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Der Fall des Hanau-Attentäters

Der Fall des Hanau-Attentäters*, der am 19.02.20 in und vor einer Shisha Bar neun Personen ausländischer Herkunft erschoß und danach zuhause seine Mutter und sich selber tötete, ist ein Spezialfall, ohne im Grunde speziell zu sein. Gar nicht speziell sind weder seine Karriere noch seine Aufstiegsambitionen: Er studierte BWL; er arbeitete vor dem Studium als Bankkaufmann und danach beim Kreditinstitut MLP und bei der Unternehmensgruppe check24. Er hatte große Pläne, so wie es sich die deutsche Erfolgsnation von ihrem Nachwuchs nur wünschen kann. Er war von sich, seinem Wissen und Können überzeugt. Was ihm zu schaffen machte, war allein die Tatsache, daß seine Existenz hinter seinen Ambitionen, all seinen Anstrengungen zum Trotz, zurückblieb. Zuletzt war er gar arbeitslos. Somit blieb ihm die aufrgund seiner Intellektualität schwer erheischte Anerkennung versagt. Das machte ihn ziemlich mürbe. Und wie es sich für einen hellen Kopf gehört, unternahm er Anstrengungen, den Grund für die ausbleibende gesellschaftliche Anerkennung seiner vortrefflichen Persönlichkeit zu suchen. Er suchte den Grund eben in jener seiner Gesellschaft, dem deutschen Staat samt dessen Wirtschaft, dem er ob dessen Welterfolg gerne zugehörig war. Denn eines war ja klar: An ihm selber konnte es ja nicht liegen, er hatte ja alles versucht, voranzukommen und aufzusteigen. Das Hindernis mußte also von außen kommen. Und da stieß er auf ein Angebot, das ihm zusagte: Es liege an denen, die im Grunde gar nicht zu diesem Erfolgssstaat gehören und zu ihm passen, den Ausländern also. Das war gewissermaßen seine »Erleuchtung«.

Dabei tat sich freilich eine weitere Schwierigkeit auf. Ihm persönlich war kein einziger Ausländer je im Wege gestanden, ja er hatte ja noch nicht einmal etwas Nennenswertes mit ihnen zu tun gehabt. Ganz ihm Gegenteil: Die eine Frau, die er gerne als die seinige gehabt hätte, die ihn aber nicht an sich herangelassen hatte, war Deutsche. Auch an seinen Arbeitsplätzen stand ihm nie ein Ausländer im Wege, der seine Karriere behindert hätte. Dennoch war er der felsenfesten Überzeugung, daß seine »Einsicht« die einzig mögliche Erklärung seines Mißerfolgs sei. Ja mehr noch, ganz offensichtlich, so folgerte er, müsse der Staat selber von der Erfolgsspur abkommen, wenn die Ausländer in ihm um sich griffen! Kurzum, anderen mußten die Augen geöffnet werden! Aber ach Du große Scheiße! Er fand keinen Widerhall, nicht einmal bei den renommierten Stellen – Stellen des Rechts! -, die er anschrieb und um Verständnis und Unterstützung bat!

Was blieb ihm mit seiner Einsicht denn nun schon übrig? Es mußte ein Exempel statuiert werden, ein Fanal gesetzt werden, denn ganz offenbar ließen sich die Augen all der Verantwortlichen in Staat samt Wirtschaft nicht anders öffnen. Bevor er das in die Tat umsetzen konnte, fühlte er sich selber gegenüber noch Rechenschaft schuldig. Wie war es denn – verdammt noch mal – möglich, daß er nicht viel früher auf diese seine fänomenale Einsicht stoßen konnte? Das schien ihm zunächst ein ebensolch großes Rätsel wie die Lösung des Rätsels dann stinkeinfach war. Sie lag in der Welt des Geheimen! Diesen Eindruck hatte er schon früher, doch nun ließ sich alles wunderbar zusammenreimen. Beschattet und unsichtbar geführt sei er worden, von klein auf. So, damit er nicht merke, was gespielt werde, er nicht auf die Einsicht stoße, auf die er nunmehr doch – welch Glück! – gekommen sei: Er wurde geradezu in eine Traumwelt versetzt. Er läßt sein bisheriges Leben nochmal Revue passieren: Ja, so mußte es gewesen sein: Ja, Sharon Stone, die er gerne nochmal zumindest wie beim ersten Mal im Kino gesehen haben wollte, wurde ihm ein zweites Mal vorenthalten. Überhaupt war er von diversen Hollywood-Filmen so beeindruckt, daß es ihm schwerfiel, Fiktion und Wirklichkeit noch auseinanderzuhalten. Er kämpfte schwer darum, alles in seinem Superhirn zusammenzubringen. Fest stand für ihn, er werde gesteuert und das nicht zu seinem (und damit zum deutschen) Vorteil. Der deutschen Fußballnationalmannschaft durfte er keine todsicheren Erfolgsratschläge erteilen, was er doch zu gerne getan hätte! Weltpolitisch sei er sowieso der größte Stratege aller Zeiten: Er betrachtet die Welt geopolitisch und entwirft ein Bild wie sie unter einer germanischen Elite ausschauen könnte, müßte und sollte, doch noch vermöge das leider niemand in dem Umfang zu begreifen, der sich seiner Intellektualität eröffnet hat. Kurz, alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben, gegen seine beanspruchte Anerkennung als geistiger Superheld Deutschlands, als hätte eine unsichtbare Hand — aus seinem BWL-Studium kannte er ja wohl noch »die unsichtbare Hand des Marktes« (Adam Smith) — ihn ins Leere laufen lassen. 

Mit all seinen Gedanken zeigt er sich als Produkt eben dieser Gesellschaft. Und selbst der Übergang, den er gemacht hat, ist ganz und gar nicht aus einer anderen Welt: Der Übergang von einer der Natur angedichteten ökonomischen Überlegenheit, vom ökonomischen Rassismus zum politischen Rassismus, dem eines Faschisten ist nur ein kleiner Schritt. Ob er Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« gelesen hat, sei dahingestellt. Jedenfalls zirkulieren nicht erst, aber gerade seit dem Erscheinen jenes Buches [2010] eben solche Schlüsse und solch aus der Ökonomie abgeleitetes Gedankengut sehr breit in eben dieser bundesdeutschen Gesellschaft. In seiner schon früh festgestellten Abneigung gegen Ausländer mußte er sich von Tag für Tag mehr bestätigt vorkommen.

Das wollen Politik, Justiz, Politikwissenschaft wie Öffentlichkeit nicht recht wahrhaben. Sie verurteilen die Tat, als eine rassistische zwar, aber so als hätte sie nichts, aber auch gar nichts mit dieser für die deutsche Gesellschaft geradezu prototypischen Persönlichkeit zu tun. Seine (Selbst)Rechtfertigung empfinden sie bestenfalls als ein Rätsel, im allgemeinen aber als Wahnvorstellungen eines Psychopathen. Damit entkoppeln sie das Produkt vom Hersteller!

(23.03.20)
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*Der Artikel stützt sich auf die Aussagen des Attentäters in seinem, im Internet kursierenden Selbstrechtfertigungsschreibens.

Zum Problem, das der deutsche Staat seit geraumer Zeit in zunehmenden Maße mit Rechtsextremisten innerhalb und außerhalb von Bundeswehr, AfD etc. hat, siehe den Artikel im aktuellen GegenStandpunkt 1-2020: Wie rechts ist die Republik?

bluete