Sozialstaat 2013
Die sachliche Darlegung der sozialen Lage im Deutschland des Jahres 2013, die Prof. Butterwege gibt, läßt nichts zu wünschen übrig. Es ist nicht verwunderlich, wenn die seitens der Politik gezielt weggeblendet wird und werden kann — die Koalitionsverhandlungen stellen den neuen Armutsbericht der Bundesregierung völlig ins Abseits —, da insbesondere die deutschen Gewerkschaften, nicht weniger aber die Öffentlichkeit dies zulassen. Sie sprechen ja selber nicht gern und daher nur am Rande davon. Die, welche am Rande leben, sollen auch nur am Rande vorkommen. Lieber sprechen sie von den Erfolgen und weiteren Herausforderungen der nationalen Politik, ihren Leistungsträgern, ihrer Ökonomie.
Butterwegge listet auf und ob dieser langen Liste geht fast die zentrale Frage unter, zu der er vorstößt [die Auflistung befindet sich deshalb in der Fußnote*]:
"Und es ist doch die Frage, warum eigentlich der riesige private Reichtum nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt werden sollte." (taz, Artikel von Gabriele Göttle über ihn und seine Vorstellungen, 25.11.2013)
Ausgerechnet an dem Punkt heute, wo der private Reichtum immer weniger für die Finanzierung herhalten muß und soll und kann, weil allerhand unabweisbare Sachzwänge der Kapitalverwertung dem im Wege stehen, an dem Punkt stellt der gute Mann Butterwegge diese Frage, als wäre die unabweisbar angebracht: Der private Reichtum wird immer weniger an den sozialen Sicherungssystemen beteiligt: Da läge doch eine ganz andere Frage angebracht: Warum ist das so? Gibt es dafür nicht eine Notwendigkeit, eine Notwendigkeit, die den Interessen des Staates und seiner (freien) Ökonomie geschuldet ist?
Ausgerechnet also dann, wenn einerseits vom notleidenden Kredit, vom notleidenden Kapital so penetrant die Rede ist, wo andererseits nach Butterwegges eigenen, geradezu irrelevanten Rede, das Elend der Lohnarbeiterklasse zum Himmel schreit, möchte er daran festhalten, die Verhältnisse anders interpretieren zu dürfen, ja diese seine Interpretation der Allgemeinheit zum unabweisbaren Anliegen machen zu müssen. Und je schlimmer die Zustände werden, desto mehr:
"Mein Resümee ist: Wenn hier der Neoliberalismus mit seiner marktradikalen Sozialfilosofie — von der ich sage, daß sie eine politische Zivilreligion ist, die im Grunde alle Poren der Gesellschaft bereits durchdringt [mit dieser Formulierung trifft er den Nagel auf den Punkt!]—, wenn die zur herrschenden Weltsicht wird, dann geht das einher mit einem rigiden Armutsregime, mit einer Kriminalisierung der Armen und Stigmatisierung der Überflüssigen." So recht er damit hat, so unverständlich ist sein Schluß: Er fährt nämlich so fort: "Ich halte nichts von einer Verelendungstheorie, deshalb sage ich, gegen eine solche Entwicklung müssen sich breite Bündnisse bilden zwischen Arbeitslosenforen, Gewerkschaften, Kirchen, Globalisierungskritikern wie attac und vielen anderen kritischen Organisationen und Initiativen, die ja zahlreich existieren in diesem Land. … Ich wünsche mir eine Renaissance des Solidaritätsgedankens…. Sicher, ich bin mir absolut bewußt darüber, mit einem inklusiven Sozialstaat ist noch lange nicht der Kapitalismus beseitigt, aber man hat ihn mit Sicherheit etwas erträglicher gemacht, fürs Erste. …"
Und für's Zweite: Er will gar nicht auf die Abschaffung dieser Verhältnisse hinarbeiten, wenn er ihr gutes Image als armutsbekämpfender Sozialsstaat retten möchte! Und er möchte mehr: er möchte, daß alle die vom gesellschaftlichen Reichtum Ausgeschlossenen ihren guten Glauben an den (allein) segenmachenden, weil segensreichen Kapitalismus nicht verlieren.
(26.11.13)
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"…An die traditionelle Vorstellung von Gerechtigkeit wird kaum noch angeknüpft. [KoKa wird sich dem Thema »Gerechtigkeit« noch extra widmen. Grundlage dafür wird das neu erschienene Buch von Prof. Elmar Treptow zu eben diesem Thema sein.]
Im politischen Raum sind das immer die Bedarfsgerechtigkeit und die Verteilungsgerechtigkeit gewesen. Bedarfsgerechtigkeit bedeutete, demjenigen, der durch Behinderung, Arbeitslosigkeit und ähnliche Zwangslagen Hilfe braucht, diese auch ausreichend zur Verfügung zu stellen. Aufgabe des Sozialstaats war es, die Armut zu bekämpfen und die Bürger vor bestimmten Lebensstandard… nein Standardlebensrisiken, zu schützen, Krankheit Unfall usw. — was bei uns durch die Sozialversicherungen geregelt ist.
Und daneben gab's die Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit, davon, daß die Aufgabe des Sozialstaats natürlich auch darin besteht — als dritte Hauptfunktion des Sozialstaats quasi —, für sozialen Ausgleich zu sorgen, dafür, daß die Kluft zwischen Arm und Reich nicht immer tiefer wird.
Das war bei den Vätern und wenigen Müttern unserer Verfassung eine ganz konkrete Absicht, daß sie in Artikel 20 und Artikel 28 deutlich reingeschrieben haben, die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Bundesstaat bzw. ein sozialer Rechtsstaat. So, das beruhte auf der Vorstellung, es muß Verteilungsgerechtigkeit geben, also es darf der Reichtum des Landes sich nicht in den Händen von wenigen konzentrieren, so daß für die große Masse der Bürger kaum Nennenswertes übrig bleibt.
Heute ist es aber genau so. Selbst der beschönigte 4. Armuts- und Reichtumsbericht [ARB] der Bundesregierung von 2013 sagt, daß die reichsten 10 Prozent der Haushalte über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens in Händen halten, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 50 Prozent, nur über 1 Prozent des Gesamtnettovermögens verfügen darf. Über 40 Millionen Menschen leben sozusagen von der Hand in den Mund.
Der Durchschnittsverdiener, der kein Vermögen besitzt, sondern lediglich nur seinen ungesicherten Arbeitsplatz, befindet sich in einer Art sozialem Schwebezustand zwischen Armut und Wohlstand, vom Absturz trennt ihn nur eine schwere Erkrankung oder die noch nicht ausgesprochene Kündigung.
Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Billionen Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staats laut 4. ARB in den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Milliarden Euro gesunken. Entsprechend sind die Auswirkungen. Es wird verkündet, man müsse »den Gürtel enger schnallen«.
Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten, sie umsorgen sich selbst, ihre Kinder besuchen Privatschulen und ausländische Universitäten, sie sind auf gute staatliche Schulen und Krankenhäuser, auf öffentliche Schwimmbäder, Bibliotheken und sonstige kommunale Einrichtungen nicht angewiesen. Aus ihrer Wahrnehmung fällt die Lebensrealität eines abhängig Beschäftigten vollkommen heraus. (Heute muß ein Arbeitnehmer 45 Jahre lang in Vollzeit arbeiten, und das zu einem Stundenlohn von über 10 Euro, damit er im Alter eine Rente knapp über dem Hartz-IV-Niveau erreicht. 4,7 Millionen Arbeitnehmer verdienen aber derzeit weniger. Anm. G.G.)
…
In der Zeit des »Wirtschaftswunders« in der Bundesrepublik gab es den Slogan »Wohlstand für Alle«, er stammt vom 1957 erschienenem gleichnamigen Buch von Ludwig Erhard. Heute ist nur noch »Bildung für alle« das Versprechen, das die Bundeskanzlerin gibt. Dieses Versprechen, die Armut mit Bildung zu bekämpfen, kann vielleicht für Einzelfälle funktionieren, es ist aber Bildung längst kein Garant mehr dafür, daß sie ein berufliches Fortkommen und gutes Einkommen sichert.
11 Prozent aller im Niedriglohnsektor Tätigen haben z. B. einen Hochschulabschluß. Selbst im öffentlichen Dienst an den Hochschulen sind es 80 Prozent inzwischen, die nur noch eine befristete Stelle haben. Also das ist ein Bereich, der ja allgemein als gesellschaftlich privilegiert gilt. Dennoch wird unverdrossen propagiert, es soll aus der Bundesrepublik eine Bildungsrepublik gemacht werden. Wer keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit hat, hat eben nicht genug Bildungsanstrengungen gemacht.
Tatsächlich ist es aber so, daß bei immer besserer Bildung die Jungen z. B. einfach nur auf höherem Niveau um die Arbeitsplätze konkurrieren, unbezahlte Praktika machen und daß noch mehr Taxifahrer mit Hochschulabschluß herumfahren.
Und an den Hochschulen selbst ist die Bildung ja auch »verschlankt« worden. Unter Bildung wird nur noch berufliche Qualifikation verstanden, die Hochschulen sollen in möglichst kurzen Studiengängen, sprich Bachelor-Studiengängen, für den Arbeitsmarkt die erforderlichen Kräfte produzieren. Ich habe natürlich Bachelorisierung, Masterisierung, Modularisierung und all das bekämpft, denn im Grunde wird die Universität dadurch reduziert auf eine akademische Berufsschule.
Zugleich wurde die Hochschule umstrukturiert, und ich muß mit ansehen, wie stark auch meine Universität hier immer mehr zu einem Unternehmen gemacht wird. Stichwort Exzellenzinitiative. Auf dem Einzelnen lastet ein immer stärker werdender Druck, nur noch das an Wissenschaft [Anm. KoKa: Wobei sich schon die Frage stellt, inwieweit das überhaupt mit »Wissenschaft « zu tun hat — im aristotelisch-ursprünglichen Sinne, eines auf Beweis beruhenden Schlusses jedenfalls nichts!] zu produzieren, was verwertbar ist und ökonomischen Gewinn abwirft. Der Konformismus in der Wissenschaft ist inzwischen so groß, wie er seit den 50er Jahren der bleiernen Adenauerzeit nicht mehr war.
Bildungsversprechen taugen nicht zur Armutsbekämfung. Und auch nicht Reichtumsförderung auf steuerpolitischem Gebiet. Was nötig wäre, ist eine Umverteilung nach unten, und zwar von Einkünften, Vermögen und auch von Arbeit. Arbeitszeitverkürzung wäre ein ganz wichtiger Ansatz und ebenso Lebensarbeitszeitverkürzung. Unabdingbar ist natürlich eine inhaltliche, organisatorische und strukturelle Erneuerung des sozialen Sicherungssystems.
Wobei ich Ihnen an dieser Stelle sagen muß, ich halte nichts vom »bedingungslosen Grundeinkommen«. Das wird Sie vielleicht wundern, aber ich will meine Gründe darlegen, vielleicht kann ich Sie ja überzeugen: Ins Gespräch gebracht wurde es als Alternative zum Sozialstaat, nach dem Motto, wir vertrauen jetzt nicht mehr auf unsere bisherigen sozialen Sicherungssysteme, sondern wir lösen das, was einstmals hart erkämpft wurde und wie es besteht seit Bismarck, ab und ersetzen es komplett durch ein steuerfinanziertes bedingungsloses Einkommen. Das ist für mich Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip, ein Grundeinkommen für alle Mitglieder der Gesellschaft, ob arm ob reich.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Falle
Hier wird das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit vollkommen auf den Kopf gestellt. Es gibt verschiedene Modelle, wobei das Konzept der Linken sich allerdings von dem der anderen unterscheidet [Anm. KoKa: Selbst die österreichischen Faschisten — die FPÖ — fordern ein solches: 1200 Euro netto im Monat! —Wenn genügend Ausländer in den Arbeitslagern umsonst arbeiten, dann ist das staatlicherseits locker finanzierbar.]. Einer der Hauptvertreter fürs bedingungslose Grundeinkommen ist Götz Werner, Milliardär und Gründer der DM-Drogeriemarkt-Kette, und der braucht nun wirklich kein bedingungsloses Grundeinkommen von 1.000 oder 1.500 Euro vom Staat. Ich als C4-Professor brauche es auch nicht.
Die andere Sache ist aber, daß es für die, die es brauchen, eine Falle ist. Es wäre im Grunde ein Kombi-Lohn für ALLE. Es wäre ein eindeutiges Signal an die Unternehmer, das als Lohnsubvention aufzufassen. Der ohnehin schon ausufernde Niedriglohnsektor, in dem jetzt schon fast alle Beschäftigten arbeiten — über 4 Millionen Menschen arbeiten für einen Bruttostundenlohn von unter 7 Euro —, der würde noch breiter.
Sehr deutlich ist das heute ja schon an der immer größer werdenden Zahl von »Aufstockern«. Hartz IV ist ja nicht nur für Langzeitarbeitslose, es werden auch 1,3 Millionen Erwerbstätige finanziert, weil ihre Einkommen so gering sind, daß sie ergänzend finanzielle Leistungen vom Jobcenter in Anspruch nehmen müssen.
Und wenn man das Grundeinkommen finanzieren will, so wie Götz Werner, nämlich über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, dann wird das Geld beim Einkauf ja schon wieder aufgezehrt. Dem hält er das Argument entgegen, daß durch den von ihm gewünschten vollkommenen Wegfall der Einkommens-, Gewerbe- und Körperschaftssteuer für Unternehmer diese dann, wegen der finanziellen Entlastung, ihre Preise senken würden. Das ist natürlich ein genialer Einfall, um auch noch die letzten Verpflichtungen loszuwerden.
Außerdem würde eine 50- oder 100-prozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer dazu führen, daß gerade diejenigen, die wenig haben, die sozial Benachteiligten, die jeden Cent in den notwendigen Alltagskonsum stecken müssen, ihr bedingungsloses Grundeinkommen auch noch selber finanzieren. Ich kann natürlich verstehen, daß viele, die durch Schikanen und Sanktionen der Jobcenter drangsaliert werden und keine ruhige Nacht mehr haben, nach diesem Strohhalm nur allzu gerne greifen würden.
Licht am Ende des Tunnels
Aber das Licht am Ende des Tunnels würde sich bald als Trugschluß erweisen, denn über das Grundeinkommen hinaus gibt es dann keinerlei verbürgten Rechtsanspruch mehr. Auf nichts! Es ist alles abgegolten. Die eigentlichen Gewinner sind wieder mal nur die Vermögenden und Unternehmen, die endlich von allen Abgaben befreit wären.
Es ist ja heute schon so, daß nur noch Rudimente der ehemaligen Ansprüche der Arbeitnehmer und Arbeitslosen übrig geblieben sind. Dahinter steckt die Absicht, daß der Sozialversicherungsstaat in der Tradition Bismarcks mehr und mehr zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat gemacht wird.
Im Resultat führt das zu einer »US-Amerikanisierung« unseres Sozialstaats. Und es führt dazu, daß den prestigebedachten Reichen die Möglichkeit eröffnet wird, zu spenden, zu stiften, als Mäzene aufzutreten und Almosen zu verteilen. Almosen übrigens, die verteilte der Sozialstaat vor seiner Demontage nämlich gerade nicht, weil er die Grundrechte beachten mußte und sein Handeln auf Rechtsansprüchen beruhte. Almosenempfänger hingegen haben keinen Rechtsanspruch. Sie sind der Bereitschaft der Reichen ausgeliefert, etwas abzugeben von ihrem Reichtum.
Das spiegelt auch genau dieses neoliberale und marktradikale Denken wider, daß das mündige Individuum im Sinne seiner Freiheit – jetzt nicht der Freiheit des Citoyens, sondern des Bourgeois, und diese Unterscheidung ist wesentlich – entscheidet, was und wofür und wem es gibt von seinem Reichtum. Die Bedürftigen hingegen haben die Freiheit, Wohlverhalten, Bescheidenheit, Fügsamkeit und natürlich auch Dankbarkeit an den Tag zu legen – oder auch nicht.
Nein! Wofür ich plädiere, ist etwas ganz anderes: eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung als eine konsequente Weiterentwicklung des von Bismarck begründeten Sozialversicherungssystems. Dazu ist ein Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Wohnbürgerinnen- und -bürger nötig. Und dadurch erfährt diese Bürgerversicherung auch ihre wichtigste Rechtfertigung, daß sie nämlich den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden solidarischen Sicherungssystem verwirklicht.
…. "