Literarisch sich eine Gesellschaftskritik anzueignen, dafür steht sein umfangreiches Werk wie kaum ein anderes.
Zunächst wurde ihm übrigens aus politischen Gründen der Nobelpreis verweigert, schließlich war Anatole France (1844-1924) ja Kommunist. Und dann, als er nicht umstandslos Partei für die Sowjetunion ergriff, bekam er ihn dann doch in dem guten Glauben des Komitees, er wäre jetzt quasi automatisch ein Parteigänger des Westens oder zumindest auf einem guten und unwiderruflichen Weg dorthin.
Sein Werke sind in deutscher Sprache fast ausschließlich im Musarion Verlag erschienen:
Die Romane:
1 Thais 2 Die Bratküche zur Königin Pedauque 3 Die rote Lilie 4 Die Ulme am Wall 5 Die Probierpuppe 6 Der Amethystring 7 Professor Bergeret in Paris 8 Komödieantengeschichte 9 Auf dem weißen Felsen 10 Die Insel der Pinguine 11 Die Götter dürsten 12 Der Aufruhr der Engel [Der extra veröffentlichte Titel „Weltgeschichte“ ist diesem Roman entnommen, es handelt sich um die Kapitel 18 bis 21] 13 Peter Nozière 14 Die Sehnsucht des Johann Servien 15 Die Schuld des Professor Bonnard
Die Novellen:
1 Jokaste + Der dürre Kater 2 Clio 3 Balthasar 4 Die Perlmutterdose 5 Der Brunnen von Santa Clara 6 Blaubarts sieben Frauen 7 Die Erzählungen des Jacques Tournebroche [2 +3 sowie 6+7 als Doppelband], daneben: Nützliche und erbauliche Meinungen des Herrn Abbé Jérome Coignard –
hervorzuheben außerdem: "Eine Weltgeschichte" (dem "Aufruhr der Engel" entnommen enthält die Umwertung aller Werte und liegt in der Tradition eines Rabelais)
ferner, ebenfalls im Musarion Verlag "Gespräche mit Anatole France 1914-1924" von Marcel le Goff
Im Kurt Wolff Verlag sind 2 Bände erschienen, deren Novellen nicht im Musarion-Verlag erschienen sind:
1 Der fliegende Händler und 2 Die Blütezeit des Lebens
In der Verlagsbuchhandlung Prometheus erschien der Band "Die Vormittage der Villa Said", welcher unter anderem Porträts von Auguste Rodin und Sarah Bernhardt beinhaltet sowie "Anatole France und die russische Revolution"
Aus seinem Nachlaß veröffentlicht: Unter der Rosenlaube (Axel Juncker Verlag)
Schwerpunkt seines Schaffens ist sicher die Religionskritik. Hier ein Auszug aus "Der Statthalter von Judäa" (aus dem Novellenband: Die Perlmutterdose sowie später als Taschenbuch beim Goldmann Verlag)
L. Aelius Lamia stammte aus einer vornehmen römischen Familie. Er ging schon in jungen Jahren nach Athen, um dort Filosofie zu studieren. Dann kehrte er nach Rom zurück und führte in seinem Hause auf dem Esquilin mit anderen jungen Wüstlingen ein ausschweifendes Leben.
Eines Tages wurde er angeklagt, mit Lepida, der Frau des Konsulars Sulpicius Quirinus, sträfliche Beziehungen zu unterhalten, und da er schuldig befunden wurde, schickte Tiberius Caesar ihn in die Verbannung. Er war damals gerade vierundzwanzig Jahre alt. Während der achtzehn Jahre, die seine Verbannung dauerte, bereiste er Syrien, Palästina, Kappadokien, Armenien und hielt sich lange in Antiochia, Caesarea und Jerusalem auf. Als Tiberius gestorben und Gaius römischer Kaiser geworden war, setzte er es durch, wieder nach Rom zurückkehren zu dürfen. Sogar ein Teil seines Vermögens wurde ihm wieder ausgeliefert.
Das Unglück hatte ihn weise gemacht. Er mied jeden Verkehr mit Frauen von zweifelhaftem Ruf, bewarb sich nicht um öffentliche Ämter und Auszeichnungen und lebte völlig zurückgezogen in seinem Hause auf dem Esquilin. Er begann alles, was er auf seinen vielen Reisen gesehen und erlebt hatte, aufzuzeichnen, um, wie er zu sagen liebte, in den Leiden der Vergangenheit eine Zerstreuung für die Gegenwart zu finden. Unter diesem friedlichen, beschaulichen Leben, unter dem emsigen Studium der Schriften Epikurs, fühlte er allmählich mit schmerzlichem Erstaunen, daß er alt wurde. In seinem zweiundsechzigsten Jahr begann er an Reumatismus zu leiden und suchte die Bäder von Baiae auf, die damals von den reichen vergnügungssüchtigen Römern viel besucht wurden.
Er hatte etwa eine Woche einsam und zurückgezogen inmitten dieser glänzenden Gesellschaft gelebt, als er eines Tages Lust bekam, die Hügel zu durchstreifen, die, mit Weinlaub bekränzt wie Bacchantinnen, sich am Flusse entlang ziehen. Auf einer Höhe angelangt, setzte er sich am Rande eines schmalen Weges unter einem Baum nieder und ließ seinen Blick über die herrliche Landschaft schweifen. Zur Linken dehnten sich endlose graue Felder bis zu den Ruinen von Cumae hin, zur Rechten ragte das Kap Misenum wie ein spitzer Dorn ins Meer hinein. Vor ihm, gegen Westen, lag das reiche Baiae mit seinen Gärten und Villen. Die Säulenhallen und weißen Marmorterrassen reichten bis an das blaue Meer hinab, in dessen Fluten Delfine spielten.
Lamia zog eine Pergamentrolle aus den Falten seiner Toga, streckte sich auf dem Boden aus und begann zu lesen. Plötzlich schreckte ihn der Zuruf eines Sklaven, der ihn aufforderte, einer vorüberkommenden Sänfte Platz zu machen, auf. Als die Sänfte näher kam, sah er auf ihren Kissen einen Greis ruhen. Er hatte den Kopf mit der mächtigen Adlernase und dem vorspringenden Kinn auf die Hand gestützt und blickte stolz und finster um sich.
Lamia wußte auf den ersten Blick, daß er dies Gesicht kannte. Aber des Namens konnte er sich nicht gleich entsinnen. Dann plötzlich stürzte er voll freudiger Überraschung auf die Sänfte zu und rief: »Pontius Pilatus, den Göttern sei Dank, daß sie mir die Gnade gewähren, dich wiederzusehen.«
Der Greis gab seinen Sklaven ein Zeichen, zu halten, und blickte Lamia durchdringend an.
»Pontius, mein treuer Gastfreund«, fuhr dieser fort, »haben die zwanzig Jahre mein Haar so gebleicht und meine Wangen so gefurcht, daß du deinen Aelius Lamia nicht wiedererkennst?«
Bei diesem Namen stieg Pilatus aus der Sänfte, so rasch es ihm die Schwerfälligkeit seines Alters erlaubte. Dann küßte er Lamia zweimal auf die Wange.
»Es ist mir eine große Freude, dich wiederzusehen«, sagte er. »Ach, dein Anblick erinnert mich an jene längst vergangenen Zeiten, da ich Statthalter von Judäa war. Es sind jetzt dreißig Jahre, daß ich dich zum erstenmal in Caesarea sah. Ich freute mich, dir die Leiden deiner Verbannung etwas erleichtern zu können, und du, Lamia, folgtest mir aus Freundschaft in jenes trostlose Jerusalem, wo die Juden mir das Leben verbitterten. Über zehn Jahre warst du mein Gast, wir sprachen zusammen von Rom und trösteten einander, ich dich über dein Unglück, du mich über meine glänzende Stellung.«
Lamia schloß ihn von neuem in die Arme: »Du hast nicht alles gesagt, Pontius: Du sprichst nicht davon, daß du deinen Einfluß bei Herodes Antipas zu meinen Gunsten aufbotest und mir deine Börse freigebig zur Verfügung stelltest.«
»Laß uns davon nicht mehr weiter sprechen«, entgegnete Pontius, »du sandtest mir später von Rom aus eine Summe, durch die deine Schuld mit Wucherzinsen getilgt war.«
»Pontius, was du an mir getan hast, kann nicht mit Gold aufgewogen werden. Aber jetzt sage mir: Haben die Götter deine Wünsche erfüllt? Ist dir das Glück zuteil geworden, das du verdienst? Erzähle mir von deiner Familie, deinem Vermögen, deiner Gesundheit!«
»Ich habe mich auf meine Güter in Sizilien zurückgezogen, wo ich jetzt Getreide baue und es verkaufe. Meine älteste Tochter, meine treue Pontia, lebt bei mir, seit sie Witwe geworden ist, und führt mir den Haushalt. Mein Geist ist immer noch ungebrochen, den Göttern sei Dank, mein Gedächtnis hat nicht gelitten. Aber das Alter bringt mancherlei Schmerzen und Gebrechen mit sich. Eine schmerzhafte Gicht quält mich schon lange. Deshalb bin ich hierher gekommen, um auf den flegräischen Feldern Linderung für meine Leiden zu suchen. Die Ärzte wenigstens behaupten, daß von dieser glühenden Erde scharfe Schwefeldämpfe aufsteigen, die beruhigend auf die Schmerzen wirken und den Gliedern ihre Geschmeidigkeit wiedergeben.«
»Mögen sie dich von deinen Leiden befreien, Pontius! Aber trotz deiner Gicht und ihren qualvollen Beschwerden siehst du kaum älter aus als ich, obgleich ich in Wirklichkeit um zehn Jahre jünger bin. Es freut mich, dich so rüstig zu sehen. Aber warum, du Teurer, hast du vor der Zeit der öffentlichen Tätigkeit entsagt? Warum hast du dich, nachdem du Judäa verließest, in diese freiwillige Verbannung auf deine Güter zurückgezogen? Erzähle mir deine Schicksale von jener Zeit an, als ich aufhörte, der Zeuge deiner Taten zu sein. Du bereitetest dich damals darauf vor, einen Aufstand der Samariter zu unterdrücken. Seitdem habe ich dich nicht wiedergesehen. Erzähle mir, wie jener Feldzug verlief; mich interessiert alles, was dich betrifft.«
Pontius Pilatus schüttelte traurig das Haupt.
»Mein angeborenes Pflichtgefühl«, sagte er, »trieb mich dazu, mein Amt nicht nur mit Fleiß, sondern auch mit Liebe zu verwalten. Aber der Haß verfolgte mich, Ränke und Verleumdungen haben mein Leben in der Fülle seiner Kraft gebrochen und seine Früchte verdorren lassen, ehe sie gereift waren. Du fragst nach dem Aufstand der Samariter. Komm, wir wollen uns hier auf den Hügel setzen. Ich will dir alles in kurzen Worten erzählen. Es steht alles noch so deutlich vor mir, als ob es gestern gewesen wäre. Ein Mann aus dem Pöbel, der die Gabe der Rede besaß, die übrigens in Samaria nicht selten ist, bewog die Samariter, sich bewaffnet auf dem Berge Gazim zu versammeln, der in diesem Lande für eine geheiligte Stätte gilt. Er versprach, ihnen die geheiligten Gefäße zu zeigen, die in alten Zeiten ein Heros oder Halbgott namens Moses hier vergraben haben sollte. Auf diese Verheißung hin empörten sich die Samariter. Aber ich war gerade noch zur rechten Zeit benachrichtigt worden, um ihnen zuvorzukommen, und ließ den Berg von meinen Soldaten besetzen.
Diese Vorsichtsmaßregel war sehr notwendig, denn die Rebellen belagerten schon den Flecken Tyrathaba am Fuße des Berges Gazim. Ich trieb sie auseinander, und damit war der Aufruhr im Entstehen unterdrückt. Um mit möglichst wenigen Opfern ein Exempel zu statuieren, ließ ich die Rädelsführer hinrichten. Aber du weißt ja, Lamia, was für einen Druck Vitellius, der Prokonsul von Syrien, auf mich ausübte. Er regierte seine Provinz nicht für Rom, sondern gegen Rom, er war der Ansicht, daß die Provinzen nur dazu da seien, um von den Tetrarchen ausgenützt zu werden. Die Samariter beklagten sich bei ihm. Sie sprachen so, als ob ihnen nichts ferner läge, als dem Caesar nicht gehorchen zu wollen. Ich hatte sie gereizt, und nur um sich gegen meine Gewalttätigkeit zu wehren, hatten sie sich bei Tyrathaba versammelt. Vitellius lieh ihren Klagen sein Ohr, übertrug die Verwaltung von Judäa seinem Freunde Marcellus und befahl mir, mich vor dem Kaiser zu rechtfertigen. Mit zorn- und haßerfülltem Herzen schiffte ich mich ein. Als ich an der italischen Küste landete, erfuhr ich, daß Tiberius plötzlich auf Kap Misenum gestorben sei. Ich wandte mich nun an Gaius, seinen Nachfolger. Er war ein klarer Kopf und kannte die syrischen Angelegenheiten. Aber jetzt, Lamia, magst du mit mir die hartnäckige Grausamkeit des Schicksals bewundern, das meinen Untergang beschlossen hatte. Gaius' bester Freund und beständiger Gefährte, schon von Kindheit an, war der Jude Agrippa, der immer in seiner Umgebung lebte. Gaius liebte ihn über alles, und Agrippa begünstigte Vitellius, weil Vitellius der Feind des Antipcs war, den Agrippa mit seinem Haß verfolgte. Der Kaiser gehorchte seinem geliebten Ratgeber und weigerte sich sogar, mir Audienz zu gewähren. Ich bezwang meinen Schmerz und zog mich auf meine Güter in Sizilien zurück, wo ich gewiß vor Gram gestorben wäre, wenn meine geliebte Pontia mich nicht getröstet hätte. Ich habe meine Acker bebaut und das üppigste Getreide der ganzen Provinz erzeugt. Mein Leben geht zur Neige. Die Nachwelt wird über mich und Vitellius richten.«
»Pontius«, antwortete Lamia, »ich bin überzeugt, daß du nach bestem Gewissen und ausschließlich im Interesse Roms gegen die Samariter vorgegangen bist. Aber hast du dich bei dieser Gelegenheit nicht vielleicht doch allzu sehr von deinem ungestümen Tatendrang hinreißen lassen, der dich von jeher beseelte? Du weißt doch, daß damals in Judäa ich, der Jüngere, dich oftmals zur Milde und Nachsicht ermahnt habe.«
»Milde gegen die Juden!« rief Pontius Pilatus. »Du hast lange unter ihnen gelebt, aber du kennst sie dennoch nicht, diese Feinde der Menschheit. Sie sind stolz und dabei von niederer Gesinnung, sie verbinden die schmachvollste Feigheit mit einer unbesiegbaren Hartnäckigkeit, man vermag auf die Länge weder Liebe noch Haß für sie zu empfinden. Ich habe meinen Geist an den Grundsätzen des göttlichen Augustus gebildet, Lamia. Ich war mir über meine Pflichten klar, ich habe mich von Anfang an bemüht, Weisheit und Mäßigung zu üben. Ich rufe die Götter zu Zeugen an, daß ich nie in meiner Milde starrköpfig war. Aber was hat es mir geholfen? Ich schwöre dir bei den unsterblichen Göttern, während meiner ganzen Regierung habe ich nicht ein einziges Mal die Gesetze und die Gerechtigkeit verletzt. Aber jetzt bin ich ein alter Mann. Meine Feinde, meine Ankläger sind tot. Ich werde ungerächt sterben, und wer wird mich der Nachwelt gegenüber verteidigen?«
Er schwieg und seufzte tief. Lamia entgegnete: »Was braucht es uns zu kümmern, was die Menschen von uns denken? Wir haben keine anderen Zeugen und keine anderen Richter als uns selbst. Pontius Pilatus, begnüge dich mit dem Zeugnis, das du selbst für dich ablegst, begnüge dich mit deiner eigenen Achtung und der Achtung deiner Freunde. Übrigens kann man ein Volk nicht nur durch Milde beherrschen.«
»Lassen wir jetzt das«, sagte Pontius. »Ich muß mich beeilen, die Schwefeldämpfe sind nur wirksam, solange die Erde noch von den Sonnenstrahlen durchwärmt ist. Leb wohl. Aber da ich nun endlich einen Freund wiedergefunden habe, möchte ich diesen glücklichen Zufall auch ausnützen. Aelius Lamia, gewähre mir die Freude, morgen abend mein Gast zu sein. Mein liegt Haus liegt am äußersten Ende der Stadt am Meeresufer. Du wirst es leicht an der Säulenhalle erkennen, die mit einem Gemälde geschmückt ist, welches Orfeus mit seiner Lyra unter den wilden Tieren des, Waldes darstellt. Also auf morgen, Lamia!« Damit bestieg er wieder seine Sänfte. »Morgen wollen wir weiter über Judäa plaudern.«
Am nächsten Tage um die Abendzeit begab sich Lamia zu dem Hause des Pontius Pilatus. Es waren nur zwei Lagerstätten für das Gastmahl bereitet. Auf dem Tisch standen silberne Schüsseln mit gebratenen Vögeln, Austern vom Lukrinersee und Lampreten aus Sizilien. Beim Essen unterhielten Pontius und Lamia sich über ihre Krankheiten, deren Symptome sie ausführlich aufzählten, und über die verschiedenen Heilmittel, die man ihnen empfohlen hatte. Dann sprachen sie ihre Freude über das Zusammentreffen in Baiae aus und rühmten die Schönheit des Strandes und die milde Luft. Lamia war entzückt von der Anmut der Kurtisanen, die mit langen, gestickten Schleiern und reichem Goldschmuck am Ufer wandelten. Aber der alte Statthalter beklagte es, daß für diesen eitlen Prunk und diese von Menschenhand gewirkten Spinnengewebe, die aus den Ländern der Barbaren kamen, soviel römisches Geld unter fremde Völker, ja selbst unter die Feinde des Reiches hinausgeworfen wurde. Dann sprachen sie von den großen Bauten, die hier in der Gegend aufgeführt worden waren, von der gewaltigen Brücke, die Gaius zwischen Puteoli und Baiae errichtet, und von den Kanälen, die Augustus hatte graben lassen, um das Wasser vorn Meere in den Lukriner- und den Avernersee zu leiten.
»Auch ich«, sagte Pontius seufzend, »auch ich wollte einmal das Wohl des Landes durch nützliche Bauten fördern. Als mir zu meinem Unheil die Regierung von Judäa übertragen wurde, entwarf ich den Plan zu einem Aquädukt von zweihundert Stadien Länge, der Jerusalem mit reinem Wasser versorgen sollte. Ich hatte alles berechnet und ausgedacht, die Arbeiter und Architekten waren schon bestellt, und die Arbeit sollte beginnen. Aber weit entfernt davon, sich über dieses gewaltige Werk zu freuen, das zur Gesundung ihrer Stadt beitragen sollte, stießen die Bewohner von Jerusalem ein entsetzliches Geheul aus. Sie rotteten sich zusammen, sie erhoben ein großes Geschrei über Gotteslästerung und Schändung, dann stürzten sie sich auf die Arbeiter und rissen die eben gelegten Grundsteine wieder auseinander. Hast du, Lamia, jemals ein Volk von roheren Barbaren gesehen? Und doch gab Vitellius ihnen recht, und ich mußte das Werk unvollendet lassen.«
»Es ist eine große Frage«, sagte Lamia, »ob man die Menschen zu ihrem Glücke zwingen darf.«
Aber Pontius Pilatus fuhr fort, ohne auf ihn zu hören. »Einen Aquädukt auszuschlagen – welch eine Torheit. Aber die Juden verabscheuen alles, was von den Römern herrührt. Wir gelten in ihren Augen für unreine Wesen, jede Berührung mit uns betrachten sie wie eine Beschmutzung. Du weißt ja, sie wagten nicht meine Behausung zu betreten, aus Angst, sich dadurch zu besudeln, und ich mußte alle gerichtlichen Handlungen unter freiem Himmel ausüben. Sie fürchten und verachten uns. Aber ist Rom nicht die Mutter aller Völker, ruhen sie nicht alle an ihrem Busen wie saugende Kinder? Unsere Adler haben Frieden und Freiheit bis in die äußersten Enden der Welt getragen. Wir sehen in den Besiegten nicht unsere Feinde, wir lassen ihnen ihre Sitten und ihre Gesetze. Ist Syrien nicht erst zu Ruhe und Wohlstand gelangt, seit Pompeius es unterworfen hat? Die Römer hätten ihre Wohltaten um Geld verkaufen können; haben sie aber jemals die Schätze aus den goldstrotzenden Tempeln der Barbaren fortgeführt? Haben sie etwa den Jupiter in Marimänien oder Kilikien beraubt oder den Judengott in Jerusalem? Antiochia und Palmyra brauchen Antiochia und Palmyra brauchen ihre Schätze nicht mehr vor den Arabern der Wüste zu hüten, und sie bauen jetzt der göttlichen Majestät des Caesar Tempel. Nur die Juden hassen uns und trotzen uns. Man muß ihnen den Tribut gewaltsam entreißen, und sie verweigern den Heeresdienst.«
»Die Juden«, entgegnete Lamia, »hängen fest an ihren alten Gebräuchen. Sie vermuteten – ohne allen Grund, das gebe ich zu –, daß du ihre Gesetze umstoßen und ihnen andere Sitten aufzwingen wolltest. Wenn es dir auch Schmerz bereitet, Pontius, daß ich so rede: Aber du hast nicht immer den rechten Weg eingeschlagen, um diesen unseligen Irrtum von Ihnen zu nehmen. Ohne daß du es wolltest, hast du mit Vorliebe ihren Argwohn erregt, mehr als einmal habe ich selbst gesehen, wie schlecht du deine Verachtung ihrem Glauben und ihren religiösen Zeremonien gegenüber verbargst. Die Juden haben sich nicht wie wir zu einer hohen Anschauung der göttlichen Dinge aufgeschwungen, aber man muß anerkennen, daß etwas Ehrwürdiges in diesen von Urzeiten herstammenden Mysterien liegt, die sie feiern.«
Pontius Pilatus zuckte die Achseln. »Nein«, sagte er, »sie haben keine gründliche Kenntnis von dem Wesen der Götter. Sie beten zu Jupiter, aber ohne ihm Namen oder Gestalt zu geben. Sie wissen nichts von Apollo, von Neptun, Mars, Pluto oder von irgendeiner Göttin. Und doch glaube ich, daß sie früher einmal Venus verehrt haben, denn heute noch bringen die Frauen Tauben zum Opfer dar, und du weißt ja ebenso gut wie ich, daß die Verkäufer in den Vorhallen des Tempels solche Vögel paarweise feilbieten. Man teilte mir sogar einmal mit, daß irgendein rasender Mensch diese Verkäufer samt ihren Käfigen umgestoßen habe. Die Priester beklagten sich darüber, wie über eine Heiligtumsschändung. Ich denke mir, der Brauch, Turteltauben zu opfern, muß ursprünglich Venus zu Ehren eingeführt worden sein. Warum lachst du, Lamia?«
»Ich lache«, sagte Lamia, »über eine komische Idee, die mir eben unwillkürlich durch den Kopf schoß. Ich dachte, wenn nun dieser Jupiter der Juden eines Tages nach Rom kommen Und dich mit seinem Haß verfolgen würde! Warum auch nicht? Wir haben von Asien und Afrika schon viele Götter übernommen. Es sind in Rom schon Tempel zu Ehren der Isis und des bellenden Anubis erbaut worden. Und weißt du nicht, daß unter des Tiberius Regierung ein junger Adliger sich für den gehörnten Jupiter der Ägypter ausgab und auf diese Weise die Gunst einer vornehmen Dame gewann, die zu fromm war, um den Göttern irgend etwas zu verweigern? Wer weiß, Pontius, ob der unsichtbare Jupiter der Juden nicht eines Tages in Ostia landet.«
Bei dem Gedanken, daß von Judäa ein Gott kommen könnte, glitt ein flüchtiges Lächeln über die strengen Züge des Statthalters. Dann antwortete er ernst: »Wie sollten die Juden es fertigbringen, ihre heiligen Gesetze anderen Völkern aufzuzwingen, da sie sich doch selbst untereinander um der Auslegung dieser Gesetze willen zerfleischen. Sie spalten sich in mindestens zwanzig Sekten; du hast es ja selbst gesehen, Lamia, wie sie sich auf den öffentlichen Plätzen, jeder mit seiner Schriftrolle in der Hand, gegenseitig beschimpfen und sich an den Bärten reißen, oder wie sie irgendeine von profetischem Wahnsinn ergriffene Jammergestalt umringen und zum Zeichen der Trauer ihre schmutzigen Kleider zerfetzen. Sie begreifen nicht, daß man in aller Ruhe über göttliche Dinge disputieren kann, obgleich sie für uns alle immer dunkel und verhüllt bleiben. Denn das Wesen der Unsterblichen ist verborgen, und wir vermögen es nicht zu erkennen. Ich halte es immerhin für weise, an die Vorsehung der Götter zu glauben. Aber die Juden haben keine Filosofie und dulden keine andere Meinung. Im Gegenteil, wenn jemand über die Gottheit eine Ansicht äußert, die nicht mit ihren Gesetzen übereinstimmt, so verdient er in ihren Augen die jämmerlichste Todesstrafe, und weil, seit sie unter römischer Herrschaft stehen, kein Urteil ohne Zustimmung des Prokonsuls oder des Statthalters vollzogen werden darf, drängen sie den römischen Magistrat, jeden Augenblick ihre Todesurteile zu unterschreiben, sie erfüllen das Prätorium mit ihrem blutdürstigen Geschrei. Hundertmal habe ich sie so gesehen, wie sie sich haufenweise, reich und arm durcheinander, einmütig um ihre Priester geschart, wie Rasende um meinen elfenbeinernen Sessel drängten, mich an der Toga oder nur an den Riemen meiner Sandalen zerrten, um den Tod irgendeines Unglücklichen von mir zu verlangen, dessen Schuld ich nicht einsehen konnte und den ich höchstens für ebenso wahnsinnig hielt wie seine Verfolger. Was sage ich, hundertmal! Jeden Tag kam es vor, zu allen Stunden. Aber ich mußte ihr Gesetz erfüllen wie das unsere, denn Rom hatte mich nicht zum Zerstörer, sondern zum Hüter ihrer Gebräuche eingesetzt. In der ersten Zeit suchte ich ihnen Vernunft beizubringen, ihre unglücklichen Opfer dem Tode zu entreißen. Aber meine Milde erbitterte sie nur noch mehr, sie kämpften um ihre Beute wie hungrige Geier. Ihre Priester berichteten dem Caesar, daß ich ihre Gesetze verletze, und ihre Beschwerden, die Vitellius noch unterstützte, zogen mir strenge Rügen zu. Wie oft habe ich Lust gehabt, wie die Griechen sagen, Kläger und Angeklagte gemeinschaftlich zu den Raben zu schicken. Glaube nicht, Lamia, daß meine Gefühle gegen dieses Volk nur ohnmächtige Rache und greisenhafter Zorn sind. In mir haben sie Rom und den Frieden besiegt. Ich sehe es kommen, daß wir sie früher oder später vernichten müssen, weil wir sie nicht beherrschen können. Glaube mir, sie sind immer noch nicht unterworfen, der Aufruhr gärt in ihren erhitzten Seelen, und eines Tages wird ihr Haß gegen uns losbrechen, ein Haß, gegen den die Wut der Numider und die Drohungen der Parther nur Kinderlaunen sind. Sie hegen im stillen die unsinnigsten Hoffnungen und grübeln in ihrer Verblendung darüber nach, wie sie uns verderben können. Und das wird niemals anders werden, solange sie auf Grund ihrer Weissagungen an den Fürsten glauben, der aus ihrer Mitte hervorgehen und die Welt beherrschen soll. Man wird mit diesem Volk nicht fertig werden, bis es aufhört zu existieren. Jerusalem muß von Grund auf zerstört werden. Vielleicht wird es mir, trotz meines Alters, gegeben sein, den Tag zu erleben, da seine Mauern in Staub sinken, seine Häuser in Flammen aufgehen und Salz gestreut wird an dem Platz, wo der Tempel gestanden hat. An diesem Tag werde ich gerechtfertigt dastehen.«
Lamia machte einen Versuch, dem Gespräch eine mildere Wendung zu geben.
»Pontius«, sagte er, »ich verstehe deinen unauslöschlichen Grimm und deine düsteren Vorahnungen vollkommen. Gewiß, du hast den Charakter der Juden von seiner schlimmsten Seite kennengelernt. Aber ich habe als unbefangener Beobachter in Jerusalem gelebt, mich unter das Volk gemischt, und glaube mir, ich habe manche Tugenden bei diesen Menschen gefunden, die dir verborgen geblieben sind. Ich habe milde, gütige Juden kennengelernt mit schlichten Sitten und gutem Herzen. Ja, du selbst, Pontius, hast mehr als einmal gesehen, wie einfache Männer aus dem Volke unter den Knüppeln deiner Soldaten den Geist aufgaben und wie sie, ohne ihren Namen zu nennen, für eine Sache starben, die sie für die richtige hielten. Solche Menschen haben unsere Verachtung nicht verdient. Ich spreche so zu dir, weil ich finde, daß man in allen Dingen maßhalten soll; aber ich gestehe, daß ich niemals besondere Sympathie für die Juden empfunden habe. Die Jüdinnen hingegen gefielen mir sehr. Ich war jung damals, und die schönen Syrerinnen brachten mein Blut in heftige Wallung. Ihre roten Lippen, ihre feuchtschimmernden Augen, ihre langen, verschleierten Blicke durchschauerten mich bis ins Mark. Mit ihrem gemalten und geschminkten Gesicht, ihrem nach Myrrhe und Narde duftenden Körper bieten sie den Männern seltene und köstliche Genüsse.«
Ungeduldig hörte Pontius ihm zu. Dann sagte er: »Ich war nicht der Mann dazu, in die Netze der Jüdinnen zu geraten, und da du mich darauf gebracht hast, Lamia – ich habe dein ausschweifendes Leben niemals gebilligt. Wenn ich es dich damals nicht fühlen ließ, daß ich dein Vergehen mit der Frau des Konsulars für eine schwere Schuld ansah, so geschah es nur, weil du deinen Fehltritt schwer genug büßen mußtest. Die Ehe gilt bei den Patriziern für heilig, diese Institution ist eine der wichtigsten Stützen Roms. Was Sklavinnen oder ausländische Frauen betrifft, so haben die Beziehungen, die man mit ihnen anknüpft, keine weitere Bedeutung, wenn der Körper dadurch nicht an eine schmachvolle Weichlichkeit gewöhnt wird. Du hast zuviel den niederen Priesterinnen der Venus geopfert, Lamia, und was ich dir vor allem zum Vorwurf mache, ist, daß du nicht nach dem Gesetz geheiratet und dem Staate Kinder geschenkt hast. Das ist die Pflicht jedes guten Bürgers.«
Aber der einst Verbannte hörte längst nicht mehr auf den alten Statthalter. Er leerte den Becher Falernerweines und lächelte irgendeinem unsichtbaren Bilde zu. Dann sprach er in sehr gedämpftem Tone, der sich allmählich belebte: »Es liegt etwas so Schmachtendes in dem Tanz dieser syrischen Frauen. Ich habe in Jerusalem eine Jüdin gekannt, die in einer elenden Spelunke, beim Schein einer kleinen qualmenden Lampe, auf einem elenden Teppich tanzte. Dabei reckte sie die Arme empor, um ihre Zimbeln zu schlagen. Die Hüften schön geschwungen, den Kopf zurückgeworfen, gleichsam niedergezogen von der Last des schweren, rötlichen Haares, den wollustverschleierten Augen, glühend, begehrlich und schlank, hätte sie Kleopatra selbst vor Neid erblassen machen können. Ich bewunderte ihre barbarischen Tänze, ihren etwas rauhen und doch so wohlklingenden Gesang. Sie duftete nach Weihrauch und schien in einem beständigen Halbschlaf zu leben. Ich folgte ihr überall hin. Ich mischte mich unter die rohe Menge von Soldaten, Strolchen und Maklern, die sie zu umringen pflegten. Dann verschwand sie eines Tages, und ich habe sie nie wiedergesehen. Lange Zeit suchte ich nach ihr in allen verdächtigen Straßen und Spelunken. Es war schwerer, sich ihrer zu entwöhnen, als des griechischen Weins. Ein paar Monate später erfuhr ich zufällig, daß sie sich einer kleinen Zahl von Männern und Frauen angeschlossen hatte, die einem jungen Galiläer folgten, der umherzog und Wunder tat. Er hieß Jesus und war aus Nazareth. Später wurde er wegen irgendeines Verbrechens gekreuzigt. Ich weiß nicht mehr, was es war. Erinnerst du dich noch an diesen Mann, Pontius?«
Pontius Pilatus runzelte die Brauen. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, als ob er sich auf etwas zu besinnen suchte. Dann, nach einer kurzen Pause, murmelte er: »Jesus? Jesus — aus Nazareth? — Nein, ich erinnere mich nicht mehr.«