Fakten, Propaganda und Interessen
Fakten, Tatsachen werden heutzutage — dafür stand wegweisend der Slogan eines Wochenmagazins »Fakten, Fakten, Fakten« [1] — als Totschläger jeglicher zugrundeliegenden weitergehenden Überlegungen in Anschlag gebracht. Nun sind sie, die Tatsachen, allenthalben Ergebnisse menschlicher Handlungen, die ihren Grund in dem Zweck haben, den sie verfolgen. Solch Gründe sind Interessen geschuldet. Sie sind im Gegensatz zu den Fakten-Fakten-Fakten-Schreiern, die jene für irrelevant zu eruieren glauben, allenthalben relevanter als die Fakten als solche.
Und weshalb sind sie nun relevant? Nun ist es ja so, daß Individuen nicht allein im eigenen Interesse vorstellig werden, wenn sie Fakten schaffen. Nur allzuoft gerieren sie sich als Walter von Sachzwängen anderer, meist übergeordneter Interessen. Marx bezeichnet sie dann als Charaktermasken jener Interessen, welche somit als Subjekte gegenüber den Individuen, die sie exekutieren, fungieren. Diese übergeordneten Interessen diktieren den Individuen, die für sie eintreten, was sie zu tun haben. Einen kleinen Spielraum haben sie allein in dem Wie, dem Ausführungsmodus des Diktats.
Welches sind nun diese übergeordneten Interessen, die sich so relevant und nicht selten vehement in Fakten niederschlagen? Die wichtigsten — und daran besteht kein Zweifel — sind die der Staaten [2]. Diese sind nichts anderes als Apparate, die mit der ihr eigenen Gewalt — manifest in Militär, Geheimdiensten, Polizei, Justiz — und den ihr verfügbaren Gewaltmitteln, für die die zugrunde liegende Ökonomie [3] die Grundlage hergibt. Diese Gewaltapparate halten also mit ihren Mitteln die Individuen, die ihnen untergeben sind, in Schach. Als ihre Handlanger fungieren die Charaktermasken der Politik, also Politiker, Staatsfunktionäre, Apparatschiks [4]. Gegeneinander kommen sich die Staatsgewalten ganz sachgemäß immerzu ins Gehege, worüber auch ihre Zweckbündnisse gegen dritte nicht hinwegtäuschen können. Denn kein Staat ist sich in seinem status quo genug — friedliche Koexistenz zwischen den Staaten einzufordern, ist geradezu pervers [5], strebt doch jede Gewalt nach der Oberhand.
Staaten sind also die relevanten Subjekte des Weltgeschehens, Politiker deren Sachwalter. Vermittels einer Erfolg versprechenden Staatsräson behauptet sich ein Staat sowohl im Inneren (gegen seine mitunter allzu mündigen Staatsbürger) wie nach Außen (gegen Gewaltsubjekte seinesgleichen). Ein Gewaltmonopol kann es sachgemäß nur im Innern eines Staates geben. Hier unterscheidet man allenfalls zwischen erfolgreichen Staaten und sogenannten »failed states«. Nach außen herrscht das, was man — in Abwandlung des berühmten Hobbes-Spruches — »civitas civitati lupus« nennen kann. —
Staaten schaffen Fakten. Sie bedienen sich der Charaktermasken, die sich ihnen andienen. Das Abstandnehmen von einem persönlichen Interesse bei der Ausübung der Staatsgewalt, ist dafür berufsnotwendig, eine Verletzung dieses Gebots wird als Korruption sanktioniert.
Keine Frage ist, daß gewaltsame Auseinandersetzungen, Kriege nur, doch keineswegs so selten die »ultima ratio« sind. Politisch-diplomatisches Vorgehen kommt ja ohne Druck und Drohungen auf Grundlage der Gewaltmittel, über die ein Staat verfügt, nicht aus. Mitunter hat das schon zu Mißverständnissen bezüglich des tatsächlichen Einsatzwillens der gegnerischen Gewalt geführt — ganz so, als ob Politiker auch bloß Menschen wären, die vor Gewalt zurückschräken.
Fakt ist jedenfalls, daß Wirtschaftskriege den militärischen Auseinandersetzungen zweckmäßigerweise vorgeschaltet sind. Der deutsche Staat mit seinen Weltmachtambitionen hat dies aus der letzten Weltkriegsniederlage gelernt. Anstatt alle anderen Staaten Europas sich militärisch zu unterwerfen, hat er mit seinen Projekten EU und Euro weitgehend erreicht, diese ihm nutzbar zu machen. So weitgehend übrigens, daß ein Staat mit entsprechend hohen eigenen Ansprüchen die deutsche Vorherrschaft partout nicht mehr aushielt und aus der Union austrat.
Kurzum: Wirtschaftskriege haben längst den einstmals stark propagierten »Freihandel« einer Ideologie überführt. Fakt war der Freihandel ohnehin nie. Freihandelsabkommen sind nichts anderes als ein Dokument davon, daß hier gegensätzliche Wirtschaftsinteressen in Vertragsform gegossen kontrafaktisch als vereinbar manifestiert werden (was das Schlagwort »win-win« dokumentiert), deren andere, härtere Seite Wirtschaftssanktionen sind.
Die Welt ist angesichts des politischen Primats der Wirtschaft nun keineswegs frei von Kriegen der unmittelbaren Gewalt. Vorsorglich haben die USA die Welt mit ganz vielen militärischen Stützpunkten mobiler wie immobiler Art überzogen. Und sie haben ganz viele Staaten — ungeachtet deren eigenen Interessen — auf ihre eigene Gewalt verpflichtet. Ungeachtet auch dessen, welche Staatsform diese Staaten haben: Ob Demokratie oder Diktatur spielt für die USA keine entscheidende Rolle, wenn sich ein Gewaltapparat ihnen andienen möchte, weil er sich als Vasall der USA Vorteile verspricht. Selbstverständlich helfen die USA gerne nach, damit es anderen Staaten leichter fällt, sich ihnen in der ein oder anderen Weise zur Verfügung zu stellen: Bekannt sind ja mittlerweile die »bunten Revolutionen«, die von US-Geheimdiensten lanciert auf die Naivität der Eingeborenen betreffender Staaten setzen. Das US-Vorgehen erscheint dann geradezu als Uneigennützigkeit!
Und es ist kein Geheimnis, daß das Erfolgsprogramm der Vereinigten Staaten von Amerika, akzentuiert durch das der Bundesrepublik Deutschland [6], einem anderen Staat unter der Gefahr der Selbstaufgabe keine Wahl läßt, den Übergang zur ultima ratio, zum Gebrauch seines Militärs zu machen. Daß andere Staaten dafür in die Steinzeit zurückgebombt werden, ist seit dem Vietnam-Krieg nur allzu offenkundig. Natürlich wollten die USA schon damals nur soweit, wie für ein Exempel an die Adresse nicht willfähriger Staaten nötig, mit eigenem Menschenmaterial eingreifen. Solange es andere Staaten gibt, deren Charaktermasken ihren Staat samt menschlichem Inventar den USA anbieten, umso besser. Gerne werden dann Waffen und Moneten geliefert. Warum auch sollten die USA ein Interesse daran haben, daß der Krieg in der Ukraine aufhört, solange ausschließlich andere Staaten samt deren Menschenmaterial darunter leiden?
Keine Frage, sondern Faktum ist jedenfalls, daß die USA allerhand zu tun haben, um die Welt auf ihrer Linie zu halten beziehungsweise ihr abtrünnige Staaten erneut an die Kandare zu nehmen. Allerorten sichten sie gegnerische Einflußnahmen. Sogar im eigenen Land wähnten sie russische Einflußnahme zugunsten eines ihrer Präsidentschaftskandidaten. Auswärts gibt es diese tatsächlich. Als Kollateralnutzen aus dem »Arabischen Frühling« sollte Rußland ein Verbündeter, Syrien, entrissen werden. Auch dieses Land ist dadurch so ziemlich in die Steinzeit zurückbefördert worden. Bis heute noch sind die USA vor Ort, was beweist, daß sie das Projekt nicht aufgeben wollen. Vom Irak gar nicht zu reden, wo unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung es galt, einen widersetzlichen Staat auf Linie zu bringen. Und Afghanistan? Das wurde, nachdem man es durch jahrelanges Bombardement ruiniert hat, der US-Präsenz nicht mehr für wert befunden — zumal sein strategischer Wert angesichts der Weltlage — insbesondere des Zerfalls der Sowjetunion in zahlreiche Einzelteile und der dadurch erreichten Schwächung Rußlands — gehörig gesunken ist.
Doch zurück zum Anfang: Fakten – werden nach Interesse angeführt, je nachdem, wie sie ins Weltbild passen. Und auch das muß hervorgehoben werden, daß gerade dabei nicht alles Fakt ist was als Fakt verkauft wird. So werden ja gerade die anfallenden Leichen gerne dem Gegner in die Schuhe geschoben (aktuelles Beispiel sind diverse Opfer in der Ukraine). Solcherart Propaganda ist sich ein Staat selber schuldig. Immerzu sieht sich gerade ein demokratischer Staat veranlaßt, sich ob seiner höheren »Werte« selber zu rechtfertigen, wenn er denn schon die Leichen produziert oder produzieren läßt, die er für notwendig hält. Nicht nur in Sachen Krieg haben die USA und ihre Verbündeten es weit gebracht, auch in der dazugehörigen Öffentlichkeitsarbeit, der man den Propaganda-Charakter gar nicht mehr anmerken soll: Mitunter sogar so, daß Staatsfunktionäre selber — und dazu darf man getrost sämtliche der jeweiligen Nation sich verpflichtet wissenden Presse- und Rundfunkorgane zählen — Propaganda mit Fakten verwechseln und darüber einige wirkliche Fakten nicht wahrnehmen oder nicht wahrhaben können wollen. Die Wirtschaftssanktionen gegen Rußland sind da ein gutes Beispiel.
(01.11.2022)
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[1] Das Nachrichtenmagazin FOCUS gründete sich 1993 als Antiblatt gegen den Spiegel, das ihn als Widersacher der CDU und somit als links verortet hatte. Als solches hielt ihm das neue Blatt Realitätsferne vor.
[2] Gerade ein Krieg zeigt, wie falsch Verschwörungstheoretiker liegen, wenn sie meinen, die wahren Triebkräfte seien irgendwelche »Hintermänner« wie George Soros, Klaus Schwab, Bill Gates etc. sowie deren Zusammenkünfte (Bilderberg-Konferenz, World Economic Forum). Im Kriegsfalle verlieren auch die Magnaten des Kapitals. Ein Elon Musk weiß schon, warum er einen Friedensplan vorgeschlagen hat.
[3] Die Staatsräson gebietet mittlerweile ausschließlich eine kapitalistische Ökonomie, weil deren geschaffener Reichtum dem Staat zu seiner eigenen Bereicherung nicht zuletzt an Gewaltmitteln willkommen ist, und die vorteilhafterweise zum einen einen stummen Zwang auf die Individuen der Gesellschaft ausübt — die man also nicht wie Sklaven zur Arbeit treiben muß — und zum anderen — ganz ohne unmittelbar militärische Gewalt anzuwenden — gegen andere Staaten erpresserisch eingesetzt werden kann.
[4] Außer diesen gibt es Charaktermasken des Kapitals, des Proletariats (Gewerkschaftsfunktionäre), der Religion, der »Kultur« …
[5] Auf solchen Gedanken konnte auch nur jemand aus der Sowjetunion kommen, die der wuchtigen Triebfeder des Kapitals entbehrte. Konsequenterweise hat sie sich diese Kraft dann auch verschafft um den Preis der radikalen Liquidierung ihrer Art Ökonomie. Der Bitte um einen politischen Verkehr mit dem Westen auf Augenhöhe wurde damit freilich ebensowenig entsprochen wie zuvor.
[6] Dies wurde schon bei der Zerschlagung Jugoslawien deutlich, die von der BRD auf die Tagesordnung gesetzt war. Als dies ruchbar wurde, hielt im November 1990 die Belgrader Tageszeitung Politika dem entgegen, daß die USA im Grunde und gerade aufgrund der immensen Auslandsverschuldung Jugoslawiens kein Interesse an seinem Zerfall haben könnte. Im übrigen war die Bestrebung der BRD auch ein Affront gegen Frankreich, unter dessen Regie nach dem 1. Weltkrieg der jugoslawische Staat geboren wurde. —
Im Falle der Ukraine wiederholte sich der unverschämte Anspruch Deutschlands, indem es das Assoziierungsabkommen vorantrieb, ungeachtet der destabilisierenden Wirkung auf die Ukraine selber, die dadurch aus der Abhängigkeit von Rußland gelöst und in die Deutschlands überführt werden sollte. Zupaß kam dem Vorhaben dabei, daß den USA eine damit absehbare Schwächung ihres Hauptgegenspielers prima in den Kram paßte.