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Klassiker der Rechtsstaatsideologie

Die herrschaftliche Natur des bürgerlichen Rechtsstaats, der autoritativ-gewaltsame Charakter der Setzung und Durchsetzung der staatlichen Rechtsordnung, ist im Prinzip jedermann bekannt. Zum Rechtsstaat gehört ein staatliches Gewaltmonopol, das seinen herrschaftlichen Willen in die Form allgemeiner Gesetze gießt. Es beansprucht die unbedingte Verbindlichkeit seiner Anordnungen für die Gesamtheit aller Menschen in seinem Machtbereich und erzwingt den Gehorsam seiner Untertanen gegenüber dem Gesetz erforderlichenfalls unter Einsatz staatlicher Gewaltmittel. Ein flächendeckendes Regime von Vorschriften stellt das freiheitliche Leben der Gesellschaftsmitglieder unter unhintergehbare staatliche Bedingungen — dies dokumentiert den herrschaftlichen Charakter der Rechtsordnung ebenso wie die Existenz von Polizei, Gerichtsvollziehern und Justizvollzugsanstalten. Ebenso unverkennbar wie die Gewaltfömigkeit des Rechtes ist der Umstand, daß der staatliche Gewaltmonopolist mit seiner Rechtsordnung über eine Gesellschaft herrscht, die durch nachhaltig gegensätzliche und damit gewaltträchtige soziale Beziehungen ihrer Mitglieder bestimmt ist, die der dauerhaften herrschaftlichen Regulierung durch die unwiderstehliche Gewalt einer der Gesellschaft übergeordneten staatlichen Macht bedürfen.

Diese schlichten Feststellungen über den Zwangscharakter der Rechtsordnung und die antagonistische Natur der von ihr regulierten Gesellschaft sind allerdings keineswegs ein allseits geteiltes Urteil. Ganz im Gegenteil wird in der Rede von der modernen Zivilgesellschaft die Erinnerung an Herrschaft und Zwang mehr und mehr getilgt. Das verweist darauf, daß die staatlichen Vorschriften und die Mittel ihrer Durchsetzung den hierzulande lebenden Bürgern so selbstverständlich geworden sind, daß sie diese im Normalfall kaum noch wahrnehmen und bei der Erwähnung des Wortes Staatsgewalt eher an eine staatsanwaltliche Razzia gegen die organisierte Kriminalität oder — als kritische Menschen — an Polizeieinsätze gegen friedliche Demonstranten denken als an die Macht, die mittels der von ihr erlassenen Rechtsordnung ihr gesamtes ziviles Leben bestimmt.

Daraus, daß in der Gesellschaft, in der die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit herrschen, eine ständige Aufgabe namens Herstellung des Rechtsfriedens auf der staatlichen Agenda steht, will denn auch keiner einen Rückschluß auf die Beschaffenheit derartiger gesellschaftlicher Verhältnisse ziehen, die ein solches gewaltsames Aufsichtsregime nötig macht.

Vielmehr gilt der Rechtsstaat allgemein als die zivilisatorische Errungenschaft schlechthin, die jeden grundsätzlichen Einspruch gegen die moderne bürgerliche Staatsmacht und die durch sie gestiftete rechtliche Ordnung der Gesellschaft hinfällig macht. Sofern Kritik am Rechtsstaat geübt wird, gilt sie vielmehr der unzureichenden Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien oder (angeblichen) Verstößen der staatlichen Organe gegen rechtsstaatliche Direktiven. Die Existenz rechtsstaatlicher Institutionen und Verfahrensweisen selbst steht hingegen außerhalb jeder Kritik. Ganz im Gegenteil: Der Rechtsstaat erfreut sich eines scheinbar unerschütterlichen guten Rufes nicht nur im legitimatorischen Reich der Staatswissenschaften, sondern auch bei denjenigen, die seiner Herrschaft unterstehen.

Dieser gute Ruf beruht auf der systematischen Verklärung der staatlichen Rechtsordnung, der nicht nur von den Vertretern der Wissenschaft elementarnützliche Dienste für die Menschen und deren gesellschaftliches Zusammenleben attestiert werden. So schätzt der bürgerliche Verstand die Herrschaft des Rechtsstaates zunächst einmal ganz grundsätzlich als einen unerläßlichen und wohltätigen Zwang gegen seine eigene egoistisch-gewalttätig-unvernünftige Menschennatur. Dieser würde mittels der Konfliktregelung durch das Recht den als vorstaatlich unterstellten gesellschaftlichen Naturzustand des bellum omnium contra omnes* erfolgreich befrieden. Daß der weitaus überwiegende Teil der gewaltträchtigen Konflikte, welche der Staat per Recht reguliert, erst mit der staatlichen Rechtsordnung ins Leben gerufen wird, kommt dem bürgerlichen Kopf dabei ebenso wenig in den Sinn wie die Widersprüchlichkeit eines Menschenbildes, das durch das Bestreben der Menschen gekennzeichnet ist, ihre eigene innere Wolfsnatur durch einen staatlichen Oberwolf domestizieren lassen zu wollen. Denn wie sollte auf der Grundlage der angenommenen Raubtiernatur des Menschen, der kein anderes Anliegen besitzt, als seinen Mitmenschen Böses anzutun, die höhere Einsicht erwachsen, sich selbst mittels der Unterwerfung unter eine überlegene Gewalt zähmen zu wollen? Wenn schon der ursprünglich als reiner Wolf gefaßte Mensch die Einsicht in die Schädlichkeit seiner kriminellen Neigungen besitzen sollte, läge es da nicht näher, diese Neigungen gleich ad acta zu legen, statt einen staatlichen Oberwolf mit ihrer Unterdrückung beauftragen zu wollen? Auch könnte die offenkundige Tatsache, daß mit der Kodifizierung eines Strafgesetzbuches Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl keineswegs von der gesellschaftlichen Tagesordnung verschwunden sind, gewisse Zweifel an der Bestimmung des Staates als Verhinderungsmacht gewaltsam ausgetragener vorrechtlicher Konflikte zwischen seinen Untertanen stiften. Eine nähere Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Natur dieser Konfl ikte würde vielmehr umgekehrt ans Licht bringen, daß die der Menschennatur zugeschriebenen, gesellschaftlichen Gegensätze von der Staatsgewalt selbst mit der Gewährleistung des Eigentums erst in die Welt gesetzt worden sind. Denn ohne die staatliche Garantie der exklusiven privaten Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum, ohne den staatlichen Schutz des Geldes als Form des bürgerlichen Reichtums, gäbe es keine Vermögens- und Eigentumskriminalität, wäre die Justiz weitgehend beschäftigungslos.

Diese knappen Anmerkungen sollten für den Nachweis genügen, daß dieselbe Instanz, der von Staatstheoretikern im Gefolge von Thomas Hobbes die Aufgabe der Gewaltverhinderung zwischen ihren Mitgliedern bescheinigt wird, die sozialen Interessengegensätze erzeugt, die sie nicht etwa beseitigt, sondern ihrer herrschaftlichen Regulierung unterwirft, damit sie funktionieren können. Anders gesagt: Der Rechtsstaat selbst etabliert eine Gesellschaft, die den Einsatz seiner ordnungsstiftenden Gewalt tagtäglich und dauerhaft nötig macht. Soweit zur ersten Strofe des Lobliedes auf die zivilisatorischen Leistungen von Recht und Staat.

Dieselben Stimmen, welche die Ausübung des staatlichen Rechtszwanges durch einen mit unwiderstehlicher Gewalt gegenüber seinen Untertanen ausgestatteten staatlichen Gewaltmonopolisten überschwänglich als Werk der gesellschaftlichen Friedensstiftung loben, preisen in der zweiten Strofe zugleich die Selbstbeschränkung, die sich die staatliche Macht mit ihrer rechtsstaatlichen Verfassung auferlegt haben soll. Gelobt wird die Selbstverpflichtung auf eine Machtausübung, die jeder herrschaftlichen Willkür entsagt und den Bürger mittels der so genannten Abwehrrechte die Handhabe verleiht, sich unstatthafter Übergriffe der staatlichen Obrigkeit in seine Freiheit auf dem Rechtswege zu erwehren. Mit dieser Glückwunschadresse beginnt — sofern die Autoren nicht mit Hobbes' Staatsableitung aus der Wolfsnatur des Menschen einsteigen — in schöner Gleichförmigkeit die Darstellung des bürgerlichen Rechtsstaats in den einschlägigen Lehrbüchern des Staatsrechtes und der Politikwissenschaft. Der Verfassungsstaat wird präsentiert als die Verwirklichung einer der elementarsten Aufgaben der Menschheitsgeschichte: der Bändigung des allmächtigen Leviathan:

»Die Bändigung der Staatsgewalt ist das Ziel aller Verfassungen — eine unbeschränkte oder ungebändigte Staatsgewalt wird keine Verfassung hinnehmen, eine Verfassung, die die Staatsgewalt nicht beschränkt, ist überflüssig. Die Bändigung der Staatsgewalt besteht am Ende in ihrer Bindung an das Recht.« (Zintl 2012, S. 307)

Weil sich der Staat als Rechtsstaat im Interesse seiner Untertanen diese Selbstbeschränkung seiner im Prinzip unbegrenzten Macht auferlegt habe und nur insoweit von seiner Macht Gebrauch mache, als dies zur Gewährleistung des gesellschaftlichen Zusammenlebens unumgänglich sei, soll die hoheitliche Machtausübung des Rechtsstaates prinzipiell in Ordnung gehen. Die rechtliche Verfassung des Staates soll man sich dabei wie eine dem Staat selbst vorausgesetzte Einrichtung des Gemeinwesens vorstellen, die staatliche Herrschaft wie ein bloßes Ausführungsorgan allgemeingültiger, menschen- oder grundrechtlicher Prinzipien, mit denen ein Urbedürfnis der Untertanen nach gesellschaftlicher Ordnung bedient wird.

Auf diese Weise — so der demokratische Common Sense — herrscht im Rechtsstaat nicht Gewalt, sondern an ihrer Stelle das Recht. Die durch rechtsstaatliche Regeln begrenzte und legitimierte Gewalt des Staates soll recht eigentlich gar keine Gewalt mehr sein und sich in die soziale Dienstleistung der puren Stiftung einer Ordnung aufgelöst haben, ohne die nun einmal eine Gesellschaft nicht existieren kann.

Einmal abgesehen davon, daß auch eine berechenbare, an Regeln gebundene, einer Systematik und nicht den individuellen Vorlieben der Herrscherfiguren gehorchende Herrschaft Herrschaft ist, ist dieses Lob des Rechtsstaates recht zweifelhafter Natur. Denn belobigt wird der moderne, rechtsstaatlich verfaßte Staat nicht etwa für irgendwie geartete wohltätige Dienste und Werke, die er für seine Untertanen erbringt. Vielmehr kommt die Laudatio des Rechtsstaates über den Vergleich mit als »Willkürherrschaft« titulierten herrschaftlichen Verhältnissen zustande, an denen gemessen der Rechtsstaat sich als historische Errungenschaft darstellt, weil er auf den Einsatz despotisch-willkürlicher Herrschaftsmethoden Verzicht leiste. Die wertvolle positive Qualität des Rechtsstaats soll demgemäß die Beschränkung einer Fähigkeit sein, von der noch nicht einmal der Lobredner erbaut ist: der Potenz des Staates nämlich, nach seinem Belieben mit den Herrschaftsunterworfenen verfahren, seine Untertanen mit einem höheren Maß an Gewalt drangsalieren zu können, als er das in rechtsstaatlich geregelten Verhältnissen tut. Aber warum sollte er das machen? Als würde in der rechtsstaatlichen Demokratie keine bestimmte Herrschaftsräson existieren, aus der sich die Methoden und Mittel der Herrschaftsausübung ableiten würden. Die Frage, ob der bürgerliche Staat für seine Zwecke den Einsatz derartiger Herrschaftsmethoden, an dem ihn das Recht hindern soll, überhaupt benötigt, wird erst gar nicht gestellt. Ebenso wie auch nur in Erwägung gezogen wird, daß die in Drittwelt-Diktaturen üblichen brachialen Herrschaftspraktiken sich der Beschaffenheit herrschaftlicher Verhältnisse verdanken, die im Unterschied zu den befriedeten erfolgreichen Staaten des freien Westens nicht auf einem unangefochtenen, von der Bevölkerung anerkannten Gewaltmonopol beruhen, sondern in denen die Verfügung über den Staatsapparat den Gegenstand einer gewaltsamen Konkurrenz rivalisierender Gruppierungen bildet.

Die zweite überragende zivilisatorische Leistung des Rechtsstaates soll also darin bestehen, daß die rechtsstaatliche Organisation des politischen Gemeinwesens die Überwindung bzw. Verhinderung der despotischen Willkürherrschaft von Unrechtsstaaten nach dem Muster des Faschismus, autoritärer Staaten der Dritten Welt oder des realen Sozialismus gewährleistet.

Dieses Loblied auf den Rechtsstaat im Wege eines (fiktiven) Vergleichs der Staatsformen läßt sich nicht durch den Einwurf aus dem Takt bringen, daß es so etwas wie eine staatliche Willkürherrschaft in der ganzen Menschheitsgeschichte nicht gegeben hat, die Vorstellung einer selbstzweckhaften staatlichen Gewaltausübung vielmehr das genuine Produkt der theoretischen Willkür von bürgerlichen Staatsdenkern darstellt. Willkür ist nämlich kein Staatszweck, kann es logisch schlicht nicht sein. (Man mache die Gegenprobe und frage sich einmal, welchen Zweck ein »Willkürherrscher« eigentlich verfolgen soll.) Sämtliche als despotisch oder willkürlich deklarierte Staatswesen, so leichenträchtig diese auch immer (gewesen) sein mögen, verfolgen irgendwie geartete politische Programme, zu deren Verwirklichung sie ihre Staatsvölker in zweckrationalem Gebrauch ihrer souveränen Macht herrichten und einspannen. Daß sie als »willkürlich« gekennzeichnet werden, hat seinen Grund in der Abneigung gegen diese Programme, eine zutreffende Charakterisierung dieser Herrschaftsformen ist dieses Prädikat nicht. Die nationalsozialistischen Staatenlenker verfolgten das Weltmachtprojekt eines neuen Deutschen Reiches. Drittweltpotentaten benutzen im Dienst an den ökonomischen, politischen und militärischen Interessen des freien Westens ihr Gewaltmonopol über Land und Leute als Einkommensquelle einer einheimischen herrschenden Clique. Ebenso wenig walteten in den Staaten des realen Sozialismus willkürlich-rechtsfreie Verhältnisse. Wie noch jede staatliche Herrschaft war auch der reale Sozialismus rechtlich verfaßt. Rechtsförmige Erlaubnisse, Gebote und Verbote waren auch dort das Mittel der Staatsgewalt, um ihren Bürgern die verlangten Dienste an der sozialistischen Staatsräson aufzuherrschen, die freilich etwas anderer Natur waren als der freiheitliche Dienst an der Vermehrung des Kapitals. Allerdings meinte gerade der volksdemokratische Staat, sich zur Durchsetzung seines Programms einer volksnützlichen »Herrschaft der Arbeiterklasse « Institutionen und Verfahrensweisen bedienen zu müssen, wie man sie aus dem bürgerlichen Rechtsstaat kennt. Insofern waren seine Bürger einer Legalität, und zwar einer sozialistischen, verpflichtet, regelte der Staat das Verhältnis der Bürger zu sich in Form der Gewährung von (Grund)rechten, gab es eine Zivil- und Strafjustiz. Zwar existierte dort nicht die Freiheit des Privateigentums. Aber eines herrschte im Ostblock sicherlich nicht: eine willkürlich agierende Staatsgewalt, die ihr Volk um der Repression willen gewalttätig unterdrückte. Ebenso wenig wie Unterdrückung und Gängelung der Herrschaftsuntertanen als despotischer Selbstzweck existieren, sind die jeweils obwaltenden staatlichen Herrschaftszwecke beliebig oder erfahren eine andauende Änderung nach Maßgabe der Launen der Inhaber staatlicher Macht. Der Vergleich mit (zielstrebig falsch charakterisierten) anderen Staatsformen dient also dazu, den Rechtsstaat als Apparat zur Verhinderung staatlicher Willkür zu charakterisieren und entsprechend zu loben. Diese verkehrte Wesensbestimmung können die führenden Vertreter der deutschen Staatsrechtslehre auch am Handeln des Rechtsstaats selbst durchkonjugieren:

»Die Staatsgewalt, wiewohl Ort der Rechtserzeugung, ist ihrerseits dem Recht unterworfen. Das Recht, wiewohl Werk der Politik, bildet die Ordnung, in deren Bahnen sich Staatsführung und Rechtsetzung, Politik also zu bewegen haben. Der Staat fi ndet im Recht seine Ordnung, das Recht im Staat die Macht, die es sanktioniert. In der Bindung der Staatsgewalt an das Recht, die in erheblichem Maße Selbstbindung ist, zeigt sich das Eigentliche des Verfassungsstaates als Rechtsstaat (…) Das Recht dient ihm zwar auch zur Durchsetzung seiner politischen Zwecke. Doch die vorbehaltlose Instrumentalisierung ist ihm versagt.«**

Dieselben Autoren also, die das Recht einerseits als Instrument der bürgerlichen Staatsgewalt zur souveränen Durchsetzung ihrer hoheitlichen Interessen kennzeichnen, schreiben ihm andererseits zugleich die Eigenschaft der Beschränkung und Mäßigung der staatlichen Herrschaftsausübung zu. Wer sich auf diese Weise den Rechtsstaat als Instanz der Zähmung eines allmächtigen Leviathan vorstellt, spaltet das Recht vom Staat als derjenigen Instanz ab, die die Rechtsordnung setzt und auf deren Gewalt deren Gültigkeit beruht. Das Recht, das den Schutz des Bürgers vor der Staatsgewalt gewährleisten soll, existiert auf einmal getrennt vom Staat als eine Art neutraler Vermittlungsinstanz zwischen Staat und Bürgerwillen. Der Staat selbst wird präsentiert als eine Art schizofrenes Doppelwesen: als Bedrohung seiner Untertanen und zugleich als Schutzinstanz der Bürger vor dieser Bedrohung. Auf der einen — negativen — Seite als pur-unterdrückerischer Machtmoloch, auf der anderen — positiven — Seite als Instanz der Domestizierung seiner selbstzweckhaften Machtausübung. Der gute Staat als Rechtsstaat ist diesem Bilde gemäß also andauernd damit beschäftigt, sein eigenes schlechtes Alter Ego mittels der Rechtsordnung im Zaum zu halten.

Warum — so fragt man sich — sollte ausgerechnet diejenige Instanz, deren Bestimmung in der schrankenlosen Akkumulation von Macht über ihre Untertanen liegen soll, zugleich die Bürger durch die Garantie der Grundrechte gegen sich selbst und ihre »eigentlich« zügellosen Machtinteressen in Schutz nehmen wollen? Und was ist dieser Schutz wert, wenn ihn dieselbe mit den Mitteln des unwiderstehlichen Zwangs gegenüber ihren Untertanen ausgestattete Instanz garantiert, von der die angeblichen Gefahren ausgehen?

Diese von der so genannten Abwehrtheorie gepflegte rechtsstaatliche Ideologie der Grundrechte als Schranke der Allmacht des Staates, als Schutzeinrichtung zugunsten der Bürger vor einem eigenzweckartigen staatlichen Interesse an Repression blamiert sich vollends, wenn man sie einmal an konkreten Grundrechten durchspielt, beispielsweise den Justizgrundrechten des Art. 104 GG.

Auf die Idee einer Beschränkung oder Zügelung der bürgerlichen Staatsgewalt durch Vorschriften, gemäß denen ein Bürger nur unter der Voraussetzung einer richterlichen Prüfung und bei hinreichendem Tatverdacht in Haft genommen werden darf, kann man nur kommen, wenn man dem bürgerlichen Staat zumindest stillschweigend ein latentes Interesse unterstellt, so viele Staatsbürger wie möglich ihrer Freiheit zu berauben. Die Absurdität dieser Vorstellung liegt auf der Hand. Die bürgerliche Staatsgewalt will eben nur solche Bürger ihrer Freiheit berauben, die sich nachweisbarer Vergehen gegen Strafgesetze schuldig gemacht haben oder bei denen ein hinreichender Tatverdacht besteht. Und genau diejenigen Maßnahmen der Strafverfolgung, die sie dafür für zweckdienlich erachtet, erlaubt sich die Staatsgewalt dann auch. Die große Masse der gesetzestreuen Untertanen hingegen bleibt von Strafverfolgungsmaßnahmen aus gutem bürgerlich-herrschaftlichem Grunde gänzlich unbehelligt. Sollen sie sich doch nach staatlichem Willen als nützliche Staatsbürger bewähren und gefälligst von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen und ihre staatsbürgerlichen Pfl ichten erfüllen: d.h. arbeiten gehen, Steuern zahlen, heiraten, ihre Kinder erziehen, ihre Obrigkeit wählen etc. Worin nur soll in diesen Fällen eine Beschränkung der Staatsgewalt, eine Fesselung bei der Verwirklichung ihrer Zwecke durch das Recht liegen? Die hoch gepriesene herrschaftslimitierende Funktion der Grundrechte, staatstheoretisch gesprochen: der status negativus der Abwehrrechte, löst sich also darin auf, daß sich der Staat vom Bürger in die von ihm selbst mittels seiner Rechtsordnung gesetzten Schranken weisen läßt, d.h. sich selbst Maßnahmen verbietet, die er vom Standpunkt seiner Herrschaftszwecke ohnehin nicht für förderlich erachtet.

Der Wahrheitsfindung über den bürgerlichen Rechtsstaat ist es nach alledem also nicht gerade zuträglich, die zweckbestimmte Betätigung der hoheitlichen Gewalt im Dienste der bürgerlichen Gesellschaft in ihr Gegenteil, d.h. in eine einzige Beschränkung seiner Souveränität zu verwandeln und als seine Wesensbestimmung den Kampf gegen sich selbst als potenziellen Unrechtsstaat auszugeben.

Ob Hobbes oder Isensee: Die vorgestellten Fehlbestimmungen des Rechtsstaats verweisen auf ihren systematischen Grund. Dieser liegt im Interesse ihrer geistigen Urheber an der Rechtfertigung des Gewaltmonopols der bürgerlichen Gesellschaft. Als Parteigänger der souveränen bürgerlichen Staatsgewalt wollen sie deren Herrschaft als einzige Dienstleistung an den Beherrschten darstellen. Deshalb verbinden sie die Begründung der Notwendigkeit der staatlichen Herrschaft mit der tendenziellen Leugnung ihres Zwangscharakters in der Gestalt des durch das Recht domestizierten Leviathans. Eine richtige Bestimmung des Rechtsstaates kommt darüber nicht zustande, die Pfl ege einer grundlos guten Meinung über ihn schon. Auch wenn die Laudatio des Rechtsstaates mit dem kleinen Selbstwiderspruch behaftet ist, daß man sich den Staat zunächst als hemmungsloses Machtmonster denken muß, um anschließend umso dankbarer sein zu können, daß seine rechtsstaatliche Existenz imstande ist, seine drohende Entartung zur Willkürherrschaft zu verhindern.

Angesichts der kursierenden (wissenschaftlichen) Fehlauskünfte über den Rechtsstaat erscheint es angezeigt, sich einmal unbefangen damit zu beschäftigen, worin die tatsächliche Qualität und die Leistungen des Rechtsstaates, die Funktionsbestimmungen seiner Einrichtungen und Verfahrensweisen für die spezielle Gesellschaft bestehen, in deren Dienst er seine Herrschaft über sie ausübt.

Es stellt sich also die Frage nach der Verfassung der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen das Recht herrscht, genauer gesagt, in denen eine von der Gesellschaft getrennt existierende oberste Gewalt ihre Herrschaftsausübung über die Gesellschaft als Dienst am Recht organisiert und die Herrschaftsunterworfenen mit einklagbaren subjektiven Rechten gegenüber der Staatsgewalt ausstattet:

— Welche Interessen regieren, wenn in einer Gesellschaft das Recht herrscht, dessen Geltung sich selbst die Staatsgewalt »unterwirft«?
— Worin besteht der Nutzen der staatlichen Gewaltenteilung, was bedeutet die Unabhängigkeit der Gerichte für die Durchsetzung der bürgerlichen Staatsräson?
— Welche Rolle spielt dabei das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung, was leisten die Prinzipien von Gesetzesbindung und Gesetzesvorbehalt, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, unbestimmte Rechtsbegriffe und das Ermessen?
— Und wieso eigentlich steht die Änderung seiner Rechtsordnung als Daueraufgabe auf der Agenda des bürgerlichen Rechtsstaates?

Diese Fragen führen systematisch zurück auf die Frage nach den Zwecken, dem Inhalt der Räson eines Staates, der den Dienst an seiner Gesellschaft in der Form der gleichmäßigen Unterwerfung all ihrer Mitglieder unter die Imperative der Rechtsordnung ableistet. Diesen Fragen soll im folgenden im Rahmen einer systematischen Analyse der Prinzipien und Einrichtungen des Rechtsstaates sowie des rechtsstaatlichen Instrumentariums nachgegangen werden. Die Antworten auf die Frage nach Zwecken, Leistungen und Nutzen der rechtsstaatlichen Ordnung fallen durchaus anders aus als die gängigen Auskünfte in den Lehrbüchern des öffentlichen Rechts. Sie fassen sich in folgender Aussage zusammen: Die unpersönliche Herrschaft des allgemeinen Gesetzes, der Rechtsstaat mit seiner Gewaltenteilung, einer Rechtsweggarantie samt Instanzenwegen und Verfahrensregelungen stellt die adäquate politische Herrschaftsform einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft dar, deren Gewährleistung sich der bürgerliche Rechtsstaat in seiner Verfassung mittels der Prinzipien von Eigentum und Freiheit, Sozialstaat und Steuerstaatlichkeit und der Staatsform der Demokratie verschrieben hat.

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Die Theorie vom »Krieg aller gegen alle« (bellum omnium contra omnes), die bis auf den heutigen Tag den Status einer politologischen Grundweisheit besitzt, geht auf Thomas Hobbes und sein Buch »Leviathan« (1651) zurück. Aus dem anthropologischen Bild der »Wolfsnatur des Menschen«, der zu seiner Domestifizierung eines staatlichen Oberwolfes bedarf, wird die gesellschaftsvertraglich begründete Existenz des Staates als notwendiger Instanz gesellschaftlicher Friedensstiftung abgeleitet.
** Isensee 1992: 121, Rz. 29. Inhaltlich gleichlautend: Kirchhof 2007: 52, Rz. 81: »Ein Staat handelt, indem er herrscht. (…) Das Staatsvolk stattet die Staatsorgane deshalb mit überlegen-souveräner Gewalt aus, um (…) Recht zu setzen und durchzusetzen. (…) Der Staat ist Herrschaftsverband (…) Das Gewaltmonopol des Staates und das Gewaltverbot für Private gibt diesen Organen die Überlegenheit, die staatliche Hoheit begründet, zugleich aber auch eine Beschränkung und Mäßigung staatlicher Handlungsmittel notwendig macht.«

Albert Krölls © VSA Verlag, Hamburg
(16.11.13)bluete