Der Mindestlohn und seine Weiterungen
Ist Haiti ein Vorbild für die Bundesrepublik Deutschland?
Während hierzulande um die Einführung eines Mindestlohns und seine Beschaffenheit nach wie vor heftig gestritten wird, existiert ein solcher in Haiti bereits. Geradezu vorbildlich! Und nicht nur das, er wird sogar erhöht. So meldet die Nachrichtenagentur ips am 10.12.13 (aus dieser Meldung auch folgende Zitate zum Mindestlohn):
"In Haiti wird der Mindestlohn erhöht. Was vielversprechend klingt, ist nach Angaben von Kritikern ein fauler Kompromiß. Der Verdienst reicht nach Angaben kritischer Gewerkschaften nicht zum Leben.
Ab dem 1. Januar wird der Mindestlohn von derzeit 200 Gourdes (4,65 US-Dollar) pro Tag um zwölf Prozent auf 225 Gourdes (5,23 Dollar) steigen. Rechtlich steht den Beschäftigten damit ein Stundenlohn von 65 US-Cent zu. Das sind sieben Cent mehr als bisher."
Also ungefähr genau so, wie sich die dem Kapital und dem Gedeih ihrer nationalen Volkswirtschaft verpflichteten Politiker das hierzulande vorstellen: An der unterst möglichen Grenze!
Womit natürlich auch solche Unsitten wie in Haiti ausgeschlossen werden müssen:
"Für die 30.000 Beschäftigten in den Fertigungsbetrieben wird sich nichts ändern. Sie verdienen schon jetzt sieben Dollar am Tag beziehungsweise 87 Cent die Stunde — theoretisch. Untersuchungen zeigen, daß fast zwei Dutzend Fabriken vor Ort, die für die Bekleidungsfirmen Gap und Walmart produzieren, ihre Beschäftigten um einen erheblichen Teil ihrer Löhne betrügen."
Genau, für die Beschäftigten soll sich auch hierzulande nichts Wesentliches ändern! Lohnbetrug und »unsittliche« Entlohnung sollen eben gerade mit einem Mindestlohn ausgeschlossen werden, wozu er natürlich entsprechend niedrig sein muß, um »Investoren« nicht in Versuchung zu führen.
"Bereits vor fünf Jahren hätte das haitianische Parlament einer Erhöhung des Mindestlohnes von 70 auf 200 Gourdes (von 1,74 auf 4,96 Dollar) pro Tag zustimmen sollen. Doch aus den von WikiLeaks verbreiteten und von den haitianischen Zeitungen The Nation und Haiti Liberte analysierten Geheimunterlagen geht hervor, daß der Haitianische Industrieverband (ADIH) zusammen mit der US-amerikanischen Botschaft die Erhöhung des Mindestlohns erfolgreich abwehren konnte. ADIH berief sich damals auf einen von der US-Entwicklungsbehörde USAID mitfinanzierten Bericht, wonach Haiti im Fall einer Erhöhung der Fabriklöhne seine Wettbewerbsfähigkeit einbüßen würde. Der frühere Staatspräsident Rene Preval soll sich dieser Sichtweise angeschlossen haben."
Da weiß man endlich, wozu NSA-Spionierereien auch bei »uns« nützlich sein können, nämlich auch für »unsere« Wirtschaft!
"Der neue Mindestlohn, auf den sich ein von der Regierung zusammengesetzter Rat aus Gewerkschafts-, Regierungs- und Unternehmensvertretern (CSS) am 29. November verständigte, ist für die Beschäftigten und deren Gewerkschaften eine herbe Enttäuschung. Sie hatten einen Tagessatz von 11,63 Dollar (500 Gourdes) verlangt. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, hatte das Kollektiv der Textilarbeitergewerkschaften (KOSIT), in dem die in drei Industrieparks Beschäftigten organisiert sind, am 7. November in der Hauptstadt Port-au-Prince und im Norden des Landes für die Erhöhung des Mindestlohns auf 500 Gourdes gestreikt."
Nun gut, bei uns sind die Gewerkschaften dank ihrer famosen Führungskader nicht diese Jammerlappen, die sich mit nichts zufriedengeben! Da müssen die in Haiti wohl noch in die DGB-Schule gehen.
"Ende November veröffentlichten die Fabrikbesitzer einen Brief, in dem sie argumentierten, daß Haiti gegenüber seinen großen Rivalen Bangla Desh, Kambodscha und Vietnam wettbewerbsfähig bleiben müsse, die allesamt für ihre schlechten Arbeitsbedingungen und Übergriffe bekannt sind.
Die Bedeutung der Textilindustrie dürfe nicht unterschätzt werden, hieß es in dem Schreiben, das 23 haitianische, dominikanische und südkoreanische Fabrikeigentümer und Industrielle unterzeichnet hatten, die der ADIH angehören. So könne der Sektor Haiti dabei behilflich sein, sich weiter zu öffnen und sich als ein wandlungsfähiges und modernes Land zu präsentieren.
Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Briefes, am 29. November, stimmten acht der neun CSS-Mitglieder einschließlich drei Gewerkschaftsvertretern dem neuen Mindestlohn in Höhe von 225 Gourdes zu. Die KOSIT war in dem Gremium nicht vertreten."
Ja, den Argumente der »Arbeitgeber« kann man sich als nationaler Verantwortungsträger nicht verschließen. Insofern wäre es wohl ratsam, wenn sich die Politik hierzulande gleich zu einem Lohnkostenvergleich mit Haiti bequemen würde, um das Niveau eines Mindestlohns somit nicht von vorneherein jeder Kritik zu entziehen. Sonst kommen doch gleich wieder irgendwelche Investoren angeschissen, die mit einem Abbau von Arbeitsplätzen hierzulande sich zu drohen gezwungen sehen.
"Yannick Etienne von der Organisation »Batay Ouvriye« (»Arbeiterkampf«), die die KOSIT und andere Textilarbeiterverbände unterstützt, wirft den CSS-Gewerkschaftlern vor, den Beschäftigten in den Rücken gefallen zu sein. »Es ist schändlich von den CSS-Gewerkschaftsführern, einem solchen Hungerlohn zuzustimmen, zumal wir sie auf einem Treffen am Vorabend aufgefordert hatten, jedem Abkommen unter 300 Gourdes ihre Unterschrift zu verweigern.« Die 30.000 Beschäftigten in den Textilfertigungsbetrieben in Haitis Freihandelszonen — zwei Drittel von ihnen sind Frauen – arbeiten für Firmen wie Gap, Gildan Activewear, Hanes, Kohl's, Levi's, Russell, Target, VF und Walmart.
Nach haitianischem Recht muß die Bezahlung so hoch sein, daß die Abrechnung nach Stückzahl einen Tageslohn von mindestens 300 Gourdes ergibt.
Doch unterschiedliche Gruppen einschließlich der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) konnten in drei Studien zeigen, daß die Mehrheit der Beschäftigten selten den gesetzlich festgelegten Mindestlohn erhält. … In Oktober hatte die ILO in ihrem Bericht »Better Work Textile Factory Monitoring Programme«, der auf Umfragen in 23 Fabriken beruht, bestätigt, daß diese nicht den gesetzlichen Mindestlohn zahlen. Wäre dies der Fall, würden sie mindestens 90 Prozent der Beschäftigten für einen Acht-Stunden-Tag mit 300 Gourdes entlohnen."
Stücklohn, das erinnern doch irgendwie an die Zeiten des »Manchester-Kapitalismus«: Da weiß man doch, wozu »Freihandelszonen« gut. Man fragt sich bloß, warum hierzulande noch niemand auf die Idee gekommen ist, Freihandelszonen zu errichten: Acht-Stunden-Tag, das geht überhaupt nicht — hierzulande ja auch immer weniger!
"Auch bei One World Apparel, einer Fabrik des ehemaligen haitianischen Präsidentschaftskandidaten Charles Henri Baker, verdient eine Arbeiterin selten die vorgeschriebenen 300 Gourdes die Stunde. »Du mußt 75 Dutzend Stück nähen. Doch nicht jede Arbeit ist gleich aufwändig. Manchmal erreichst du die Quote, manchmal schaffst du sie nicht«, berichtet eine 54-jährige Fabrikarbeiterin, die seit acht Jahren für das Unternehmen arbeitet. »Egal wie lange du brauchst — du erhältst den gleichen Stückpreis. Auch wenn ich mich wirklich anstrenge, bringe ich es meist nicht über 225 Gourdes.«
Die Bekleidungsfirmen Gildan und Fruit of the Loom haben kürzlich angekündigt, dafür zu sorgen, daß ihre haitianischen Zulieferer ihren Arbeitern künftig den gesetzlichen Mindestlohn zahlen. »Unsere eigene unabhängige Untersuchung hat den Vorwurf des Workers Rights Consortium (WRC) bestätigt, wonach die Bekleidungsindustrie in Haiti den Standardwert unterläuft«, heißt es in einer Mitteilung von Fruit of the Loom.
Der WRC hatte in seinem am 15. Oktober veröffentlichten Bericht »Stealing from the Poor«, der auf Interviews mit Arbeitnehmern von fünf Fabriken in der Hauptstadt und im Komplex SAE-A im Caracol-Industriepark beruht, weiter festgestellt, daß bei der Abrechnung der Arbeitszeiten die Lohnarbeiter ebenso häufig betrogen werden. Die ILO gab die Rate mit neun Prozent an."
Soll man sich über eine solche Stellungnahme, wie Fruit of the Loom sie abgibt, freuen? Wenn ja, dann hat das die Wirkung nicht verfehlt, den Mindestlohn als das Non-Plus-Ultra kapitalistischer Produktionsweise zu verankern. Mehr geht absolut nicht, egal ob die Lohnabhängigen sich damit durchzuschlagen verstehen oder nicht. Das gilt hierzulande nicht weniger.
"Arbeiter, die in der Hauptstadt bei One World, Genesis, Premium und GMC beschäftigt sind, werden demnach im Jahr um den Lohn von durchschnittlich sieben Wochen geprellt. Auch kommt es häufig vor, daß die Arbeiter freiwillig länger arbeiten, um die Quote zu rereichen, die ihnen 300 Gourdes pro Tag verschafft.
Der Wirtschaftswissenschaftler Camille Chalmers, Leiter der Haitianischen Plattform für eine alternative Entwicklung (PAPDA) wirft der Regierung Versagen vor, die 300-Gourdes-Regelung durchzusetzen. Er fordert zudem einen Mindestlohn in Höhe von mindestens 540 Gourdes.
Wie der Universitätsprofessor am 18. November auf einem Treffen zum Thema erklärte, neigt die haitianische Regierung dazu, den Botschaftern und der ADIH zuzuhören. »Unsere Regierung ist wirklich mit der Oberschicht, der Oligarchie, verbunden. Die Regierung, die derzeit mit dem Slogan 'Haiti steht Unternehmen offen' wirbt, betont auf nationalen und internationalen Konferenzen immer wieder den haitianischen Niedriglohnvorteil.«"
Fehlt eigentlich nur noch die Unterstützung der DGB-Gewerkschaften (insbesondere der IG Metall, welche seit einer Fusion auch für die Textilbranche zuständig ist) für die Lohnarbeiter Haitis: Mit dem Zweck, der deutschen Wirtschaftsstandort mit dem angepeilten hiesigen Mindestlohnniveau im Rennen zu halten, ja ihm die nötigen Konkurrenzvorteile zu verschaffen.
Im übrigen hat Haiti trotz Niedriglohnniveau kein Zuwanderungsproblem: Leute, welche keine Arbeit finden, wandern nicht zu, sondern — geradezu wegweisend für die BRD — (freiwillig!) ab. So gibt es immer mal wieder eine Flüchtlingskatastrofe:
"16 haitianische Männer und eine Frau hat die US-Zoll- und Grenzschutzbehörde (CBP) in der vergangenen Woche festgenommen. Sie waren auf der kleinen, unbewohnten Insel Mona, die zu Puerto Rico gehört, von Fischern ausgesetzt worden, die sie eigentlich auf die mit den USA assoziierte Karibikinsel bringen sollten. Sie liegt noch 61 Kilometer westlich von der Hauptinsel.
In den letzten vier Wochen hat die US-Küsten- und Grenzwache rund 50 illegale Einwanderer aus Haiti festgenommen. »Die Zahl steigt«, sagte Regional-Chef der CBP, Ramiro Cerrillo, der puerto-ricanischen Tageszeitung El Nuevo Dia. »Den Kanal der Mona zu durchqueren ist lebensgefährlich und ein großes Risiko für Migranten.« Und immer wieder tödlich.
Bereits zum Jahresende hat die Küstenwache der viertgrößten Karibikinsel am Strand Carmelitas auf dem Mona-Eiland elf »Haitianos« und einen Kubaner aufgegriffen, nachdem sie vom Bootsführer und seiner Mannschaft gezwungen worden waren, über Bord zu springen. Ein weiteres Mitglied der Gruppe ertrank in den Fluten. Auch zwei Haitianer einer Zwölfergruppe überlebten die Reise nicht, als ihr Boot knapp sieben Kilometer westlich der Insel sank.
… Am 22. Juli endet der von US-Präsident Barack Obama erlassene »Temporary Protected Status« (TPS), der papierlose Haitianer seit dem schweren Erdbeben vom Januar 2010 vor Abschiebung schützt. Viele Haitianer, die sich auf die gefährliche Reise begeben, hoffen in Unkenntnis der Details der Regelung, die für sie nicht gelten, wenigstens eine Zeitlang in den USA Aufnahme und Arbeit zu finden.
Die Verarmung der haitianischen Bevölkerung nimmt zu. Vier von fünf HaitianerInnen leben mit statistisch gerade mal zwei US-Dollar pro Tag am Rande des Existenzminimums. »Überall ist es besser als hier«, hört man immer wieder." (taz, 21.01.14)
Natürlich flieht man, wenn man flieht, gleich ins gelobte Land, auch wenn es sich nur um dessen Kolonie Puerto Rico handelt. Soviel hat selbst der ungebildeste Haitianer mittlerweile mitgekriegt. Da sieht man, daß sich Armut und Bildung keineswegs ausschließen, einerseits. Andrerseits — und das ist die Voraussetzung, daß derart Bildung verfängt — ist ihre Lage längst dermaßen desolat, daß sich jeder Gedanke an Widerstand mangels Mittel erübrigt.
Man muß dem Imperialismus also den Erfolg attestieren, gegen den sich gerade die Bevölkerung Haitis solange gewehrt hat, auf sich allein gestellt.
"…Das [die direkte politische Selbstorganisation des Volkes] macht die Geschichte Haitis in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem solch exemplarischen Fall. Peter Hallward schreibt in seinem Buch Damming the Flood, einer detaillierten Schilderung der »demokratischen Eindämmung« der radikalen Politik in Haiti in den letzten zwanzig Jahren: »Nie zuvor ist die abgedroschene Taktik der »Demokratieförderung« mit verheerenderen Folgen angewandt worden als in Haiti zwischen 2000 und 2004.« [Peter Hallward, Damming the Flood. Haiti, Aristide, and the Politics of Containment, London: Verso 2007, S. XXXIII] Die Ironie der Tatsache, daß der Name der emanzipationspolitischen Bewegung, die diesen internationalen Druck zu ertragen hatte, Lavalas — kreolisch für »Flut« — lautet, ist nicht zu übersehen. Es ist die Flut der Expropriierten, welche die geschlossenen Wohnanlagen überschwemmt. Der Titel von Hallwards Buch ist sehr passend, weil er die Ereignisse in Haiti in die globale Tendenz einschreibt, daß nach dem 11. September 2001 plötzlich überall neue Dämme und Mauern auftauchen, und uns mit der Wahrheit der »Globalisierung« und den inneren Trennungslinien, durch die sie gestützt wird, konfrontiert.
Haiti war von Anfang an eine Ausnahme, schon seit dem revolutionären Kampf seiner Bürger gegen die Sklaverei, der im Januar 1804 zur Unabhängigkeit führte. »Nur in Haiti war die Erklärung der menschlichen Freiheit allgemein konsistent. Nur in Haiti wurde diese Erklärung um jeden Preis aufrechterhalten, in direkter Opposition zur Gesellschaftsordnung und zur wirtschaftlichen Logik der Zeit.« [Ebd. S.11] Aus diesem Grund »gibt es in der Geschichte der Neuzeit kein einziges Ereignis, dessen Auswirkungen für die herrschende globale Ordnung bedrohlicher war«. [Ebd.] Wie gesagt, kann man die Haitianische Revolution mit Recht als eine Wiederholung der Französischen Revolution bezeichnen. Zum erstenmal rebellierte ein kolonisiertes Volk nicht, um zu seinen vorkolonialen »Wurzeln« zurückzukehren, sondern um der sehr modernen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit willen. Und es zeugt von der Authentizität der Jakobiner, daß sie die Sklavenaufstände sofort anerkannten — die schwarze Delegation aus Haiti wurde in der Nationalversammlung begeistert empfangen. (Erwartungsgemäß änderte sich das nach dem Thermidor: Napoleon entsandte umgehend die Armee, um Haiti wieder zu besetzen.)
Die Haitianische Revolution war eine Wiederholung der Französischen im strikten Hegelschen Sinne, wonach ein Ereignis nur durch seine Wiederholung die Dimension der Allgemeinheit erlangt. (…) Die Haitianische Revolution bekräftigte rückwirkend das universelle Potential der Französischen Revolution, indem die Aufständischen sie über den europäischen Raum hinaus ausdehnten. (…)
Die Bedrohung bestand daher in der »bloßen Existenz eines unabhängigen Haiti« [Vgl. Susan Buck-Morss, Hegel, Haiti, and Universal History, Pittsburgh, PA, University of Pittsburgh 2009], das schon Talleyrand »ein grauenhaftes Schauspiel für alle weißen Nationen« [Ebd., S. 12] nannte. Von daher mußte Haiti zu einem exemplarischen Fall des wirtschaftlichen Scheiterns gemacht werden, wollte man andere Länder davon abhalten, denselben Weg zu gehen. Der Preis — der buchstäbliche Preis — der »verfrühten« Unabhängigkeit war fürchterlich: Nach zwei Jahrzehnten des Embargos führte der frühere Kolonialherr Frankreich erst 1825 Handelskontakte und diplomatische Beziehungen ein, dafür mußte Haiti sich bereit erklären, Frankreich 150 Millionen Francs als »Entschädigung« für den Verlust seiner Sklaven zu zahlen. Der Betrag, der ungefähr dem damaligen französischen Jahreshaushalt entsprach, wurde später auf 90 Millionen gesenkt, aber er blieb eine schwere Belastung, die jegliches Wirtschaftswachstum verhinderte. Am Ende des 19. Jahrhunderts verschlangen die Zahlungen an Frankreich etwa 80 Prozent des haitianischen Staatshaushalts, die letzte Rate wurde 1947 gezahlt. Als Präsident Jean-Bertrand Aristide von der Lavalas-Partei bei der Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit im Jahr 2004 von Frankreich die Rückzahlung der erpreßten Gelder forderte, wurde sein Antrag von einer französischen Kommission (der auch Regis Debray angehörte) glatt abgewiesen. Während also die Liberalen in den USA über die Möglichkeit nachdenken, die Schwarzen für die Sklaverei zu entschädigen, wurde die Entschädigungsforderung Haitis für die horrende Summe, die ehemalige Sklaven für die Anerkennung ihrer Freiheit zu zahlen hatten, von liberaler Seite einfach ignoriert, obwohl hier sogar eine doppelte Erpressung vorlag: Die Sklaven wurden zuerst ausgebeutet und mußten anschließend noch für die Anerkennung ihrer hart errungenen Freiheit bezahlen.
Die Geschichte setzt sich heute fort. Was für die meisten von uns eine schöne Kindheitserinnerung ist — Kuchenbacken aus Sand und Matsch — ist in haitianischen Slums wie der Cite Soleil in Portau-Prince schreckliche Realität. Einem aktuellen AP-Bericht zufolge haben die steigenden Nahrungsmittelpreise dazu geführt, daß die Menschen sich wieder auf ein traditionelles haitianisches Rezept gegen Hungerattacken besinnen: Plätzchen aus getrockneter gelber Erde. Die Erde, die seit langem von Schwangeren und Kindern als Magensäurehemmer und Kalziumquelle geschätzt wird, ist bedeutend billiger als richtige Nahrung. Die Menge, die man zur Herstellung von hundert Keksen braucht, kostet fünf Dollar. Händler bringen die Erde aus Zentralhaiti zum Markt, wo Frauen sie kaufen und in der Nähe zu Erdkeksen verarbeiten, die sie zum Trocknen in die glühende Sonne legen; die fertigen Plätzchen werden in Eimern auf den Markt getragen oder auf der Straße verkauft. [Vgl. Jonathan M. Katz, »Ich hoffe, daß ich die Kekse eines Tages nicht mehr essen muß«, 12. 2. 2008, (www.epochtimes.de/articles/2oo8/o2/12/238456..html) (Stand Nov. 2008)]
Die Lavalas-Bewegung, deren Macht in den vergangenen zwei Jahrzehnten zweimal durch von den USA unterstützte Militärputsche unterbrochen wurde, ist eine Ausnahmeerscheinung, weil sie ein politischer Akteur ist, der durch freie Wahlen die staatliche Macht errungen hat, gleichzeitig aber auch nie seine Wurzeln in lokalen demokratischen Organen der direkten Selbstorganisation des Volkes verloren hat. Während die von den Feinden der Lavalas-Bewegung beherrschte »freie Presse« nie behindert wurde und die gewaltsamen Proteste, die eine ständige Bedrohung für die Stabilität der gesetzmäßigen Regierung darstellten, uneingeschränkt geduldet wurden, war es nie eine Frage, in wessen Interesse die Regierung handelte. Das Ziel der USA und Frankreichs war es, in Haiti eine »normale« Demokratie durchzusetzen, eine, welche die wirtschaftliche Macht der kleinen Elite nicht würde antasten können, und sie waren sich darüber im klaren, daß dazu die Verbindungen der Demokratie mit der direkten Selbstorganisation des Volkes gekappt werden mußten.
Es ist interessant, daß diese amerikanisch-französische Zusammenarbeit kurz nach dem öffentlichen Streit über den Irak-Angriff stattfand und passenderweise als Bekräftigung der grundsätzlichen Partnerschaft hinter den gelegentlichen Konflikten gefeiert wurde; selbst der brasilianische Präsident Lula,…, sah stillschweigend über den Sturz Aristides im Jahr 2004 hinweg. So bildete sich eine unheilige Allianz, um die Lavalas-Regierung als menschenrechtsverletzende Pöbelherrschaft und Präsident Aristide als machtbesessenen fundamentalistischen Diktator zu diskreditieren; …
Der Kampf der Lavalas-Bewegung ist beispielhaft für prinzipientreuen Heldenmut und für die Grenzen dessen, was heute getan werden kann. Die Bewegung hat sich nicht in die Zwischenräume der Staatsmacht zurückgezogen und von dort aus »Widerstand« geleistet; sie hat die Macht heldenhaft angenommen, obwohl ihr klar war, daß dies unter den ungünstigsten Umständen geschah, als sämtliche Entwicklungstendenzen der kapitalistischen »Modernisierung« und »Strukturanpassung«, aber auch der postmodernen Linken gegen sie waren — warum war Negri, der doch Lulas Präsidentschaft in Brasilien bejubelte, in diesem Fall nicht zu hören? Eingeengt von den Maßnahmen, welche die USA und der IWF zur Durchsetzung »notwendiger Strukturanpassungen« verordnet hatten, kombinierte Aristide eine Politik der kleinen und präzisen pragmatischen Schritte (Bau von Schulen und Krankenhäusern, Aufbau einer Infrastruktur, Anhebung von Mindestlöhnen) mit gelegentlichen Akten der Volksgewalt, indem er auf Militärbanden reagierte — … Zu den Chimbres befragt, sagte Aristide:
»Das Wort sagt schon alles. Chimbres sind Menschen, die verarmt sind, die in einem Zustand der extremen Unsicherheit und chronischen Arbeitslosigkeit leben. Sie sind die Opfer struktureller Ungerechtigkeit und systematischer sozialer Gewalt […] Es kann nicht überraschen, wenn sie denen die Stirn bieten, die stets von genau dieser sozialen Gewalt profitiert haben.«…" (Slavoj Žižek, Auf verlorenem Posten, suhrkamp, 2009, S. 232-237)
(04.02.14)