache der Entfremdung des Menschen vom Menschen, der Aufteilung der Menschheit in Herrscher und Beherrschte, in antagonistische Klassen, war, die die fortgeschrittene Technik gerade jetzt überflüssig macht, während das neokapitalistische System daran arbeitet, sie mit allen Kräften zu verewigen. Erst auf dem Höhepunkt unserer Kultur und Zivilisation kann sich der sozialistische Mensch zu seiner vollen Größe erheben. Dieser Gipfelpunkt ist bereits in Sichtweite, aber unsere Eigentumsverhältnisse, die sozialen Institutionen und unser tief verwurzeltes Beharrungsvermögen hindern uns, uns so rasch wie möglich darauf zuzubewegen.
Unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen ist oft wegen ihres furchtlosen Optimismus kritisiert worden. Man sagt uns, auch wir seien Utopisten und unsere geschichts-filosofischen und psychologischen Annahmen seien unhaltbar. Man sagt, das »Paradies auf Erden«, von dem die Propagandisten des Sozialismus gesprochen haben, sei ebenso unerreichbar wie das himmlische Paradies, das die Theologen versprachen. Wir müssen dieser Kritik aufmerksam zuhören, manchmal sind ein paar Körnchen Wahrheit darin enthalten. Wir müssen zugeben, daß wir oft eine allzu optimistische Vorstellung hatten, wenn nicht vom Sozialismus, dann doch von den Wegen dahin. Aber wir müssen uns auch klarmachen, daß viele dieser kritischen Bemerkungen lediglich Produkte jener Untergangsstimmung sind, die die bürgerliche Gesellschaft und ihre Ideologen erfüllt, oder in irrational verarbeiteter Enttäuschung von Menschen aus unserem eigenen Lager ihre Wurzeln haben. Die Existentialisten sagen uns, daß wir den Grundbefindlichkeiten menschlichen Daseins entfliehen möchten und die unausweichliche Absurdität unseres Schicksals leugnen. Es ist außerordentlich schwierig, mit Gegnern, die unterm Aspekt der Ewigkeit und von rein teleologischen Prämissen her argumentieren. Der pessimistische Existentialist stellt die alte Frage: Was ist der Sinn oder das Ziel menschlicher Existenz und menschlichen Tuns, wenn man sie mit der Unendlichkeit von Zeit und Raum vergleicht? Darauf haben natürlich weder wir noch der Existentialist eine Antwort. Aber die Frage selbst ist sinnlos, da sie das Bedürfnis nach einem absoluten, metafysischen Zweck menschlicher Existenz postuliert, der für die Ewigkeit gilt. Einen solchen Zweck kennen wir nicht und wir haben auch kein Bedürfnis danach. Wir sehen in unserer Existenz weder metafysischen Sinn noch Absurdität — das sind übrigens nur zwei Seiten derselben Medaille; nur wo ein Sinn postuliert wird, kann man von Absurdität reden.
Das menschliche Leben, mit dem wir uns befassen, ist nicht die Einsamkeit des Menschen in der Unendlichkeit von Raum und Zeit. In dieser Unendlichkeit sind selbst die Begriffe Einsamkeit und Absurdität bedeutungslos. Wir beschäftigen uns mit der Lage des Menschen in einer Gesellschaft, die er selbst geschaffen hat und verändern kann. Das Argumentieren unterm Aspekt der Ewigkeit ist filosofisch steril und sozial reaktionär. Man kann damit moralische Indifferenz und politischen Quietismus rechtfertigen. Die filosofischen Argumente werden zu Argumenten für die resignierte Anerkennung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie sind. Glücklicherweise können Existentialisten — wie das bemerkenswerte Beispiel Sartres bezeugt — filosofisch inkonsequent sein und trotz ihrer Überzeugung von der Absurdität menschlicher Existenz die Idee vom sozialistischen Menschen akzeptieren.
Spezifischer ist die Kritik marxistischer und sozialistischer Hoffnungen, wie sie Sigmund Freud in seiner Schrift »Das Unbehagen in der Kultur«(1930) vorgenommen hat. Unserer Vorstellung davon, was der Mensch in einer Gesellschaft ohne Klassen und Staat sein kann, entgegnet Freud mit dem alten Spruch »homo homini lupus«, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Menschliche Wesen, sagt er, werden immer aggressiv und feindselig einander gegenüberstehen; ihre aggressiven Instinkte sind biologisch festgelegt und werden durch Änderungen der Gesellschaftsstruktur nicht wesentlich beeinflußt. »Die Kommunisten«, sagt Freud, »glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen einen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen.«
Ehe ich fortfahre, möchte ich zunächst prüfen, ob Freuds zusammenfassende Darstellung der marxistischen Ansichten korrekt ist. Glauben wir wirklich, daß der Mensch von Natur aus »eindeutig gut« und »seinem Nächsten wohlgesinnt« ist? Freud, der über die marxistische Theorie ziemlich schlecht informiert war, fand zweifellos derartige Behauptungen in der populären, kommunistischen oder sozialdemokratischen Propaganda. Die ernstzunehmende marxistische Theorie stellt hingegen keinerlei derartige Sätze über die Menschennatur auf; am ehesten kann man die Quelle solcher Anschauungen in den feuerbachianischen Jugendschriften von Marx auffinden. Ich erinnere mich, daß mich dies Problem als junger Mensch sehr beschäftigt hat, als ich mich mit marxistischer Theorie anfreundete und über die der Theorie zugrunde liegende Konzeption der menschlichen Natur ins Klare kommen wollte. Nachdem ich mich durch die Schriften von Marx, Engels, Kautsky, Plechanow, Mehring, Rosa Luxemburg, Lenin, Trotzki und Bucharin hindurchgelesen hatte, kam ich zu dem Schluß, daß deren Annahmen über die menschliche Natur wesentlich »neutral« waren. Sie hielten den Menschen weder für »eindeutig gut«, noch für »eindeutig schlecht« und weigerten sich, die metafysischen Vorstellungen einer unwandelbaren, von sozialen Bedingungen unbeeinflußten Menschennatur zu akzeptieren. Ich bin immer noch der Meinung, daß dieser Schluß, zu dem ich damals vor vierzig Jahren kam, richtig ist.
Der Mensch ist Produkt der Natur, speziell jener Natur, die sich als menschliche Gesellschaft der außermenschlichen Natur entgegenstellt. Wie immer die biologische Basis unseres Lebens beschaffen sein mag, — die sozialen Verhältnisse spielen die entscheidende Rolle bei der Formung unseres Charakters, und selbst die biologischen Faktoren werden durch unsere soziale Persönlichkeit gebrochen und teilweise umgeformt. Die menschliche Natur und ihre Triebe sind bisher durch die sozialen Bedingungen in starkem Maße unterdrückt und entstellt worden, und nur wenn diese Bedingungen ihre unterdrückende und verzerrende Qualität verlieren, werden wir eine deutlichere und wissenschaftlichere Vorstellung von den biologischen und sozialen Elementen der Menschennatur haben als bisher.
Die wesentliche Kritik an Freuds Theorie, die ein Marxist üben muß […] bezieht sich darauf, daß Freud und seine Schüler nur zu oft diese Brechung und Transformation der Triebe des Menschen durch seine sich wandelnde soziale Identität unberücksichtigt lassen, — und dabei war es Freud, der uns auf die Prozesse der Sublimierung aufmerksam gemacht hat. Die Psychoanalyse konnte sich bisher nur mit dem bürgerlichen Menschen der imperialistischen Epoche befassen. Sie präsentierte ihn als den Menschen schlechthin, behandelte seine inneren Konflikte in überhistorischer Manier als Konflikte von Menschen aller Epochen, aller sozialen Ordnungen, — als der menschlichen Existenz inhärente Konflikte. Unter diesem Aspekt kann der sozialistische Mensch nur als eine Variation des bürgerlichen Menschen erscheinen. Freud selbst sagt dazu: »Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht.« Dann macht er folgende, noch weitaus kategorischere Aussage: »Sie (die Aggression) ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in Urzeiten, als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigte sich bereits in der Kinderstube, kaum daß das Eigentum seine anale Urform aufgegeben hat. … Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muß.« Freud warnt uns also, der sozialistische Mensch werde nicht weniger als der bürgerliche aggressiv und feindselig gegen seine Mitmenschen sein, und seine Feindseligkeit werde sich selbst im Kindesalter zeigen.
Freud sieht im Privateigentum ein starkes Aggressionsinstrument, aber er behauptet in dogmatischster Weise, daß es nicht das stärkste sei. Woher weiß er das? Wie mißt er die relative Stärke der verschiedenartigen Aggressionsinstrumente? Wir Marxisten sind darin bescheidener und weniger dogmatisch: Wir behaupten nicht, vergleichende Messungen angestellt zu haben, die es uns gestatten würden, sexuelle Triebe und triebhafte Aggression gegen soziale Bedürfnisse, Interessen und Zwänge abzuwägen. Die biologischen Triebe werden beim sozialistischen Menschen so wie beim heutigen gegeben sein, aber wir wissen nicht, in welcher Brechung sie in seiner Persönlichkeit zum Ausdruck kommen werden. Wir können nur vermuten, daß sie ihn in einer anderen Weise motivieren werden als den bürgerlichen Menschen. (Ich vermute sogar, daß der sozialistische Mensch dem Psychoanalytiker reicheres und verläßlicheres Material für Forschung und Theorie liefern wird, weil ein künftiger Freud in ihm die Arbeit der Triebe direkter beobachten können wird, nicht durch eine dunkle Brille, durch die verzerrenden Prismen der Klassenpsychologie des Analytikers und seines Patienten.) Freud irrt sich auch, wenn er das Eigentum lediglich ein Instrument unserer aggressiven Instinkte nennt. Im Gegenteil: das Eigentum nutzt jene Instinkte häufig als Instrumente und entwickelt seine eigene Vielfalt von aggressiven Trieben. Ferner haben sich in der Geschichte in Armeen organisierte Menschen gegenseitig abgeschlachtet wegen des Eigentums oder wegen Eigentumsforderungen, aber sie haben bisher — außer in der Mythologie — keine Kriege wegen sexueller Privilegien geführt.
Wenn Freud behauptet, daß die Abschaffung des Eigentums »die Unterschiede von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht«, ebensowenig ändern wird wie »die Natur der menschlichen Aggression«, so bleibt er den Beweis schuldig. Und wenn er schreibt, daß »Aggression … fast uneingeschränkt in Urzeiten herrschte, als das Eigentum noch sehr armselig war«, so entgeht ihm, daß es gerade die materielle Knappheit war, die die Einheit der primitiven Gesellschaft zerstörte, weil sie grausame Kämpfe um knappe Ressourcen auslöste, die die Gesellschaft in antagonistische Klassen spaltete.
Gerade deshalb halten wir daran fest, daß der sozialistische Mensch nur vorstellbar ist auf der Basis eines beispiellosen Überflusses von materiellen und kulturellen Gütern und Dienstleistungen. Das ist das ABC des Marxismus. Einer meiner Freunde, ein alter, weiser Psychoanalytiker, sagt oft seufzend: »Wenn doch Freud Engels ›Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates‹ gelesen hätte; – er hätte manche Umwege und Irrtümer vermeiden können!« Er hätte dann jedenfalls denen keine Munition geliefert, für die das ›homo homini lupus‹ der Schlachtruf gegen Fortschritt und Sozialismus ist, und die mit dem Buhmann der ewigen menschlichen Wolfsnatur im Interesse des realen, blutrünstigen imperialistischen Wolfes operieren. […]
Er scheint freilich andere Möglichkeiten geahnt zu haben: »Hebt man auch dieses« (das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen) »durch die völlige Befreiung des Sexuallebens (auf), beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so läßt sich nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann…« Diese Perspektive kann er sich jedoch nicht vorstellen, da ihm die monogame Familie als Keimzelle der Kultur gilt; er kann sich nicht lösen von seinem Patienten, dem bürgerlich monogamen Menschen, der vor ihm auf der Couch liegt. Obwohl er mit Unbehagen zugesteht, daß wir nicht vorhersehen können, welche neuen Wege der Kulturentwicklung sich nach Beseitigung der gegenwärtigen Familieninstitutionen ergeben werden, ist er doch sicher, daß die unaufhebbare Destruktivität der Menschennatur auch den sozialistischen Menschen heimsuchen wird, jenseits von Klasse, Gesellschaft, Staat und Familie.
Wir Marxisten bescheiden uns hier wiederum mit einem Stück Unwissenheit. Wir haben natürlich in erster Linie mit jener Grausamkeit und Unterdrückung zu tun, die direkt durch Armut, Knappheit am Gütern, die Klassengesellschaft und die Herrschaft von Menschen über Menschen verursacht wird. Wann immer Freud sich auf das Gebiet der Soziologie und Geschichte begibt, sitzt er dem Vorwurf auf, willentlich oder unwillentlich die bestehende Gesellschaft zu rechtfertigen. […]
Wir sagen nicht, daß der Sozialismus alle Probleme der menschlichen Gattung lösen wird. Wir kämpfen in erster Linie gegen Übel, die der Mensch angerichtet hat, und die er bewältigen kann. […] Wenn wir gegen soziale Ungleichheit und Unterdrückung kämpfen, kämpfen wir zugleich für eine Milderung der Schläge, die die Natur uns versetzt. Ich meine, daß der Marxismus die Probleme unserer Gesellschaft am richtigen Ende anpackt. […] Unsere Vorstellung vom sozialistischen Menschen inspirierte hingegen [gegen die Freudianer] einen riesigen Teil der Menschheit, und obwohl wir mit wechselndem Erfolg gekämpft haben und schreckliche Niederlagen erlitten, haben wir doch Berge versetzt, während alle Psychoanalyse dieser Erde die überkochende Aggressivität unserer Zeit nicht um ein Jota vermindern kann.
Auch für den sozialistischen Manschen, werden natürlich Sexualität und Tod Probleme darstellen, aber wir sind sicher, daß er ihnen besser ausgerüstet entgegentreten wird. Und sollte sein Wesen aggressiv bleiben, so wird ihm seine Gesellschaft ungleichlich vielfältigere und bessere Möglichkeiten zur Triebsublimierung bieten, als sie dem Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft zur Verfügung standen. Auch wenn der sozialistische Mensch nicht ganz »frei sein wird von Schuld und Schmerz«, wie Shelley träumte, mag er doch »zepterlos, frei und unbeschränkt sein, ein gleicher Mensch, nicht in Klasse, Stamm, Nation eingezwängt, frei von Götzendienst und Gottesfurcht.« Das durchschnittliche Mitglied der sozialistischen Gesellschaft wird sich – wie Trotzki antizipierte – zur Größe eines Aristoteles oder Marx erheben, die – wie immer ihre Triebstruktur beschaffen war – die großartigsten bisher erreichten Entwicklungen unserer Gattung repräsentieren. Und wir vermuten, daß sich »über diesen Höhen neue Gipfel erheben werden«. Wir sehen im sozialistischen Menschen nicht das letzte, vollkommenste Produkt der Entwick-lung oder das Ende der Geschichte, sondern den eigentlichen Anfang der Geschichte. Der sozialistische Mensch mag das »Unbehagen« fühlen, die Unruhe und Qual, die die Kultur dem Tier im Menschen aufbürdet. Es kann sogar im Zentrum seiner inneren Widersprüche und Spannungen stehen, die ihn dazu treiben, ein Niveau zu erreichen, das einstweilen jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.
Die vorgetragenen Anschauungen sind oder sollten für jeden Marxisten selbstverständlich sein und ich muß mich vielleicht entschuldigen, daß ich sie auf einer Konferenz wie der unseren (Socialist Scholars‘ Conference) wiederhole. Beim gegenwärtigen Stand der Arbeiterbewegung und des sozialistischen Denkens müssen jedoch bestimmte elementare Einsichten wiederholt werden, weil sie vergessen oder verfälscht werden um zweifelhafter politischer Vorteile willen. So wurde mir z.B. gesagt, der eigentliche Gegenstand meiner Analyse müsse jener sozialistische Mensch sein, der heute in der UdSSR oder in China lebt. Ich könnte diesen Standpunkt nur dann teilen, wenn ich der Meinung wäre, daß diese Länder den Sozialismus bereits weitgehend oder gänzlich erreicht hätten. Diese Vorstellung kann ich nicht teilen und ich glaube nicht, daß das typische oder auch das fortgeschrittene Mitglied der sowjetischen oder der chinesischen Gesellschaft von heute als sozialistischer Mensch beschrieben werden kann.
Wir alle reden natürlich üblicherweise von der UdSSR, China und den Verbündeten oder nichtverbündeten Staaten gleichen Typs als von »sozialistischen Ländern«, und wir können das tun, solange wir den nach-kapitalistischen Charakter dieser Regime (im Gegensatz zu den kapitalistischen) meinen oder auf die sozialistischen Ursprünge bzw. die Leitideen ihrer Regierung und Politik hinweisen wollen. Hier aber geht es mir um eine theoretisch präzise Beschreibung der Struktur ihrer Gesellschaft und der Verhältnisse zwischen den Menschen, wie sie sich innerhalb dieser Struktur entwickeln. Vor mehr als 30 Jahren verkündete Stalin, die Sowjetunion habe den Aufbau des Sozialismus beendet; trotz Entstalinisierung und trotz des Abbaus vieler stalinistischer Mythen ist das ein zentraler Glaubenssatz der offiziellen sowjetischen Ideologie geblieben. Mehr noch, Stalins Nachfolger behaupten, die Sowjetunion befinde sich jetzt im Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus, sie trete in den höheren Zustand der klassenlosen Gesellschaft ein, der den Zyklus sozialistischer Transformation abschließt, der durch die Oktoberrevolution eingeleitet wurde.
Sprecher der Volksrepublik China haben ähnliche Ansprüche für ihr Land erhoben. Das stalinistische Dogma vom vollendeten Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion hat die populäre Vorstellung vom sozialistischen Menschen in starkem Maße beeinflußt und verändert, sogar das Denken einiger Sozialisten. Eins aber ist klar oder sollte doch klar sein: der typische Mensch der sowjetischen Gesellschaft, ob unter Stalin oder unter seinen Nachfolgern, steht in so schlagendem Gegensatz zur marxistischen Konzeption vom sozialistischen Menschen, daß wir ihn entweder nicht als solchen bezeichnen können oder
aber die marxistische Konzeption über Bord werfen müssen, wie die stalinistische Doktrin es stillschweigend getan hat. Es geht uns hier nicht um den Buchstaben des Evangeliums sondern um eine Frage von größter theoretischer und praktischer Bedeutung. Wenn unser Ziel der sozialistische Mensch ist, dann ist unsere Konzeption dieses sozialistischen Menschen wesentlich für unser theoretisches Denken, für das moralisch-politische Klima der Arbeiterbewegung und für unsere eigene Fähigkeit oder Unfähigkeit, unsere Arbeiterklasse zu inspirieren.
Der sozialistische Mensch wurde von Marx und seinen Schülern – vor Stalin – als frei assoziierter Produzent gesehen, der selbst auf der sogenannten unteren Stufe des Kommunismus in einer rational geplanten Wirtschaft arbeitet, nicht länger mehr der Käufer oder Verkäufer ist, der seine Produkte auf dem Markt handelt, sondern Produzent von Gütern für die Gesamtgesellschaft, der das, was er zu persönlichem Verbrauch benötigt, aus dem gemeinsamen Vorrat der Gesellschaft erhält. Per definitionem lebt der sozialistische Mensch in einer klassenlosen Gesellschaft ohne Staat, frei von sozialer oder politischer Unterdrückung, auch wenn er anfänglich noch eine – allmählich schwindende – Last ererbter sozialer Ungleichheit zu tragen hat. Die Gesellschaft, in der er leben kann, muß so weit entwickelt sein, so wohlhabend, gebildet und zivilisiert sein, daß es kein objektivesBedürfnis, keine Notwendigkeit gibt, die zum Wiederaufleben von Ungleichheit oder Unterdrückung führen.
Das hielten alle Marxisten vor Stalin für selbstverständlich. Dies Ideal inspirierte Generationen von Sozialisten, ohne es hätte der Sozialismus als geschichtsmächtige Kraft des Jahrhunderts nie das Licht der Welt erblickt. Der Marxismus hat den realistischen Charakter dieses Ideals demonstriert; er zeigte, daß die gesamte Entwicklung der modernen Gesellschaft mit ihrer Technologie, Industrie und dem zunehmend vergesellschafteten Produktionsprozeß auf dies Ziel hintendiert. Der sozialistische Mensch aber, den Stalin und seine Nachfolger der Welt präsentierten, ist eine klägliche Parodie auf die marxistische Konzeption. Es ist richtig: der sowjetische Bürger lebt in einer Gesellschaft, wo der Staat und nicht die Kapitalisten die Produktionsmittel besitzt, und das spiegelt sich bereits in einigen fortschrittlichen Zügen seiner Mentalität. Selbst die zurückgebliebensten sowjetischen Arbeiter halten das öffentliche Eigentum an den Produktionsmitteln für selbstverständlich. Der private Besitz einer Fabrik oder eines Bergwerks erscheint ihm als empörendes Relikt aus barbarischer Vergangenheit. Er schaudert beim bloßen Gedanken daran. Er blickt darauf zurück wie der durchschnittliche Mensch der bürgerlichen Gesellschaft auf die Sklaverei – ein gesellschaftliches Verhältnis, das den Menschen erniedrigt. Aber diese fortschrittlichen Züge in der Einstellung des sowjetischen Menschen sind nicht die vor-
herrschenden Züge seines Sozialcharakters.
Die sowjetische Gesellschaft litt und leidet noch unter materieller Knappheit, in erster Linie an extremer Konsumgüterknappheit. Das führte im Laufe von Jahrzehnten zu einem unvermeidlichen Wiederaufleben und zur Verstärkung der sozialen Ungleichheit, zu einer tiefen Kluft zwischen einer privilegierten Minderheit und einer beraubten Mehrheit, zum spontanen Wiedererstehen der ökonomischen Kräfte des Markts und zur Erneuerung und zu furchterregendem Anwachsen der Unterdrückungsfunktionen des Staates. Der sozialistische Mensch, den Stalin der Welt präsentierte, war der hungrige, schlechtgekleidete, schlecht beschuhte oder barfüßige Arbeiter, der Bauer, der auf dem schwarzen oder grauen Markt ein Hemd, ein Möbelstück, ein paar Unzen Mehl oder auch nur ein Stück Brot kaufte oder verkaufte; der täglich zehn oder zwölf Stunden unter einer kasernenähnlichen Fabrikdisziplin arbeitete und manchmal für irgendein wirkliches oder vorgebliches Vergehen mit jahrelanger Zwangsarbeit im Konzentrationslager zahlen mußte. Er wagte nicht, einen Fabrikdirektor zu kritisieren, schon gar nicht einen Parteiboß. Er hatte nicht das Recht, irgendeine Meinung zu einem größeren Problem zu äußern, das sein oder seines Landes Schicksal betraf. Er hatte zu wählen, wie man es ihm befahl, dem Führer mit frenetischem Beifall zu applaudieren, seine Würde und Persönlichkeit durch den sogenannten Personenkult verhöhnen zu lassen. Das sind die Tatsachen, die gegenwärtig offiziell von den sowjetischen Führern beschrieben werden und sich in einer umfangreichen sowjetischen Literatur von größter Authenzität widerspiegeln. Und obwohl sich die Bedingungen in den vergangenen Jahren sehr verändert haben, sind Armut, Ungleichheit, Mangel an politischer und intellektueller Freiheit und der bürokratische Terror noch immer vorhanden.
Ich rufe all das nicht aus polemischen Gründen ins Gedächtnis zurück, schon weil ich die Hauptursache für diese Zustände nicht im bösen Willen der Herrschenden sehe – an dem es freilich nicht gefehlt hat –, sondern in den objektiven Bedingungen, in der überkommenen schrecklichen Armut, die die Sowjetunion (und jetzt China) unter den Bedingungen der Isolation, der Blockaden, Kriege und des Wettrüstens zu überwinden hatte. Es stand überhaupt nicht zur Debatte, daß ein Land wie dieses unter diesen Bedingungen fähig sein könne, den Sozialismus zu erreichen. Es mußte all seine Kräfte der »ursprünglichen Akkumulation« widmen, d.h. der Herstellung der wichtigsten ökonomischen Vorbedingungen unter Staatseigentum für den Aufbau eines wirklichen Sozialismus. Folglich ist die Sowjetunion auch heute noch eine Übergangsgesellschaft, irgendwo zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die Merkmale der einen wie der andern Gesellschaft kombiniert und sogar noch Spuren ihres noch primitiveren vorkapitalistischen Erbes zeigt. Das gleiche gilt leider auch für China, Vietnam, Nordkorea und den größten Teil Osteuropas.
Wir im Westen tragen eine schwere Verantwortung für die schlechte Lage dieser Gesellschaften; unser Versagen, den Sozialismus im Westen voranzutreiben, war die wesentliche Ursache ihres Mißlingens. Aber wenn wir unsere Aufgabe neu überdenken, um eine neue Generation von Sozialisten instand zu setzen, den Kampf aufzunehmen, müssen wir unsere Vorstellungswelt gründlich von den falschen Vorstellungen und Mythen über den Sozialismus befreien, die in den letzten Jahrzehnten aufgekommen sind. Wir müssen den Sozialismus ein für alle Mal nicht von der Sowjetunion oder China und ihren fortschrittlichen sozialen Errungenschaften, sondern von der stalinistischen und nachstalinistischen Parodie auf den sozialistischen Menschen ablösen.
Ich kann hier nicht auf die dogmatischen und Prestige-Motive eingehen, die Stalin und seinesgleichen zu der Behauptung veranlaßten, die Sowjetunion habe den Sozialismus erreicht, und die noch seine Nachfolger zur Aufrechterhaltung dieser Legende drängen. Ich will nur von dem Einfluß sprechen, den dieses Dogma, diese Prahlerei auf den westlichen Sozialismus hatte. Dieser Einfluß war verheerend. Er hat unsere Arbeiterbewegung demoralisiert und das sozialistische Denken verwirrt. Unsere arbeitenden Klassen haben mit der ihnen eigenen Klugheit die Entwicklung in der Sowjetunion beobachtet und ihre
eigenen Schlußfolgerungen daraus gezogen. »Wenn das das Ideal des sozialistischen Menschen ist«, sagten sie am Ende, »dann wollen wir nichts damit zu tun haben«. Viele unserer sozialistischen Intellektuellen reagierten ebenso oder sie wurden von der stalinistischen Mythologie und Scholastik dermaßen eingefangen, daß ihnen die Kraft ihrer sozialistischen Überzeugung verlorenging und sie sich selbst geistig soweit entwaffneten, daß sie unfähig wurden, gegen die Enttäuschung und Apathie der arbeitenden Klassen zu kämpfen.
Von den Jesuiten hat man gesagt, sie hätten, weil es ihnen nicht gelang, die Erde zum Himmel zu erheben, den Himmel auf die Erde heruntergezogen. In ähnlicher Weise haben Stalin und der Stalinismus, unfähig, das mit Armut geschlagene, elende Rußland zum Sozialismus zu führen, den Sozialismus auf das Niveau des russischen Elends heruntergebracht. Man könnte sagen, daß sie es tun mußten. Selbst wenn das stimmte, müssen wir etwas anderes tun: wir müssen den Sozialismus auf sein eigenes Niveau zurückbringen.
Wir müssen unseren arbeitenden Klassen und den Intellektuellen erklären, warum die Sowjetunion und China den sozialistischen Menschen nicht schaffen konnten, trotz ihrer bemerkenswerten Errungenschaften, für die wir ihnen Anerkennung und Respekt schulden. Wir müssen der Idee des sozialistischen Menschen ihre Aura wiedergeben. Wir müssen sie zuerst für unser Bewußtsein wiederherstellen und dann sozialistisches Bewußtsein und sozialistische Theorie mit gestärkter Überzeugung und mit neuen politischen Waffen in die Arbeiterklasse hineintragen.
[Nach dem Vortrag von Deutscher wurde ein Brief von Herbert Marcuse verlesen. Dann sprachen die Referenten Robert S. Cohen, Shane Nage, Donald McKelvey und Robert P. Wolff. Es folgten Fragen und Kommentare aus dem Publikum. Isaak Deutscher hatte das Schlußwort.]
Ich bin noch dabei, die schmerzliche Überraschung, die mir der erste Teil der Diskussion bereitet hat, zu überwinden. Man lernt selbst in meinem Alter noch dazu, man lernt nie aus. Ich bin den beiden letzten Sprechern dankbar, die mein Gefühl für Realität wieder einigermaßen hergestellt haben. Ob ich mit ihnen übereinstimme oder nicht, wir können darüber diskutieren. Dennoch glaube ich, daß ich vor allem auf die Redner des ersten Teils der Diskussion eingehen muß, da ich hier ein beunruhigendes Symptom jenes schöpferischen intellektuellen Ferments sehe, das die Köpfe der amerikanischen Intelligenz, der jungen Generation der amerikanischen Wissenschaftler erfüllt. Es gibt davon seltsame Nebenprodukte, die mir wirklich außerordentlich gefährlich erscheinen. Ich bin fast verdutzt über die Thesen Professor Marcuses. Da die ersten Redner eine Art von unterstützendem Chorus für ihren abwesenden Lehrer bildeten, muß ich mich leider auf Professor Marcuses Erklärung konzentrieren. Er bringt drei oder vier bedeutende Gesichtspunkte, aber in so vager und schwer zu fassender Art, daß die Diskussion ziemlich erschwert wird. Zunächst einmal stellt er fest, daß wir Marx und dem Marxismus weit
voraus sind, daß unsere fortgeschrittene westliche Gesellschaft den Marxismus überflüs-sig gemacht hat, und daß wir folglich über den Marxismus irgendwie hinausgehen müssen. Ich bin immer geneigt, ja zu sagen, wenn mir jemand sagt, der Marxismus sei sicher nicht das letzte Wort in der Entwicklung des menschlichen Denkens und wir müßten über den Marxismus hinausgehen. Das ist ein sehr marxistisches Argument gegen den Marxismus, und ich bin geneigt, ihm zuzustimmen. Aber man muß auch einen Augenblick darüber nachdenken, in welcher Beziehung der Marxismus wirklich so überholt ist und wohin wir über ihn hinausgehen sollen.
Zuerst muß ich die Frage stellen, ob der Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft, wie ihn der Marxismus analysiert und diagnostiziert hat — der Widerspruch zwischen dem vergesellschafteten Produktionsprozeß und der unsozialen Kontrolle der Produktion durch private Eigentümer — überwunden worden ist. Wird er nicht immer tiefer und irrationaler mit jedem Jahrzehnt? Man sagt uns, die fortgeschrittene amerikanische Gesellschaft habe die marxistische Analyse des Kapitalismus veralten lassen. Trifft das wirklich für diese Gesellschaft zu, die ihr Gleichgewicht und ihre Produktion nur durch beinahe permanente Kriegführung aufrechterhält? Ich verstehe einfach die logischen oder auch unlogischen Denkprozesse nicht, vermöge deren man zu solchen Schlüssen kommen kann. Man sagt uns, eine Diagnose, die auf der Basis der Technologie von 1867 gestellt wurde, könne man 1966 nicht aufrechterhalten. Darum hätten wir den Marxismus weit hinter uns gelassen. Mein Argument dagegen ist, daß Marx geistig seiner Zeit und der Gesellschaft, in der er lebte, soweit voraus war, daß wir selbst heute noch in gewisser Beziehung hinter ihm herhinken. Man braucht nur unserer Debatte zuzuhören, um einen Beleg dafür zu haben.
Marx hat tatsächlich vor 100 Jahren für den Sozialismus eine technologisch weit entwickelte Gesellschaft vorausgesetzt, die imstande wäre, einen solchen Überfluß von Gütern zu produzieren, daß für sein Jahrhundert selbst die Vision einer solchen Gesellschaft utopisch war. Analysierte man die Statistiken der ProKopf-Produktion in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts, so käme man zu dem Schluß, daß — sofern die sozialistische Revolution damals gesiegt hätte — sie (nach unserm heutigen Standard) in einem unterentwickelten Land gesiegt hätte. Das kann man Marx vorwerfen, daß er intellektuell seiner Zeit so weit voraus war, daß wir ihn noch immer nicht eingeholt haben.
Man sagt, Marx habe keine Gesellschaft vorhergesehen, in der Kybernetik, Maschinen und Computer in solchem Maße die Arbeit von Menschen ersetzen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Marx habe keine Gesellschaft vorhergesehen, in der die Wissenschaftler, die führenden Wissenschaftler so bedeutend sein würden. Aber Marx nahm im Gegenteil immer an, daß seine Gesellschaft bereits im Begriff sei, eine solche Gesellschaft zu werden, und darin hatte er recht. Es ist richtig, daß eine vor 100 Jahren formulierte Theorie in mancher Hinsicht veraltet sein muß, obwohl diejenigen, die das sagen, am Ende meist — sofern sie uns nicht gerade Drogen zur »Befreiung« von der Unterdrückung dieser Gesellschaft empfehlen — für eine Rückkehr zu vormarxistischen Ideen plädieren, manchmal für eine Rückkehr zum Christentum, das 2000 Jahre älter ist als der Marxismus.
Wenn wir es mit sehr gebildeten und aufgeklärten Kritikern des Marxismus zu tun haben, bieten sie uns häufig eine Rückkehr, eine Regression — aber keine infantile — zum utopischen Sozialismus oder zum Rationalismus des 18. Jahrhunderts an. Aber es gibt bestimmte Revolutionen im menschlichen Denken, die nicht rückgängig zu machen sind. Niemand kann zum vor-kopernikanischen System der Kosmologie zurückkehren, nachdem die Entwicklung des menschlichen Denkens von Kopernikus zu Einstein geführt hat; aber dazu brauchte es 250 Jahre.
Ich glaube nicht, daß die allgemeine marxistische Kritik am kapitalistischen System obsolet werden kann, solange wir dies System — wie immer weiterentwickelt — haben. Unser Überdruß an einigen bekannten Formeln und Binsenwahrheiten des Marxismus läßt sie nicht falsch oder nutzlos werden. Einige Leute glauben, man müsse nur auf den jungen Marx zurückgreifen, seine frühesten und sogar seine unreifen Gedanken über »Verdinglichung« und Entfremdung in und außerhalb ihres Zusammenhangs zu deklamieren, sie in Zirkeln zu wiederholen, um die Probleme unseres Zeitalters zu lösen. Aber sie gehen nicht über den Marxismus hinaus, sondern vom reifen zum unreifen, jugendlichen Marx zurück. Aber selbst der junge Marx war ein reifer Denker im Vergleich zu jenen, die jetzt, wie es ein Sprecher formulierte, eine Tendenz zur infantilen Regression zur Schau stellen. Ich sehe nur eine wichtige marxistische Prognose, die durch die reale Entwicklung bisher in gewissem Maße widerlegt worden ist: Der Sozialismus hat bisher nicht in einer der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften gesiegt, sondern in den zurückgebliebenen, wo eine feudale Struktur unter dem Einfluß des Kapitalismus zusammenbrach und wo feudal-kapitalistische Systeme unter dem Druck primitiver bürgerlicher und sozialistischer Revolutionen zusammenbrachen.
Als Erbschaft dieser geschichtlichen Entwicklung, die sich wirklich von der marxistischen Prognose unterscheidet, haben wir heute die mächtige Diskrepanz, die Kluft zwischen Ost und West, eine Kluft, die unglücklicherweise dazu tendiert, sich zum Schaden von Ost und West zu perpetuieren. Für Marxisten und Sozialisten, hier und anderswo, liegt das große Problem unseres Zeitalters, das Problem der Bewegung auf unser Ziel — den sozialistischen Menschen, eine sozialistische Gesellschaft — hin darin, wie diese Kluft zwischen den auseinanderweisenden geschichtlichen Wegen, die Ost und West eingeschlagen haben, sich überwinden läßt. Das ist das wirkliche Problem, vor der man sich nicht zu irgendwelchen Utopien der »befreienden« Drogen flüchten kann.
Ich wünschte, ich könnte die Begeisterung des Genossen auf der rechten Seite des Saales teilen, weil ich den großen revolutionären Idealismus und die internationale Bedeutung bestimmter revolutionärer Neuerungen, die die Chinesen vorgenommen haben, sehe. Unglücklicherweise wird uns solche souveräne, idealistische Verachtung der Realität der materiellen Lage Chinas nichts nützen, die Mißachtung der industriellen und kulturellen Rückständigkeit einer Gesellschaft, die den Heroismus aufbrachte, inmitten von Armut und Rückständigkeit eine sozialistische Revolution zu machen. Diese Bedingungen üben unglücklicherweise ihren Einfluß auf die Politik der chinesischen Regierung aus und bringen die Roten Garden dazu, nicht nur Rußlands sogenannten »Revisionismus« sondern auch Beethoven und Shakespeare als nutzlosen Unsinn einer degenerierten Bourgeois-Kultur zu verwerfen. Das kann ich nicht als Sozialismus anerkennen. Ich kann es nicht als eine befreiende Erfahrung akzeptieren. Ich kann auch den Mao-Kult um nichts besser als den Stalin-Kult finden, obwohl er in manchem entschuldbarer ist.
All diese Entwicklungen vertiefen die tragische Kluft zwischen den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften des Westens und ihrer Arbeiterklassen auf der einen und den nachkapitalistischen revolutionären Gesellschaften des Ostens auf der andern Seite. Es fällt einem dabei das historische Beispiel des Abgrunds ein, der sich während der Religionskriege zwischen katholischen und protestantischen Ländern auftat. Auch der Protestantismus begann als eine Befreiungsbewegung, als Protest gegen die Unterdrückung durch die katholische Kirche. Dann aber entwickelte auch der Protestantismus im Laufe der Auseinandersetzung seine unterdrückenden Züge. Nach Jahrzehnten und Jahrhunderten des Kampfes stabilisierte sich die Situation, und die Trennungslinie zwischen katholischen und protestantischen Ländern war nicht mehr auszulöschen. Die historische Koexistenz zweier rivalisierender religiöser Bekenntnisse, hinter denen mächtige soziale Bewegungen standen, war eine Tatsache geworden. Etwas ähnliches hat sich zu unseren Lebzeiten ereignet: wir sind Zeugen der aktuellen Koexistenz — einer antagonistischen, feindlichen Koexistenz — zweier relativ stabiler Systeme geworden: des westlichen kapitalistisch-imperialistischen Systems und des nachkapitalistisch halbsozialistischen des Ostens. Ich denke aber, daß diese historische Analogie wenigstens in einem Punkt irreführend ist. Protestantismus und Katholizismus konnten auf lange Sicht koexistieren. Die Welt der Zeit nach den Religionskriegen, des 17. und 18. Jahrhunderts, war noch nicht eine Welt, noch nicht durch Technologie und Industrie geeint. Es war eine in viele Einheiten junger Nationalstaaten feudaler und halbfeudaler Fürstentümer fragmentierte Welt.
Die Welt von heute ist nach Möglichkeit und Wirklichkeit eine Welt; die Entwicklung der Produktivkräfte läßt die Menschheit zu einer unlösbaren Einheit werden, die nach Integration verlangt. Entweder wird die Menschheit sozialistisch integriert oder sie wird unterge-hen. Daher ist eine Stabilisierung der Trennungslinien, wie sie nach den Religionskriegen bestand, heute unmöglich geworden. Die Welt wird und muß eine werden. Und nur der Sozialismus kann sie einigen. Der Kapitalismus kann sie nur auseinanderreißen und ins Verderben führen. Aber die Frage ist: welcher Weg führt zu dieser Vereinigung der Welt?
Marx sprach von der Geschichte der Menschheit als einer Geschichte von Klassenkämpfen. Aber es war natürlich nicht so, daß der Klassenkampf in der gesamten Geschichte, in allen Jahrhunderten und in der ganzen Welt mit gleicher Intensität ausgetragen wurde. Wie wir wissen, ist der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus eine Sache vieler Generationen. Ich fühle mich dadurch, daß sich der Klassenkampf in unserer westlichen Gesellschaft auf so niedriger Ebene abgespielt hat, nicht so entmutigt, daß ich die marxistische Analyse und Prognose aufgebe. Es ist natürlich wahr, daß unsere arbeitenden Klassen, vor allem die älteren Jahrgänge, sich von den verführerischen Vorteilen unseres sogenannten Wohlfahrtsstaates haben verwirren, demoralisieren und korrumpieren lassen. Aber ich denke, daß das Problem, das der späte C. W. Mills stellte, wer Triebkraft des Sozialismus ist, die Arbeiterklasse oder intellektuelle Eliten, besonders in Amerika eine gründliche Diskussion und gründliche Analyse verlangt, da es sich nirgendwo mit gleicher Schärfe stellt.
Vor 60 Jahren sagte ein großer russischer Marxist, Leo Trotzki, Westeuropa habe seine beiden Hauptprodukte in verschiedener Richtung exportiert: seine fortgeschrittenste Theorie, den Marxismus, nach Rußland, seine fortgeschrittenste Technologie in die Vereinigten Staaten. Aber das Rußland, das den Marxismus als Import aus Westeuropa erhielt, war technisch und industriell zurückgeblieben, die rückständigste unter den großen europäischen Nationen. Die technisch so weit entwickelten Vereinigten Staaten sind leider im politischen Denken zurückgeblieben; sie sind bis heute — ich bedaure, das sagen zu müssen — ein im politischen Denken höchst unterentwickeltes Land geblieben. Ich glaube, daß die großen TeachIn-Bewegungen dieser beiden letzten Jahre und Versammlungen wie diese hier beweisen, daß die Vereinigten Staaten ansetzen zum Versuch, ihre Rückständigkeit in Fragen des gesellschaftstheoretischen und politischen Denkens abzuschütteln. Aber wie viel bleibt da noch abzuschütteln.
Ich halte es für eine große Schwäche dieser Bewegung, daß hier eine solche Konferenz abgehalten wird, ohne daß die Arbeiterklasse irgendein Interesse daran nimmt. Und Ihr solltet Euch nicht darüber beklagen — Ihr habt kein Recht dazu —,weil so viele von Euch amerikamischen Sozialisten (ich möchte nicht verallgemeinern) kein Interesse für Eure arbeitenden Klassen zeigen. Ich neige nicht dazu, Protestbewegungen, die in der Intelligentsia entstehen, abzuwerten. Ich denke immer daran, daß im 19. Jahrhundert die russische Intelligenz die entsetzliche Last des Kampfes gegen die russische Autokratie auf ihren schwachen Schultern trug, die ganze furchtbare Bürde der russischen Revolution. Im 19. Jahrhundert zerschmetterten sich Generationen von russischen Intellektuellen in heroischer Selbstaufopferung den Kopf an den Eisenwällen der russischen Autokratie und gingen unter. Aber sie opferten sich nicht umsonst. Sie arbeiteten für die Zukunft. Auch Ihr arbeitet für die Zukunft und für den sozialistischen Menschen. Die russische Intelligentsia des 19. Jahrhunderts war außerordentlich isoliert — die Bauernschaft reagierte nicht auf sie und die industrielle Arbeiterklasse war noch nicht entstanden. Da sie allein kämpften, entwickelten sie eine gewisse Selbstüberschätzung; das große Epos des revolutionären Kampfes im Rußland des 19. Jahrhunderts ist voll pathetischer, exzentrischer
Episoden, denn Intellektuelle, die keinen lebendigen Kontakt zu den arbeitenden Massen ihres Landes finden, neigen dazu, sich in exzentrischer Weise auf sich selbst zu konzentrieren und die fantastischsten Wundermittel für die Gesellschaft auszudenken.
Unsere Diskussion hat ähnliche Schwächen der Intellektuellen im heutigen Amerika enthüllt. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich von meinem Thema, dem sozialistischen Menschen, abgehe, aber wir müssen über den Menschen diskutieren, der dem sozialistischen Menschen den Weg bereiten muß, und das seid Ihr. Ich bin davon überzeugt — und das ist nicht dogmatische Glaubensangelegenheit, sondern Produkt der marxistischen Gesellschaftsanalyse —, daß Eure Arbeiterklasse die entscheidende Triebkraft des Sozialismus bleibt, so wie sich die russische Arbeiterklasse als entscheidende Triebfeder des Sozialismus erwiesen hat, nachdem Generationen von Intellektuellen allein gekämpft hatten.
Auch Ihr mögt allein kämpfen. Es hängt von Euch ab, wie lange. Vielleicht nur für ein paar Jahre, wenn Ihr einen Weg zu Eurer Arbeiterklasse findet. Oder jahrzehntelang, wenn Ihr versucht, die Arbeiterklasse zu ignorieren. Ihr werdet Euch die Köpfe an — der Himmel weiß wie vielen — eisernen Wällen einrennen, falls Ihr Eure Arbeiterklasse ignoriert. Denn jede Protest- und Oppositionsbewegung gegen die mächtigen kapitalistischen Oligarchien wird sich auf lange Sicht als ohnmächtig erweisen, sofern sie nicht den nationalen Produktionsapparat fest in die Hand bekommt.
Es ist richtig, daß Eure Wissenschaftler heute den Produktionsapparat des Landes viel fester im Griff haben als in irgendeiner früheren Generation. Aber — was immer über Kybernetik und die große Vision einer super-kybernetischen Zukunft gesagt wird — die große Masse der Produzenten in dieser Gesellschaft stellen noch immer die Arbeiter. Und ich glaube nicht, daß sie viel mehr Grund haben, mit dieser Gesellschaft, mit ihrer entfremdeten Lebenssituation zufrieden zu sein, als die Intelligentsia, als Ihr jungen amerikanischen Sozialisten. Habt Ihr wirklich eine so geringe Meinung von Eurer Arbeiterklasse, daß Ihr meint, nur Ihr wäret sensibel und vornehm genug, mit dieser entwürdigenden Gesellschaft unzufrieden zu sein? Glaubt Ihr nicht, daß auch sie von sich aus Unzufriedenheit entwickeln können? Glaubt Ihr wirklich, sie sei von Natur her so viel leichter korrumpierbar durch die lockenden Vorteile dieses Kriegskapitalismus als Ihr?
Ich weiß, daß die älteren Altersgruppen der amerikanischen Arbeiterklasse fast völlig korrumpiert sind. Sie vergleichen ihre jetzige Lage mit dem, was sie in den dreißiger Jahren erlebt haben. Aber der Kopf des jungen amerikanischen Arbeiters ist sicher nicht durch die Tatsache verdreht, daß im elterlichen Hause ein Fernsehgerät steht und daß er sich ein Auto leisten kann. Er hält diese Dinge für selbstverständlich. Sie sind Teil des Lebensstandards, den er beim Erwachsenwerden vorfindet. Dadurch wird er sicherlich nicht korrumpiert, und er hat genug Verstand, um unzufrieden zu sein. Ich bin sicher, daß hinter seiner äußerlichen politischen Apathie viele Schichten von Zweifel und Unzufriedenheit liegen und ein Gefühl dafür, daß er seinen Lebensunterhalt durch Arbeit für Krieg und Tod verdienen muß. Könnt Ihr nicht mit diesem jungen Arbeiter sprechen und ihm sagen, daß man nur leben kann, wenn man für das Leben und nicht für den Tod arbeitet? Ist es unter der Würde amerikanischer Studenten, so etwas zu versuchen? Professor Marcuse sagt uns, daß wir auf die Arbeiterklasse nicht mehr rechnen können, aber er sagt uns nicht, auf wen wir zählen sollen. Er meint, wir sollten auf die jungen Leute zählen, die ihr Unbehagen an den sexuellen Konventionen dieser Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Natürlich sollten wir auch auf sie zählen. Schließlich hat Engels über die Ursprünge der Familie geschrieben und dargelegt, daß die Familie als Institution nur zu einer Fase oder zu bestimmten Fasen der gesellschaftlichen Entwicklung gehört; und er beschrieb die Konventionen der bürgerlichen Moral, die um die Familie herum aufgebaut worden sind. Wir sollten diese Unzufriedenheit mit der Familie und den sexuellen Konventionen bei der jungen Generation nicht ignorieren, aber manchmal habe ich den Eindruck, daß solche alten, verehrungswürdigen Lehrer wie Professor Marcuse sich einen Spaß mit uns erlauben, sich einfach auf unsere Kosten amüsieren. Zuerst sagt er, der Marxismus sei nicht utopisch genug gewesen; dann fährt er fort und sagt, die gegenwärtige Entwicklung zeige, daß die Vorstellung einer sozialistischen Revolution in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften unrealistisch und
veraltet sei, ebenso wie die Idee einer schrittweisen Umformung des Kapitalismus zum Sozialismus. Ziehen wir Bilanz: Revolution und Reformismus sind veraltete Ideen. Also gibt es keinen Weg vom Kapitalismus zum Sozialismus, weder den revolutionären noch den reformistischen. Warum soll man dann überhaupt über Sozialismus reden? Professor Marcuse sagt uns, daß der Sozialismus utopisch war und daß er nicht genug utopisch war. Wie kann ein alter und geachteter Lehrer soviel Unlogisches von sich geben und mit so unverantwortlich vagen Allgemeinheiten herumspielen. Diese Diskussion war für mich in vieler Hinsicht eine traurige Erfahrung. Aber ich bleibe ein unverbesserlicher Optimist. Ich halte das für die Gestehungskosten eines schöpferischen intellektuellen Ferments. Ich wünsche Euch Klarheit und Ehrlichkeit im Denken und wünschte, Ihr würdet Euch auf das Wesentliche konzentrieren, statt Euch durch zirkusartige Unternehmungen abzulenken, die mit ernsthaftem politischen Denken nichts zu tun haben.
Ihr könnt der Politik nicht entfliehen. Menschen leben nicht von der Politik allein, das ist wahr. Aber wenn Ihr nicht die großen Probleme löst, die der Marxismus, die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, die Beziehungen zwischen Intellektuellen und Arbeitern in dieser Gesellschaft stellen, wenn Ihr nicht einen Weg zur jungen Generation der amerikanischen Arbeiterklasse findet und den schlafenden Riesen der amerikanischen Arbeiterklasse aufweckt, ihn seinem Schlaf und seinem Opium entreißt, seid Ihr verloren. Eure einzige Rettung ist es, die Idee des Sozialismus wieder in die Arbeiterklasse hineinzutragen, und dann gemeinsam mit der Arbeiterklasse die kapitalistischen Bastionen zu stürmen. —