Die Wertegemeinschaft auf dem Gipfel — der Gipfel der Wertegemeinschaft
Manche haben beklagt, daß Putin beim Gipfel in Elmau nicht dabei sein durfte. Aber das versteht sich eigentlich von selber. Schließlich ist der Gipfel, so hoch gelegen er auch sein mag, kein Gipfel, auf dem zwischenstaatliche Interessengegensätze verhandelt werden. Natürlich auch nicht zwischen den 7 beteiligten Staaten und ihren aktuellen Charakterdarstellern. Da gäbe es freilich allerhand.
Man denke nur an das Verhältnis zwischen Deutschland und seinem Blutspartner Frankreich, welches aufgrund der deutschen Unzufriedenheit mit den Bedingungen, die der französische Staat seiner Wirtschaft setzt bzw. nicht setzt, in den letzten Wochen hohe Wellen geschlagen hat. So hoch, daß die französische Bildungsministerin ebenso erfrischend einerseits wie matt andrerseits vorschlug, das Erlernen der deutschen Sprache von den Lehrplänen der Schulen zu nehmen (nach indischem Vorbild übrigens).
Ferner denke man — fast möchte man sagen: natürlich — an die transatlantischen Beziehungen, an denen nicht gerüttelt werden soll, an denen aber alle Seiten nach Kräften zu drehen und ziehen versuchen, sei es mit den Geheimdiensten, sei es mehr oder minder offen, wie die anvisierten Freihandelsverträge zeigen. In der Sache ist also mehr Feuer unterm Dach, als die Gipfelharmonie vorstellig macht und machen soll.
Und das ist ebensowenig verwunderlich wie die Nicht-Einladung Rußlands: Der Gipfel präsentiert sich nämlich regelmäßig als Wertegemeinschaft. Und dabei ist nicht an die materiellen Werte der politischen Ökonomie gedacht, um die anderentags wieder gestritten wird. Es geht um die höheren, die ideellen Werte, die angesichts des globalen Wirkens der führenden kapitalistischen Staaten des »freien Westens« einmal mehr herausgestrichen werden sollen — dafür ist die alpine Höhenlage ein zweifellos geglücktes Symbol.
Diese Werte sollen nicht nur, sondern müssen auch einmal mehr bekräftigt werden. Denn das, was diese 7 Staaten in aller Welt angerichtet haben und weiterhin anzurichten gedenken, macht das nötiger denn je: Hunger, Elend und Krieg, die Auflösung ganzer Staaten in der »Dritten Welt«, mit Hunderttausenden von Flüchtlingen verbunden, sind das Ergebnis ihrer Weltordnungspolitik, ihrer kapitalistischen Weltordnungspolitik. Das ist unübersehbar.
Umso feister sehen sich die Charaktermasken dieser Weltordnung bemüht, in die Kameras zu schauen. Und das Topthema des Gipfels spricht ja nicht weniger für sich: Der Terrorismus — der irgendwoher kommt, bloß eben unmöglich eine Reaktion auf diese Zustände ist, die an sich für jedes menschliche Lebewesen unhaltbar sind, die jedoch nach Meinung des »freien Westens« das nicht sein dürfen. Damit rechtfertigen sie ihre Interventionen — entweder ökonomisch-politischer oder eben militärisch-politischer Art. Natürlich ist es kein Wunder, daß sie das, was sie völlig begriffslos als »Terrorismus« bezeichnen nicht in den Griff bekommen können: Sie rufen ihn ja immerzu selber hervor, indem sie ihm den Nährboden eben mit ihrer Ökonomie schaffen; und mit ihrem militärischen Eingreifen da und dort auch noch das Maß seiner Radikalität erhöhen.
Dabei hatten sie, diese super Sieben, diese famose Wertegemeinschaft verdammt viel Glück im Unglück. Man erinnert sich an die letzte große Krise ihrer Ökonomie: Da wurde überdeutlich, wie durch & durch schurkisch dieses System der Geschäftemacherei ist. Wofür die Politik ja einiges konnte, sie hat es nämlich nicht etwa fahrlässig zugelassen, sondern gewollt und angetrieben. Ohne staatliche Gewalt und staatlichen Kredit ist die private Geschäftemacherei nämlich nicht zu haben. In Folge dieser sich schnell ausdehnenden Krise, die ja gerade in Europa noch keineswegs beendet ist, fielen einige hochgeehrte Statthalter und Stabilitätsgaranten des »freien Westens« (in Nordafrika), andere wurden zumindest erschüttert.
Es wurde also offenkundig, was stets so lauthals verkündete »Wertegemeinschaft« wirklich ist. Ein infamer skrupelloser Zusammenschluß, der über Leichen geht, als wären sie Luft.
Dieses Negativimage hing eine Zeitlang über der Wertegemeinschaft. Bis dann eines passierte: Diese Wertegemeinschaft entdeckte zu ihrem Glück den »Islamischen Staat«, eine religiös begründete Organisation, die Krieg führte, immerzu mächtiger wurde und skrupellos gegen alle vorging, in denen sie Feinde auch bloß vermutete. Was dagegen war schon Abu Ghraib, waren die US-Drohnenangriffe auf Zivilisten etc. etc.?? Nichts! Absolut nichts! Der Westen war mit einem Schlag einfach wieder supergut und seine Gegner superschlecht! Das angekratzte moralische Weltbild war mit einem Schlag wieder rehabilitiert.
Und noch an einer anderen Front hatte der freie Westen unverschämtes Glück: Entgegen aller Propaganda konnte jeder aufmerksame Betrachter des Weltgeschehens sehen, daß der freie Westen Rußland in seiner Einflußsfäre be- und dafür als größten Brocken die Ukraine aus eben dieser herausschneiden wollte. Dazu hatte er ein Assoziationsabkommen mit Kiew auf die Agenda gesetzt, einen politischen Putsch ebendort zu eben diesem Zweck, wenn nicht selber lanciert, so doch tatkräftig unterstützt und die Ukraine in einen Bürgerkrieg mit der russisch-sprachigen Bevölkerung getrieben, die sich dies nicht so ohne weiteres gefallen lassen wollte (und insofern sie sich Waffen beschaffen konnte, auch nicht mußte). Für das so angerichtete Schlamassel war der Westen so frei, Moskau verantwortlich zu machen, welches sich seinerseits betont zurückhielt, obschon es klarmachte, das das Vorgehen des Westens nicht gerade vernünftig sei und Rußland seine Interessen zu wahren wisse (um nicht für einen Maulhelden gehalten zu werden, sicherte es sich die Krim im direkten Zugriff).
Das Blöde für den Westen war nun, daß kaum jemand in seiner eigenen Bevölkerung ihm seine Propaganda abnahm. Die wurde umso hartnäckiger sie betrieben wurde, umso weniger nachvollzogen. Mit einem Sich-Sonnen im Lichte der Werte, die man der Ukraine gebracht habe, war es nichts:
Das war sehr ärgerlich für die westliche »Wertegemeinschaft«.
Bis eines Tages die Meldung über die Ticker rauschte, der russische Oppositionelle Boris Nemzow, der dem Westen nach dem Mund geredet hatte als sei er dessen Agent, sei ermordet worden. Und sofort war — auch wenn man Putin nicht wirklich als Täter ausmachen konnte (allein die Springer-Presse schaffte selbst dies) —, klar, wer der Böse und wer der Gute nun denn wirklich ist! Es ist gerade so, als habe Nemzow für die schiere Behauptung der Wertegemeinschaft als solche sterben müssen!
Kurz & gut: Sowohl der »Islamische Staat« wie auch die Mörder Nemzows haben dem Westen einen großen Dienst erwiesen*. Sie haben ihm das zurückgegeben, was er schon fast verloren hatte: Seine Glaubwürdigkeit in seinen Lügen über die hehren Gründe seiner kapitalistischen Weltordnung!
Genau so hat die heile Welt, wie sie die Gipfel-Bilder aus der Nähe von Garmisch-Partenkirchen suggerieren, ihre reale Grundlage: Es lebe die kapitalistische Weltordnung! Besser, viel besser: Es leben Freiheit, Demokratie und Menschenrechte! Das ist eine Todesdrohung an alle, die dagegen Einwände haben, egal was deren Sichtweisen auch immer taugen mögen.
08.06.15
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* Alle Stalinisten, Nationalisten, die sie sind, betrachten die Auseinandersetzung mit dem Westen als eine pure Gewaltfrage (siehe auch Nord-Korea). Darin gleichen sie frappant dem IS.